Am 8. Juli 1998 macht sich Willy Voet mit dem Auto von Belgien aus auf den Weg nach Calais in Frankreich. Er muss eine Fähre erwischen, nach Dublin. Dort startet in drei Tagen die Tour de France. Voet ist Betreuer des französischen Profi-Rad-Teams Festina. Bei Neuviell-en-Ferrain will er die französische Grenze passieren.
Voet wird herausgewunken, sein Wagen durchsucht. Was die Beamten dort in seinem Kofferraum finden, wird den Radsport verändern. 236 Ampullen EPO, 82 Packungen mit Wachstumshormonen, Testosteron-Präparate, Amphetamine und Corticoide fördern die Beamten zutage.
Die Tour de France beginnt trotzdem. Die Fahrer gehen jedoch in den Streik und sitzen auf dem Asphalt - ein Protest gegen die angebliche Willkür der Polizei. Bei späteren Razzien werden aber bei fast allen Teams Dopingmittel gefunden. Fahrer und Betreuer werden festgesetzt. Die Tour de France 1998 ist seitdem auch unter dem Namen "Tour de Farce" bekannt.
Bereits 1997 erste Berichte über Doping im Radsport
"Da kam raus, was ich schon wusste", sagte Ralf Meutgens im Deutschlandfunk-Sportgespräch. Meutgens ist Journalist und recherchiert schon seit Jahrzehnten zu Doping. Auch in der Festina-Affäre brachte er vieles ans Tageslicht. Schon 1997 habe der 2021 verstorbene Kölner Radprofi Jörg Paffrath im "Spiegel" über Doping im Radsport gesprochen. "Aber 1997 fuhr Jan Ullrich in Gelb. Da wurde natürlich versucht, die Geschichte von Jörg Paffrath so klein wie möglich zu halten."
Ullrich habe die damals noch recht neue Radsport-Nation Deutschland 1997 in einen "Jubel-Taumel" versetzt, sagte Journalist und Filmemacher Ole Zeisler, der unter anderem die Dokus "Being Jan Ullrich" und "Mythos Tour" für die ARD produziert hat. "Alle wollten, dass Jan Ullrich 1998 noch einmal gewinnt", sagte Zeisler. Die Festina-Affäre sei dann ein schneller "Downer" gewesen.
Meutgens: "An Selbstreinigungskräfte im Sport glaube ich schon lange nicht mehr"
Aufgedeckt wurde der Doping-Skandal nur durch die Ermittlungsarbeit der Behörden. Meutgens sieht darin auch eine Parallele zur heutigen Zeit, in der Doping-Skandale immer noch größtenteils durch hartnäckig zugreifende Ermittlungsbehörden aufgedeckt werden. "An Selbstreinigungskräfte im Sport glaube ich schon lange nicht mehr - nicht nur für den Radsport, sondern für den gesamten Sport."
Das Vorgehen der Behörden damals sieht Meutgens als größtenteils verhältnismäßig an. Unverhältnismäßig sei nur gewesen, dass "es sich doch sehr auf Festina und vielleicht noch TVM konzentriert hat. Aber ich glaube, da waren den Ermittlern in Frankreich auch die Hände gebunden, weil dann hätten sie ja die komplette Tour de France angegriffen."
Mythos Tour de France zieht auch heute noch
In seiner Doku "Mythos Tour" stellt Zeisler die These auf, dass die Tour de France es immer wieder geschafft hat, sich von diesen Skandalen und den dunklen Kapiteln zu befreien - auch 1998.
Eine große Rolle spiele dabei die Geschichte, sagte Zeisler. "Um kaum ein Sportevent ranken sich so viele Mythen und Legenden. Und das ist eine grundsätzliche Überhöhung. Dieses ganze Event war von Beginn an überhöht." Auch bei der diesjährigen Tour wolle man durch die frühe Fahrt ins Hochgebirge "früh die Dramen, die Zweikämpfe, die Tragödien, die Stürze und so weiter. Davon lebt die Tour. Und natürlich von den starken Bildern."
