"Brandstatt" ist der erste Roman von Anousch Mueller überschrieben. Er führt den Leser in ein thüringisches Dorf, dort wächst Annie Veit auf, dort lebt auch Jan Pajak in einem Haus, das keine Hausnummer trägt und ein verdammter Ort genannt wird, um den sich viele Geschichten ranken.
"Einmal gibt es die Sage, die der Annie erzählt wird, die im Dorf kolportiert wird, wonach dieser Ort einem Brand zum Opfer fiel, den eine Hexe gelegt hatte. Das ist die gängige Sage im Dorf. Jan, der eine zwielichtige Figur ist, erzählt der Annie aber eine ganz andere story, wonach dieses Haus auch einem Brand zum Opfer fiel von einem mehrfachen Familienvater, der mutmaßlich damit die Spuren – Inzest, Missbrauch, Misshandlung - tilgen wollte. Diese Geschichte wird aber auch wiederum aufgelöst und bekommt wieder eine Dimension aufgesetzt, wonach die Urgroßmutter von Jan diesen Ort, der verflucht und verdammt war und wo sich niemand niederlassen wollte, aufgesucht und dort ihre Familie aufgebaut hat. Das ist aber kein Ort, wo jemals jemand glücklich geworden ist , so ist es auch mit Jan in der Geschichte passiert, seinen Geschwistern ist dort einiges Unheil widerfahren, das will ich nicht vorweggreifen. Es gibt aber auch hier innerhalb dieses kleinen Ortes mehrere Erzählungen, eine Binnenerzählung und Geschichten, die darüber hinaus kolportiert werden."
Der Roman setzt ein im Jahr 1993 mit dem Verschwinden der Dorfschönheit Lydia. In einem knappen Prolog von einer halben Seite erfährt der Leser, Polizei und Anwohner machen sich auf die Suche nach der jungen Frau, böse Ahnungen kommen auf. Im Jahr 2009, im Roman fast am Ende, klärt sich der Mord auf, allerdings ganz anders als vermutet, denn nicht der verdächtige und mysteriöse Jan ist der Mörder. Anousch Mueller schachtelt Geschichten und Zeitebenen ineinander, die das Leben der Annie Veit erzählen, aber der Leser muss höllisch aufpassen, wann und in welcher Geschichte befindet er sich gerade. Die Zeitverschlingungen waren auch für die Autorin nicht immer einfach:
"Mir war von Anfang an klar, dass ich mit diesen Zeitebenen operiere und damit auch irgendwie zurechtkommen muss, was in der Tat immer schwieriger wurde. Ich musste mir irgendwann auch immer wieder aufschreiben und kleine Übersichtspläne gestalten, um das nicht komplett aus den Augen zu verlieren. Mir persönlich gefällt dieses verwinkelte, mosaikartig aufgebrochene Erzählen sehr gut. Das ist gerade das Spannende, dem Buch eine gewisse Komplexität zu geben, ohne dass ich das über die Story oder über die Sprache noch zusätzlich aufladen müsste. In den unterschiedlichen Zeitebenen, dieses Changieren, gibt mir im Schreiben dieses Gefühl, irgendwie doch drüberzustehen, dass es nicht zu banal wird, obwohl ja jede Geschichte ihre Banalitäten hat und über diesen komplexen Aufbau gewinnt die Geschichte an Substanz."
Die Ich-Erzählerin Annie wächst in dem kleinen thüringischen Dorf auf in der Nachbarschaft des Jan Pajak. Dieser, so findet das junge Mädchen heraus, ist der Liebhaber ihrer Mutter. Die Mutter ist schön und begehrenswert, die Tochter spioniert ihr nach, und auch sie lässt sich – aus Eifersucht oder aus Neugier - in den Bann von Jan ziehen, erlebt auf seinem Schoß ihr erstes sexuelles Abenteuer. Annie sucht wie die Mutter nach Erfüllung durch Liebe, aber dies gelingt ihr ebenso wenig wie ihrer Mutter.
