Als "Todesengel" wurde sie bezeichnet, als "Waffen- und Klamottenfetischistin", als "hysterische Blondine" und "als stille engagierte Denkerin" an der Seite Andreas Baaders. Das Bild, das wir heute von Gudrun Ensslin haben, ist ein Konglomerat aus Spielfilmszenen; Vorurteilen und Klischees. Immer wieder wurde ihre Herkunft aus einem protestantischen Pfarrhaus auf der Schwäbischen Alb betont, als sei damit alles gesagt. Ingeborg Gleichauf wollte sich mit solch grobgerasterten Erklärungsmodellen nicht zufrieden geben und hat nun, knapp vierzig Jahre nach Ensslins Tod, die erste Biografie der RAF-Terroristin vorgelegt.
"Was mir einfach auffiel, dass Gudrun Ensslin praktisch nicht vorkam oder dass sie wirklich 'ne Schattengestalt ist in all diesen Auseinandersetzungen. Und ich es auch nicht wirklich verstehen kann, warum das bisher so einfach akzeptiert wurde. Es gibt auch Stellen, die sind definitiv nicht belegt, die haben aber das Ensslin-Bild geprägt. Dass man immer gesagt hat: Sie war hysterisch. Oder: Sie hatte eine schrille, hohe Unschuldsstimme. Also so ganz komische Dinge. Oder sie hatte in ihrer Kindheit schon 'n spitzes Kinn und eine spitze Nase, und das weist schon auf so 'ne latente Gewaltbereitschaft hin. Ich denke immer, wenn ich so was schreiben würde, dann würde ich mich vor mir selber schämen."
Ensslin folgt in Kindheit und späteren Beziehungen vorgegebenen Regeln
Ingeborg Gleichauf begibt sich auf eine Spurensuche, reist an die Orte von Ensslins Kindheit und Jugend, spricht mit Nachbarn und Schulfreundinnen, sucht nach Texten und Dokumenten. So entsteht nach und nach das Bild einer wachen, sprachmächtigen Beobachterin, die sich mutig die Welt erschließt und über die Fähigkeit verfügt, ihre Wahrnehmungen klar zu reflektieren - anders als beispielsweise Bernward Vesper, den Ensslin während ihres Germanistikstudiums 1962 in Tübingen kennen- und lieben lernt. Vesper, Sohn des Nazi-Dichters Will Vesper, versucht zu schreiben, hadert mit sich und seiner Umwelt, pflegt andere Liebschaften, verheddert sich in Widersprüchen und Konflikten. Gudrun Ensslin ist ihm in vielerlei Hinsicht überlegen, doch auch fasziniert von seinem literarischen Background, seinem Außenseitertum. Als Geliebte akzeptiert sie die Regeln, die Vesper vorgibt. Nach Freiheit höre sich das nicht an, bemerkt Ingeborg Gleichauf.
"Immer wieder geht es im Leben um Systeme, um Regelwerke, das hat Gudrun Ensslin früh erfahren. Das System Pfarrhaushalt, das System Schule, das System Universität. Egal, wie unterschiedlich die einzelnen Einrichtungen sind: Das Moment des Systematischen, Geordneten bleibt bestimmend. Man hat sich irgendwie einzurichten und kann nicht einfach flüchten oder sich die Welt selbst zusammenbasteln. Und nun also ist es die Liebe, die sich ebenfalls nach Regeln richtet."
Schlechte Quellenlage - Keine Unterstützung der Familie
Die Innenperspektive Gudrun Ensslins erschließt sich Ingeborg Gleichauf über Briefe und Texte, von denen sie manche auch nur vom Hörensagen kennt. Denn die Quellenlage ist eher schlecht. Ensslins Familie unterstützte die Arbeit der Autorin nicht. Und so interpretiert die Germanistin Gleichauf fast jede Zeile Ensslins, zitiert aus Büchern, die diese gelesen hat, und füllt die Leerstellen mit Spekulationen und Mutmaßungen. Das funktioniert im ersten Teil des Buches ganz gut, wenn man davon ausgeht, dass jede Biografie eine Interpretation und zum Teil auch Fiktion ist. Nach der Entscheidung Ensslins für den Terror wird das schwerer. Im kollektiven Duktus der RAF erlischt die individuelle Stimme Ensslins fast völlig.
"In den Momenten, in denen die Person wegrückt, das sind eigentlich auch sehr spannende Momente, weil da die innere Tätigkeit wieder anfängt und ich mir überlegen muss, wo fange ich jetzt an zu spekulieren, was kann ich überhaupt noch belegen, wo ist Spekulation nötig, wo ist das Vorstellungsvermögen auch wirklich gefragt? Insofern ist es eine Verlebendigung sogar."
Mit Andreas Baader tritt zum zweiten Mal ein Mann in Gudrun Ensslins Leben, dessen Regeln sie akzeptiert. Baader ist der charismatische Draufgänger, der die politische Radikalisierung seines Umfeldes vorantreibt. Und Ensslin, die Doktorandin, die über Hans Henny Jahnn promovieren will, folgt ihm. Einfach so?
Ensslin brauchte Anstoß zum Handeln
Der Punkt, an dem der Umschlag erfolgte, die Gewalt die Theorie ersetzte, das sinnlose Morden die Reflexion, ist nicht nachvollziehbar. Nur eines steht für Ingeborg Gleichauf fest:
"Ich bin überzeugt, dass Gudrun Ensslin aus sich heraus nicht in der Lage gewesen wäre, wirklich zu handeln, sondern dass sie einen gebraucht hat, so einen wie den Andreas Baader, der sagt: So, wir machen jetzt was, wir starten jetzt Aktionen. Es gab auch Phasen, wo sie vor allem noch theoretisch tätig war und sich auch vorstellen konnte, ein Buch zu schreiben oder einen Text zu schreiben über bestimmte Erfahrungen. Und Andreas Baader war der, der gesagt hat: Nee, damit ist es jetzt vorbei. Jetzt ist die Zeit reif für das Tun. Jetzt muss etwas getan werden."
In ihrem Buch "Poesie und Gewalt. Das Leben der Gudrun Ensslin" gelingt es Ingeborg Gleichauf teilweise erstaunlich gut, sich der Person Gudrun Ensslin anhand von Sprachanalysen zu nähern, sie aus dem Schattendasein des Baader-Meinhof-Komplexes zu befreien. An anderen Stellen spürt man das vergebliche Ringen der Autorin, die Distanz zu dem Menschen Ensslin zu überbrücken, was gewiss auch an der Ungeheuerlichkeit dieses Lebens liegt. Dann begibt sich die Autorin sehr weit in den Bereich des Spekulativen, sucht händeringend nach einem Zugang und muss am Ende feststellen, dass sie ihre eingangs gestellte Frage – "Wer war Gudrun Ensslin?" - naturgemäß nicht erschöpfend beantworten kann. Das Rätsel bleibt. Doch Ingeborg Gleichauf liefert mit ihrer Biografie zumindest den Auftakt für eine ernsthafte und durchaus Widerspruch provozierende Auseinandersetzung mit einer äußerst widersprüchlichen Persönlichkeit.
Ingeborg Gleichauf: "Poesie und Gewalt. Das Leben der Gudrun Ensslin"
Klett-Cotta-Verlag, 350 Seiten, 22,- Euro
Klett-Cotta-Verlag, 350 Seiten, 22,- Euro