Auch als kritischer Journalist sei es schwierig, sich dem Mythos der Tour zu entziehen, sagte Meutgens. "Aber dem Mythos und der Unsterblichkeit muss man entgegenhalten, dass die Tour eine Gelddruckmaschine ist, die um jeden Preis am Leben gehalten werden muss. Die Tour ist ja dazu erfunden worden, um die Auflage der Zeitung "L'Équipe" zu steigern, die darüber berichten durften. Monopolismus quasi. Das muss man sich einfach vor Augen führen", so Meutgens. Auch heute hänge noch mehr an der Tour als das Gehalt der Fahrer, sagte er. "Der gesamte Umsatz der Tour de France wird ja nie publik gemacht. Da herrscht ja überhaupt keine Transparenz."
Immer nur "Sünder" zu rufen für Zeisler zu kurz gedacht
Nach Angaben von Zeisler will über den Festina-Skandal von den ehemaligen Fahrern heute fast niemand sprechen. "Ich habe in den letzten zwei, drei Jahren für die Dokus auch mit reumütigen Sündern gesprochen. Jeder hat da so seinen eigenen Weg." Aus menschlicher Sicht könne er das verstehen, sagte er. "Trotzdem finde ich es natürlich schade, weil ich finde es extrem spannend, wie unterschiedlich Menschen damit umgehen."
Der ehemalige Radprofi Udo Bölts, geständiger Dopingsünder, hat Zeisler einmal geschildert, wie er vor der Entscheidung stand, zu dopen oder nicht. "Da hat er gerade angefangen, sein Haus zu bauen und hat alles auf die Karriere Radprofi gesetzt. Ich will keine Empathie für Doping entwickeln, aber sich dem als junger Mensch zu widersetzen, da gehört schon eine Menge Mut und ein Plan B dazu."
Immer nur "Sünder, Sünder, Sünder" zu rufen ist für Zeisler zu kurz gedacht. "Man muss sich immer in die Lebenswege, das Alter und die Epoche hinein versetzen." Dennoch würde sich Zeisler heute mehr Transparenz wünschen. "Dann kommt auch das Vertrauen zurück", sagte er.
Dopingsünder auch heute noch im Radsport aktiv
Meutgens kritisierte, dass viele Fahrer mit Dopingvergangenheit noch heute in anderen Positionen bei der Tour de France aktiv seien. "Die sind nach wie vor in der Blase Radsport. Die umgeben sich mit Leuten aus dem Radsport. Und das verhindert in gewisser Weise, dass man mal einen Schritt zur Seite macht und schaut, was man anders machen kann. Es heißt immer: Lasst die Vergangenheit ruhen und lasst die Toten ruhen. Aber das führt ja nicht dazu, dass man mal einen grundlegenden Wechsel initiieren könnte."
Dass in der heutigen Zeit noch einmal so ein Doping-Skandal wie 1998 auffliegt, glaubt Zeisler nicht. "Das heißt aber nicht, dass nichts passiert. Mein Gefühl - und da rede ich nur von Bauchgefühl - ist, dass seit Jahren nichts passieren darf. Obwohl eigentlich was passieren müsste aufgrund der Leistungen, die da absolviert werden. Aber das ist nur ein Gefühl, das ich jetzt nicht belegen kann."
Meutgens sagte: "Mein Bauchgefühl sagt mir auch, lasst uns einfach mal fünf, sechs, sieben Jahre warten und dann schauen wir uns die Leistungsträger von heute noch einmal an, ohne sie jetzt namentlich zu nennen."
Er forderte zudem, die Leistungsdaten der Fahrer wie gefahrene Wattzahl oder Lungenvolumen öffentlich zu machen. "Da weigern sich ja alle Teams. Das meiden die wie der Teufel das Weihwasser. Denn dann hätte man mal einen Vergleich. Da könnte man mal so eine Watt-Entwicklung eines einzelnen Radprofis zeigen. Damit wüsste man nicht, ob die Leistung jetzt sauber oder nicht sauber zustande gekommen ist. Aber man könnte zumindest sagen: Ja, der hat hier jetzt 600 Watt gefahren, aber der ist ja auch schon nach dem Wintertraining 540 Watt gefahren. Aber dagegen sträubt sich jedes Team, soweit ich weiß."