Jan verschwindet aus dem Dorf, keiner weiß wohin. Als Studentin verliebt sich Annie in Berlin in einen Weststudenten namens Leo, aber auch mit ihm findet sie kein gemeinsames Glück. Leo ist eloquent und klug, Annie bleibt eher stumm und erkrankt schließlich so stark an Atemnot, dass sie in der Psychiatrie landet. Weder der Krankenhausaufenthalt noch Besuche im dörflichen Elternhaus bringen eine Klärung der Geheimnisse ihrer Kindheit, sie muss sich selbst befreien. Atmosphärisch grundiert ist dieser Roman durch die Kindheitserfahrungen der Autorin:
"Ich bin selbst in der DDR geboren und habe dort meine ersten zehn Lebensjahre verbracht. Das ist meine Kindheit, meine Erinnerungen, und deswegen ist es ganz zwangsläufig so, dass ich mich daraus bediene und auch noch Potenzial habe. Das ist für mich tatsächlich ein mythischer Ort, die Kindheit und im Zusammenhang mit der DDR, weil das so gegenteilig ist zu unserer Jetztzeit und zu den Kindheiten, wie sie heute verlaufen. Das ist eine wertvolle Quelle, und ich wollte aus dieser Geborgenheit heraus schreiben, aber natürlich reicht das nicht für einen Roman, sondern es braucht auch ein dunkles Zentrum."
Aber eines hat die Autorin nicht intendiert:
"Ich wollte keinen DDR-Roman schreiben. Ich kläre niemanden auf, es ist keine Geschichtsstunde. Ich denke, dass der Leser auch hier und da ein bisschen alleine gelassen wird, gerade was die Geschichte mit der Hauptverwaltung Aufklärung anbelangt und diese Stasi-Geschichten. Das ist nichts, wo ich auftrumpfe, sondern das ist etwas, was die Geschichte braucht. Ich erlaube mir auch kein Urteil. Gut, der Vater hat im Gefängnis gesessen, politisch, man kann ja auch gar nicht anders, als wenn man über die DDR spricht, diese Dinge auch zu thematisieren. Aber die Hauptmotivation war diese Kindheit, dieses Provinzielle, das ist etwas, was mich persönlich interessiert. Ich persönlich kenne mich nicht gut aus in der Welt, aber in Provinzen, gerade in DDR-Provinzen."
Nach der gescheiterten Beziehung zu Leo findet Annie Jan wieder und beide ziehen zusammen aufs Land in Brandenburg. Der Mutter wird diese Verbindung zunächst verschwiegen. Aber auch hier findet die junge Frau keine Ruhe und Geborgenheit, sie spürt und spioniert weiter der Vergangenheit von Jan nach, erfährt dabei auch einiges, was sie nicht wusste. Es bleiben jedoch Rätsel und Geheimnisse bis zum Schluss des Romans. Annie verlässt den gemeinsamen Ort mit Jan und flieht ein weiteres Mal – oder sucht Zuflucht bei einem alten Ehepaar, die an der Ostseeküste einen Imbiss betreiben und wo sie als Bedienung sich verdingt.
Anousch Müller hat einen vielschichtigen Roman verfasst, der weder ein Familienroman, noch ein Liebesroman, noch ein Kriminalroman ist. Von allem lässt die Autorin Momente aufblitzen und hüllt ihr Erzählen in emotional und zeitlich kunstvolle – manchmal zu kunstvolle – Erlebnisstränge. Im Zentrum steht das Ringen nach Glück und Suche nach einer Heimat, die es nicht zu geben scheint – weder in der Familie, noch in den Liebesbeziehungen. Immer wieder sind es Landschaften, die die Ich-Erzählerin Annie anziehen und die die Autorin sehr suggestiv zu beschreiben weiß.
Über Jahre hat die Autorin an diesem Roman geschrieben, über 600 Seiten sind dabei zusammengekommen, die Anousch Mueller in ihrer Endfassung zu einem Kammerspiel von gut 200 Seiten raffiniert verdichtet hat.
Das Ende des Romans kündet einen Sturm an, Annie steht in ihrer neuen Bleibe am Meer am Fenster:
Ich öffnete das Fenster und war in Wind und Regen (…) Ich sah ein Leuchtfeuer, sah heimkehrende Schiffe und dachte: Was für ein Tag!
