"Sie hat sicherlich ein intaktes Verhältnis zu ihrem Kind, das jetzt im Interesse der rechtlichen Verfolgung ihrer Handlungen über einen längeren Zeitraum gestört sein wird." Peter-Michael Diestel, Innenminister der ersten und letzten frei gewählten Regierung der DDR, auf einer Pressekonferenz am 7. Juni 1990. "Und das führt bei einer Mutter normalerweise, brauchen wir nicht lange drüber reden, zu einem tiefen menschlichen Konflikt."
Die Frau, über deren Mutter-Kind-Beziehung Diestel sich so einfühlsam Gedanken machte, hatte der Minister am Vortag in Berlin-Marzahn verhaften lassen. Der Volkspolizei präsentierte sie einen DDR-Ausweis auf den Namen Ingrid Jäger. In Wahrheit aber hieß sie Susanne Albrecht. "Sie ist der Polizei seit 1973 bekannt und zwar aus der terroristischen Szene, und sie wurde mehrfach in polizeiliche Ermittlungen einbezogen."
Über die sogenannten Anti-Folter-Komitees, die gegen die Haftbedingungen von Baader, Meinhof, Ensslin und Meins protestierten, geriet die Hamburger Studentin Susanne Albrecht 1973/74 in die Sympathisantenszene der selbst ernannten "Roten Armee Fraktion". Im Juli 1977 gehörte sie zur "Kommandoebene" und war an der Ermordung des Dresdner-Bank-Chefs Jürgen Ponto beteiligt. Ponto und Albrechts Vater, ein angesehener Anwalt, waren Studienfreunde, die kleine Schwester Julia das Patenkind des Bankiers. Die familiäre Beziehung benutzte die Terroristin, um Pontos Villa in Oberursel im Taunus auszuspähen. Vier Wochen später tauchte sie mit ihren Komplizen Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar bei Familie Ponto auf. Generalbundesanwalt Kurt Rebmann: "Susanne Albrecht brachte einen Strauß Rosen mit und sie begrüßte den hinzutretenden Jürgen Ponto mit den Worten: 'Ich wollte mich mal sehen lassen.'"
Die Stadtguerilleros aus der zweiten Generation der "Roten Armee Fraktion" wollten den prominenten Bankier als Geisel nehmen, um die alten Führungskader Baader, Ensslin, Raspe aus der Haft freizupressen. Der Entführungsversuch misslang. Christian Klar und Brigitte Mohnhaupt verloren die Nerven und feuerten. – "Tagesschau", 30. Juli 1977: "Die Ehefrau hat dann gegen 17.10 Uhr Schüsse gehört, lief nach unten und sah dort ihren Mann verletzt liegen und sah die drei Personen flüchten. Jürgen Ponto wurde dann sofort in einem Rettungshubschrauber in die Neurochirurgie nach Frankfurt geflogen, wo er eine Stunde später seinen Verletzungen erlag."
Der tödliche Anschlag auf Generalbundesanwalt Buback im April, im Juli der Ponto-Mord: Das alles kulminierte im "Deutschen Herbst" 1977. Stichworte: Schleyer-Entführung, Mogadischu, die Selbstmorde von Stammheim.
Trotz Skrupeln blieb Susanne Albrecht weiter in der RAF; 1979 war sie am Attentat auf den NATO-Oberbefehlshaber Haig beteiligt. Wegen ihrer Zögerlichkeit verspotteten die Alpha-Tiere des RAF-Untergrunds sie gemeinsam mit zwei anderen Frauen als "Hamburger Tanten". In Vernehmungen gab Albrecht später zu Protokoll: "Man wurde in diesen Diskussionen eigentlich menschlich zur Null gemacht. Da blieb nichts mehr übrig von einem."
Den Ausstieg aus der Guerilla ermöglichte 1980 das Ministerium für Staatssicherheit der DDR. Zusammen mit sieben anderen kampfesmüden RAF-Mitgliedern wurde Susanne Albrecht über Prag nach Ost-Berlin geschleust. Sie bekamen neue Namen, Lebensläufe, Wohnungen, Arbeit, lebten den realsozialistischen Alltag. Susanne Albrecht, damals 29, hieß nun Ingrid Jäger und wurde in Köthen Chemielaborantin. Die "Frau ohne Vergangenheit" heiratete einen Physiker und bekam einen Sohn. 1986 flog die Tarnung auf, als Kolleginnen sie in einer Dokumentation des Westfernsehens erkannten. Daraufhin ließ die Stasi ihren Mann mit Familie an ein russisches Kernforschungsinstitut delegieren. Drei Jahre später fiel die Mauer und Susanne Albrecht wurde in Ost-Berlin verhaftet. Das vereinigte Deutschland machte ihr 1991 den Prozess. Ein Reporter: "Sie hatte sich wirklich glaubhaft als reuige Sünderin präsentiert, hatte all ihre Taten zugegeben, hatte flammende Reden gegen den Unsinn der RAF gehalten und die noch Aktiven zur Umkehr aufgefordert."
Das Oberlandesgericht Stuttgart verhängte zwölf Jahre Gefängnis. Susanne Albrecht wurde 1996 auf Bewährung entlassen. In Bremen hat sie danach den Kindern von Migranten Deutschunterricht gegeben.