Vermeidung von Stürzen
Wie künstliche Intelligenz den Radsport sicherer machen könnte

Stürze gehören zum Radsport. Um Sturzrisiken zu minimieren, nutzt eine Forschungsgruppe an der Universität Gent künstliche Intelligenz. Veranstalter und Profis sind skeptisch. Radprofi Simon Geschke sieht auch die Fahrer in der Pflicht.

Von Tom Mustroph | 30.06.2024
Mehrere Radfahrer sind auf einer Brücke in einen Sturz verwickelt.
Eine Forschungsgruppe der Universität Gent wertet Posts auf der Plattform X aus, um die Zahl der Stürze - wie hier bei der Tour de France 2022 - zu reduzieren. (IMAGO / Belga / IMAGO / POOL ETIENNE GARNIER)
Mehr als tausend Stürze hat Steven Verstockt bereits in seiner Datenbank. Für die letzte Saison zählte der Branchendienst "Procyclingstats" knapp 300 Stürze. Verstockt, Informatiker der Universität Gent, macht aber mehr als nur zählen. Er wertet automatisiert 250 Accounts von X, ehemals Twitter, aus, die regelmäßig zu Stürzen posten.
Aus diesen Daten lassen sich folgende Muster für Sturzursachen herausfiltern: "Meist handelt es sich um Abfahrten, um gefährliche Stellen wie Pflastersteine und Hügel sowie Massensprints. Oft sind es auch Fahrfehler. Das sind die Top vier, die wir sehen."
Die Daten will Verstockt aber auch zur Prävention einsetzen. "Wir können die Erkenntnisse nutzen, um Rennstrecken vorab zu screenen. Wenn wir zum Beispiel eine Abfahrt entdecken, bei der man hohe Geschwindigkeiten erwarten muss und danach kommt noch ein Hügel oder ein Pflastersteinabschnitt, dann können wir davor warnen. Und der Veranstalter kann entscheiden, ob er die Stelle besser absichern oder den Kurs komplett verändern muss."

Uni koorperiert mit Weltverband UCI

Sein Team beginnt zunächst vor allem mit der Auswertung von Textmaterial bei Twitter. Anlass war der Horrosturz von Fabio Jakobsen bei der Polenrundfahrt 2020. Verstockt stellte dabei fest, dass der Weltverband UCI über gar keine genaue Sturzstatistik verfügte. Inzwischen ist seine Uni mit dem Weltverband eine Kooperation eingegangen. Und auch die Palette der Instrumente hat sich erweitert. Die Forschungsgruppe um Verstockt analysiert immer mehr Bildmaterial.
Das System ist mittlerweile so ausgereift, dass Verstockt seine KI zum Einsatz bei Massensprints vorschlägt: "Man hat die Bilder vom Hubschrauber. Und mit den Maschinenlernsystemen von heute kann man die Fahrlinie der Sprinter aus diesen Bildern herauslesen. Und so kann man objektiv einen Fahrer, der zu weit von seiner Linie abwich, bestrafen. Man kann das auch mit früheren Sprints vergleichen und sagen, in neun von zehn Fällen wurde der Fahrer damals disqualifiziert. Die Fahrer werden dann vielleicht auch besser die eigene Disqualifikation verstehen."

Ablehnung bei Renn-Veranstaltern

Das klingt alles logisch und vernünftig. Im realen Leben stößt Verstockt bei einigen Veranstaltern aber auf gleichgültige und ablehnende Reaktionen: "Ja, sie sagen dann, sie kennen all diese Dinge schon. Aber wenn du dann die Rennen im Fernsehen siehst, gibt es immer noch Segmente, vor denen unser System wahrscheinlich gewarnt hätte. Und in manchen Fällen ereigneten sich dann auch Unfälle. Ich denke, ein Teil der Veranstalter ist noch ziemlich traditionell."
Mit Organisatoren vor allem kleinerer Rennen arbeiten Verstockt und sein Team beim Screening des Parcours aber zusammen. Etwa 50 Renntage pro Jahr analysieren sie bereits, unter anderem für die Tour de Romandie und die Lombardeirundfahrt

Interesse und Skepsis bei Profi Geschke

Bei den Profis stoßen die Instrumente auf Interesse. Tour de France-Teilnehmer Simon Geschke: "Also bei der Streckenführung kann man natürlich viel Risiken minimieren."
Allerdings bleibt auch eine gewisse Portion Skepsis, was KI hier tatsächlich jenseits der schon vorhandenen Warnsysteme ausrichten kann: "Also es gibt natürlich Situationen, die sehr riskant sind, was die Streckenführung angeht. Das wissen die meisten Fahrer dann aber schon vorher. Das kommt dann durch den Funk. Und dann passieren die meisten Stürze ja zum Teil dann vorher, weil alle vorne fahren wollen, weil es dann heißt okay, gefährliche Stelle in fünf Kilometern."
Diese Art der Renndynamik kann KI wohl kaum verhindern. Mehr Wissen um gefährliche Stellen könnte sogar neue Gefahrensituationen schaffen, eben weil alle vorn sein wollen und dann der Platz immer enger wird.

Geschke: "Am häufigsten sind die Fahrer schuld"

Geschke sieht deshalb auch die Fahrer selbst in der Pflicht: "Die meisten Stürze in meinen Augen sind der Fahrweise der Fahrer geschuldet, dass der Trend dahin geht, dass keiner mehr bremst, dass jeder Zentimeter genutzt wird. Und da müssen die Fahrer ein bisschen umdenken in meinen Augen. Also die schlimmsten Stürze - ich glaube, da lässt sich wenig mit KI oder Analysen machen. Und da sind halt leider dann am häufigsten doch die Fahrer schuld."
Verstockt wiederum ist überzeugt, dass die Daten, die durch die KI gewonnen werden, die Fahrer selbst noch ganz anders für Gefahrensituationen sensibilisieren könnten.
Für die Rennorganisatoren entwickelte seine Forschungsgruppe noch ein ganz besonderes Instrument: Einen auf automatisierte Bildauswertung gestützten Streckencheck am Tag des Rennens selbst. "Wir haben eine Hardware-Lösung, die in Autos eingebaut werden kann. Da steckt eine Menge Bildanalyse drin, die wir im Labor entwickelt haben. Wir können damit Abschätzungen von Zuschauermassen machen. Und wir können prüfen, ob auf der Straße Öl oder ähnliches ist."

Publikum als Sturzauslöser

So ein Last-Hour-Check ist für diese Tour de France noch nicht eingeplant. Sinn machen würde das aber, gerade auch, was den Sturzauslöser Publikum betrifft. Immer wieder bringen unvorsichtige Fans Fahrer zu Fall.

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"Aber ja, bei der Tour habe ich echt Angst vor den Zuschauern", sagt Simon Geschke. Ein Tool dafür wäre also gut. Die Technikentwicklung geht zum Glück voran. Man muss sie nur nutzen wollen – nicht nur für immer schnellere Räder, sondern auch für die Sicherheit auf und neben der Rennstrecke.