Anousch Mueller: "Brandstatt"
C.H.Beck Verlag, 220 Seiten, 18,95 Euro
"Einmal gibt es die Sage, die der Annie erzählt wird, die im Dorf kolportiert wird, wonach dieser Ort einem Brand zum Opfer fiel, den eine Hexe gelegt hatte. Das ist die gängige Sage im Dorf. Jan, der eine zwielichtige Figur ist, erzählt der Annie aber eine ganz andere story, wonach dieses Haus auch einem Brand zum Opfer fiel von einem mehrfachen Familienvater, der mutmaßlich damit die Spuren – Inzest, Missbrauch, Misshandlung - tilgen wollte. Diese Geschichte wird aber auch wiederum aufgelöst und bekommt wieder eine Dimension aufgesetzt, wonach die Urgroßmutter von Jan diesen Ort, der verflucht und verdammt war und wo sich niemand niederlassen wollte, aufgesucht und dort ihre Familie aufgebaut hat. Das ist aber kein Ort, wo jemals jemand glücklich geworden ist , so ist es auch mit Jan in der Geschichte passiert, seinen Geschwistern ist dort einiges Unheil widerfahren, das will ich nicht vorweggreifen. Es gibt aber auch hier innerhalb dieses kleinen Ortes mehrere Erzählungen, eine Binnenerzählung und Geschichten, die darüber hinaus kolportiert werden."
Der Roman setzt ein im Jahr 1993 mit dem Verschwinden der Dorfschönheit Lydia. In einem knappen Prolog von einer halben Seite erfährt der Leser, Polizei und Anwohner machen sich auf die Suche nach der jungen Frau, böse Ahnungen kommen auf. Im Jahr 2009, im Roman fast am Ende, klärt sich der Mord auf, allerdings ganz anders als vermutet, denn nicht der verdächtige und mysteriöse Jan ist der Mörder. Anousch Mueller schachtelt Geschichten und Zeitebenen ineinander, die das Leben der Annie Veit erzählen, aber der Leser muss höllisch aufpassen, wann und in welcher Geschichte befindet er sich gerade. Die Zeitverschlingungen waren auch für die Autorin nicht immer einfach:
"Mir war von Anfang an klar, dass ich mit diesen Zeitebenen operiere und damit auch irgendwie zurechtkommen muss, was in der Tat immer schwieriger wurde. Ich musste mir irgendwann auch immer wieder aufschreiben und kleine Übersichtspläne gestalten, um das nicht komplett aus den Augen zu verlieren. Mir persönlich gefällt dieses verwinkelte, mosaikartig aufgebrochene Erzählen sehr gut. Das ist gerade das Spannende, dem Buch eine gewisse Komplexität zu geben, ohne dass ich das über die Story oder über die Sprache noch zusätzlich aufladen müsste. In den unterschiedlichen Zeitebenen, dieses Changieren, gibt mir im Schreiben dieses Gefühl, irgendwie doch drüberzustehen, dass es nicht zu banal wird, obwohl ja jede Geschichte ihre Banalitäten hat und über diesen komplexen Aufbau gewinnt die Geschichte an Substanz."
Die Ich-Erzählerin Annie wächst in dem kleinen thüringischen Dorf auf in der Nachbarschaft des Jan Pajak. Dieser, so findet das junge Mädchen heraus, ist der Liebhaber ihrer Mutter. Die Mutter ist schön und begehrenswert, die Tochter spioniert ihr nach, und auch sie lässt sich – aus Eifersucht oder aus Neugier - in den Bann von Jan ziehen, erlebt auf seinem Schoß ihr erstes sexuelles Abenteuer. Annie sucht wie die Mutter nach Erfüllung durch Liebe, aber dies gelingt ihr ebenso wenig wie ihrer Mutter.
