Monika Dittrich: Es war eine beispiellose Machtprobe zwischen Staat und Terroristen: Vor 40 Jahren wollten Linksterroristen der Roten Armee Fraktion ihre inhaftierten Rädelsführer, allen voran Andreas Baader und Gudrun Ensslin, freipressen. Doch ihr Plan scheiterte.
Eine entführte Lufthansa-Maschine wurde von Spezialkräften befreit. Daraufhin begingen die in Stuttgart-Stammheim inhaftierten RAF-Anführer kollektiven Selbstmord. Einen Tag später wurde der verschleppte Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer im Kofferraum eines Autos gefunden – erschossen von der RAF. Als Geisel war er jetzt nichts mehr wert. Der Höhepunkt des Linksterrorismus in der Bundesrepublik wurde später als "Deutscher Herbst" bezeichnet.
Es sind viele Bücher über die RAF geschrieben worden – auch über die Wege in die den Untergrund, über die politische Radikalisierung, den unbedingten Glauben an die Revolution. "Ein wichtiger Faktor war die religiöse Sozialisation", sagt Wolfgang Kraushaar. Der Politikwissenschaftler an der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur gehört zu den renommiertesten RAF-Chronisten. Vor kurzem ist sein neuestes Buch erschienen: Über die blinden Flecken der RAF. Guten Morgen, Herr Kraushaar.
Wolfgang Kraushaar: Schönen guten Morgen, Frau Dittrich.
Dittrich: Herr Kraushaar, die Mehrheit der Linksterroristen, nämlich 68 Prozent, waren in einem evangelischen Milieu aufgewachsen – das war kein Zufall, oder?
Kraushaar: Nein, das ist alles andere als Zufall gewesen. Man muss eigentlich einen ziemlich großen Bogen schlagen, denn bereits die Studentenbewegung zuvor war sehr stark durch einen protestantischen Grundzug geprägt gewesen. