Ausreißerparadies in Spanien
Vuelta erschüttert mit Fluchten alte Grand-Tour-Gewissheiten

Die Vuelta a España bezieht ihre Spannung vor allem aus Massenfluchten. Grund dafür ist, dass kein Team die komplette Kontrolle übernehmen mag. Das macht das Rennen anders und auch viel abwechslungsreicher als etwa die Tour de France.

Von Tom Mustroph |
30-08-2024 Vuelta A Espana Tappa 13 Lugo - Puerto De Ancares 2024, Decathlon - Ag2r La Mondiale O connor, Ben Puerto De Ancares PUBLICATIONxNOTxINxITAxFRAxNED
Ben O'Connor (Team Decathlon) hofft auf den Gesamtsieg bei der Vuelta a España. (IMAGO / Sirotti / IMAGO / Fotoreporter Sirotti Stefano)
Es ist das Wechselspiel von Mut und Kontrolle, dass Etappen bei großen Radsport-Rundfahrten auszeichnet. Vorne ein paar wagemutige Ausreißer, hinten das dominante Feld. Doch letzteres gibt es bei der Vuelta a España in diesem Jahr nicht. Ausreißergruppen mit bis zu 40 der noch 150 verbliebenen Fahrern, auf jeder zweiten Etappe kommt eine Gruppe oder ein Solist mit teils großem Vorsprung durch und selbst große Namen sind dabei.
Der Tour-Dritte von 2023 zum Beispiel, Adam Yates, der am vergangenen Sonntag die Etappe gewann: „Ja, man sieht, Fluchtgruppen haben jede Menge Vorsprung bekommen. Und ich denke, jeder erkennt hier die Möglichkeiten.“

Höhenmeter spielen zentrale Rolle bei Vuelta

Ihr eigenes Fluchtspektakel verblüffte selbst die Profis. Während bei der Tour de France nur dreimal überhaupt Ausreißer jubeln durften, schaffte es der Australier Ben O’Connor sogar, das Rote Trikot des Führenden zu übernehmen und seit vielen Tagen zu verteidigen. Der Australier Jack Haig vom Team Bahrain-Victorious, selbst gerne als Ausreißer dabei, erklärt sich das so:
"Mit der großen Anzahl von Höhenmetern, die wir haben, wird es für die Teams sehr schwer, die Kontrolle zu übernehmen. Und ich hoffe, dass wir auch nächste Woche noch schöne Fluchtgruppen haben. Unser Team jedenfalls ist genau dafür hier.“
Nicht nur die Höhenmeter selbst führen zum Kontrollverlust. Elf Bergetappen hat die Vuelta, nur einen einzigen richtig flachen Tagesabschnitt gab es. Der Rest sind anspruchsvolle Fahrten durch hügeliges Gelände. Deshalb sind vor allem Kletterer von den Teams nominiert worden. Sprinter sind kaum dabei und deshalb auch nur wenige Teams, die das Peloton für einen Massensprint das Feld zusammenhalten wollen.

Welche Rolle das Fehlen der Superstars spielt

Außerdem fehlen vor allem die großen Superstars, für deren garantierten Erfolg sich alle Helfer noch einmal ein bisschen mehr aufopfern. „Es ist ganz klar: Es gibt hier keinen Leader, der jeden Tag alles kontrolliert. Das führende Team jetzt kontrolliert vor allem, wer in die Fluchtgruppen kommt. Denn je mehr Zeit eine Fluchtgruppe bekommt, desto weniger Probleme bringt das für ihn in Bezug auf das Klassement“, analysiert Matxin Fernandez.
Er ist Taktikfuchs bei UAE Emirates und bereitete das Grand-Tour-Double aus Giro und Vuelta für seinen Star Tadej Pogacar vor. Der Slowene aber fehlt bei der Vuelta – wie auch dessen großer Widersacher Jonas Vingegaard.

Sparsamer Umgang mit eigenen Ressourcen

Das Team Decathlon des Führenden Ben O’Connor ist ebenfalls weit davon entfernt, das Feld zu beherrschen. Man setzt eher auf einen sparsamem Umgang mit den eigenen Ressourcen. Felix Gall, Berghelfer von O’Connor, erklärt:
„Ja, natürlich. Wir müssen uns entscheiden, wen wir fahren lassen in der Gruppe. Und wir können nicht jede Gruppe kontrollieren. Beziehungsweise: Wir müssen einfach von Anfang an aufpassen, welche Fahrer wir in die Gruppe lassen, damit wir dann nicht in die Situation kommen, wo wir alle Fahrer verbrauchen müssen, um den Abstand zu kontrollieren. Das ist, glaube ich, die größte Herausforderung.“
Die Konkurrenz von Red Bull-Bora-hansgrohe verhält sich ähnlich, wie Nico Denz erklärt: „Das macht man, indem man halt vorne fährt und auch zuguckt und schaut, wer da angreift und dann im Prinzip den gehen lässt, der nicht gefährlich ist. Oder die Teamkollegen von denen, die gefährlich sind, nicht unbedingt gehen lässt und den Rest lässt man einfach fahren.“
Das klappt nicht immer, wie eben auf der 6. Etappe, als Ben O’Connor Red Bull-Kapitän Primoz Roglic mehr als sechseinhalb Minuten abnahm. Was lief da schief, Nico Denz? „Was heißt: Was lief da schief? Wer? Die Idee von uns war, schon das Trikot wegzugeben. Der war einfach extrem stark im Finale und deswegen hat er so viel Zeit bekommen.“
Zur Ehrenrettung von Red Bull muss man hinzufügen, dass in der Gruppe mit O’Connor auch Florian Lipowitz steckte. Der frühere Biathlet macht bei dieser Vuelta einen hervorragenden Eindruck und avancierte zum wichtigsten Helfer von Roglic. Nico Denz betont: „Auf jeden Fall ein mega Talent und er fährt hier wirklich extrem stark und er macht einen Riesenjob.“

Lipowitz reißt wohl eher nicht mehr aus

Einige Tage trug Lipowitz sogar das weiße Trikot des besten Nachwuchsfahrers, ist weiter in den Top-Ten der Gesamtwertung. Dass er noch einmal Gelegenheit zum Ausreißen hat, hält sein sportlicher Leiter Patxi Vila deshalb für unwahrscheinlich:
„Ich denke, die anderen Fahrer werden ihn gar nicht mehr in eine Gruppe lassen. Also will ich ihn nicht umbringen bei dem Versuch. Denn wäre ich zum Beispiel bei UAE, Movistar oder Groupama, dann würde ich ihn nicht ziehen lassen. Und warum sollte ich ihn zerstören in dem Wissen, dass vier bis fünf Teams ihn jagen würden. Das würde ihn ganz ohne Sinn umbringen.“
Daher bleibt der Platz von Lipowitz in unmittelbarer Nähe von Kapitän Roglic. Er unterstützt den Slowenen bei dessen Jagd nach Rot und dem vierten Gesamtsieg. Das allerdings ganz klassisch, ohne Fluchtgruppenabenteuer.