Sonntagmorgen, kurz vor 7 Uhr an einer Tankstelle in Medellín. Dutzende Radfahrer und Fahrerinnen stehen in Gruppen zusammen, prüfen nochmal den Kettenlauf oder das Klickpedal. Eine junge Frau mit einer breiten, blau verspiegelten Sportbrille füllt ihre Trinkflasche. "Hier ist der Startpunkt des Anstiegs von 'Las Palmas', die beliebteste Strecke bei Radsportlern der Stadt. Hier sieht man Profis, Amateure und Hobbyfahrer."
Und davon gibt es jede Menge in der Millionenmetropole Medellín. Sie liegt auf 1.600 Metern Höhe und gleich am Stadtrand erhebt sich fast 1.000 Meter steil hinauf die Zentralkordillere der Anden. Eine zweispurige Serpentinenstraße führt von hier mit einer durchschnittlichen Steigung von 6,3 Prozent nach oben. Eine heftige Bergwertung, aber hier Breitensport für fast jedermann.
"Es ist eine sehr schöne Strecke, bei Rundfahrten eine Bergwertung der ersten Kategorie. In der Woche fahre ich zwei- bis dreimal hoch, es sind 16 Kilometer. Ich versuche immer meine Bestzeit zu verbessern, derzeit liegt sie bei einer Stunde zwei Minuten. Und ich bin 52 Jahre alt!"
Schulweg mit dem Fahrrad - auf 2.500 Meter
Rubén Darío Arcilas kommentiert seit vier Jahrzehnten die Erfolge der kolumbianischen Kletterer. Er kennt die Hintergründe der Radsportleidenschaft und die Heimat ihrer Profifahrer. "Wir leben hier auf drei Bergketten der Anden. Jeder von uns hat ein Stückchen vom Hang, vom Berg, vom Hügel oder vom Gipfel abbekommen. In diesen Landschaften haben sich Bauern angesiedelt. Die Schwierigkeiten der Schwerkraft, der Triumph gegen den Steilhang - all diese Aufopferung wird vererbt und fließt ein in die DNA von Rennfahrern wie Nairo Quintana oder anderen, die aus Bauernfamilien vom Land stammen."
Die Hänge in der Andenregion Kolumbiens scheinen besonders steil zu sein. Aufgrund der Lage nahe des Äquators liegt die Baumgrenze fast 1.500 Meter höher als in den Alpen. Folglich haben sich Menschen auch in diesen ganzjährig milden bis kühlen, aber nie eisigen Höhenlagen angesiedelt. "Wir sprechen von Höhen von 2.500 bis 3.000 Meter Höhe! Da ist zum Beispiel Nairo Quintana geboren."
Der 30-Jährige, der heute als Kapitän gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder im Team Arkéa-Samsic fährt, radelte einst in den Hochanden täglich Dutzende Bergkilometer zur Schule. In Kolumbien ist also auf dem Land das Rad nicht nur Sportgerät, sondern auch ein unabdingbares Verkehrsmittel. In der Stadt wiederum ist es für manche eine Arbeitsgrundlage und ein Mittel aus der Armut.
Mit dem Rad aus der Armut
"Früher haben viele Rennradfahrer als Kuriere gearbeitet, um sich nebenher etwas Geld zu verdienen. Heute gibt es das Beispiel von Daniel Martínez, der sich manchmal ein Rennrad borgen oder die ersten Startgelder leihen musste. Wer aus einfachen Verhältnissen stammt und sich seinen Erfolg hart erarbeitet, benötigt besonderen Siegeshunger. Das Bedürfnis nach Erfolg weckt dann ganz große Ziele."
Martínez, heute im Team EF-Pro Cycling, musste als Kind in der Hauptstadt Bogotá Süßigkeiten auf der Straße verkaufen und fuhr noch mit 13 Jahren auf einem schweren Eisenfahrrad ohne Gangschaltung und nur mit Vorderbremse. Nicht nur die Höhe, auch der absolute Wille zum Sieg hat ihn zum Profi gemacht. Sehr jung wechselte Daniel Martínez nach Italien. Um seine Karrierechancen zu erhöhen und vielleicht auch, um in der Heimat so schlechtem Einfluss aus dem Weg zu gehen, denkt der Experte Rubén Arcilas. Dopingvorwürfe fahren auch gerade in Kolumbien weiter mit.
"In Europa weiß man, dass ein Fahrer mit 23, 24 Jahren schon von jemandem 'verdorben' worden sein kann. 'Verdorben' - im Sinne von – also, es gibt leider überall Hexer, die stimulierende Mittel einsetzen. Mit 19 sind die Fahrer noch sauber, noch gesund. Dann wechseln sie zu Teams nach Europa. Als jüngster ist Rigoberto Uran gegangen, viele sind seinem Weg gefolgt und er war dabei ein wichtiger Anlaufpunkt."
Der extrovertierte, meist gutgelaunte Uran ist heute der erfahrene Kapitän im Team von Martínez. Seine eigene Karriere begann einst in Medellín und er ist bekannt als gelegentlicher Gast im Training am Anstieg von Las Palmas.
Trainingsparadies für Profis und Amateure
Bei den hunderten Halbprofis und Hobbyfahrern steigt mit der Höhe in Las Palmas der Puls. Fokussiert, mit hochrotem Kopf tropft so manchem der Schweiß von der Nasenspitze, wenn sie die Hochhäuser hinter sich lassen und den feuchtgrünen Wolkenwald erreichen.
"Das ist ein Paradies für Radfahrer! Es gibt viele Förderer und Talentspäher, zum Beispiel der Vater des zweimaligen Bahnweltmeister Fernando Gaviria. Man sieht ihn im Auto, wenn er Gruppen von 20, 25, 30 Jungs begleitet. Da werden dann die neuen Champions herangezogen!"
Oben am Gipfel auf 2.550 Metern hört man einige Ankömmlinge ordentlich schnaufen. Der 52-jährige Fahrer ist auch längst da und auch wenn er seine Bestzeit nicht toppen konnte, ist er begeistert: "Hervorragend, absolut hervorragend. Auch das Wetter ist heute perfekt für den Anstieg. Deshalb sind wir Kolumbianer, die Käfer, so stark am Berg: Weil die Bedingungen einfach exzellent sind!"