Jan verschwindet aus dem Dorf, keiner weiß wohin. Als Studentin verliebt sich Annie in Berlin in einen Weststudenten namens Leo, aber auch mit ihm findet sie kein gemeinsames Glück. Leo ist eloquent und klug, Annie bleibt eher stumm und erkrankt schließlich so stark an Atemnot, dass sie in der Psychiatrie landet. Weder der Krankenhausaufenthalt noch Besuche im dörflichen Elternhaus bringen eine Klärung der Geheimnisse ihrer Kindheit, sie muss sich selbst befreien. Atmosphärisch grundiert ist dieser Roman durch die Kindheitserfahrungen der Autorin:
"Ich bin selbst in der DDR geboren und habe dort meine ersten zehn Lebensjahre verbracht. Das ist meine Kindheit, meine Erinnerungen, und deswegen ist es ganz zwangsläufig so, dass ich mich daraus bediene und auch noch Potenzial habe. Das ist für mich tatsächlich ein mythischer Ort, die Kindheit und im Zusammenhang mit der DDR, weil das so gegenteilig ist zu unserer Jetztzeit und zu den Kindheiten, wie sie heute verlaufen. Das ist eine wertvolle Quelle, und ich wollte aus dieser Geborgenheit heraus schreiben, aber natürlich reicht das nicht für einen Roman, sondern es braucht auch ein dunkles Zentrum."
Aber eines hat die Autorin nicht intendiert:
"Ich wollte keinen DDR-Roman schreiben. Ich kläre niemanden auf, es ist keine Geschichtsstunde. Ich denke, dass der Leser auch hier und da ein bisschen alleine gelassen wird, gerade was die Geschichte mit der Hauptverwaltung Aufklärung anbelangt und diese Stasi-Geschichten. Das ist nichts, wo ich auftrumpfe, sondern das ist etwas, was die Geschichte braucht. Ich erlaube mir auch kein Urteil. Gut, der Vater hat im Gefängnis gesessen, politisch, man kann ja auch gar nicht anders, als wenn man über die DDR spricht, diese Dinge auch zu thematisieren. Aber die Hauptmotivation war diese Kindheit, dieses Provinzielle, das ist etwas, was mich persönlich interessiert. Ich persönlich kenne mich nicht gut aus in der Welt, aber in Provinzen, gerade in DDR-Provinzen."
Nach der gescheiterten Beziehung zu Leo findet Annie Jan wieder und beide ziehen zusammen aufs Land in Brandenburg. Der Mutter wird diese Verbindung zunächst verschwiegen. Aber auch hier findet die junge Frau keine Ruhe und Geborgenheit, sie spürt und spioniert weiter der Vergangenheit von Jan nach, erfährt dabei auch einiges, was sie nicht wusste. Es bleiben jedoch Rätsel und Geheimnisse bis zum Schluss des Romans. Annie verlässt den gemeinsamen Ort mit Jan und flieht ein weiteres Mal – oder sucht Zuflucht bei einem alten Ehepaar, die an der Ostseeküste einen Imbiss betreiben und wo sie als Bedienung sich verdingt.
Anousch Müller hat einen vielschichtigen Roman verfasst, der weder ein Familienroman, noch ein Liebesroman, noch ein Kriminalroman ist. Von allem lässt die Autorin Momente aufblitzen und hüllt ihr Erzählen in emotional und zeitlich kunstvolle – manchmal zu kunstvolle – Erlebnisstränge. Im Zentrum steht das Ringen nach Glück und Suche nach einer Heimat, die es nicht zu geben scheint – weder in der Familie, noch in den Liebesbeziehungen. Immer wieder sind es Landschaften, die die Ich-Erzählerin Annie anziehen und die die Autorin sehr suggestiv zu beschreiben weiß.
Über Jahre hat die Autorin an diesem Roman geschrieben, über 600 Seiten sind dabei zusammengekommen, die Anousch Mueller in ihrer Endfassung zu einem Kammerspiel von gut 200 Seiten raffiniert verdichtet hat.
Das Ende des Romans kündet einen Sturm an, Annie steht in ihrer neuen Bleibe am Meer am Fenster:
Ich öffnete das Fenster und war in Wind und Regen (…) Ich sah ein Leuchtfeuer, sah heimkehrende Schiffe und dachte: Was für ein Tag!
Anousch Mueller: "Brandstatt"
C.H.Beck Verlag, 220 Seiten, 18,95 Euro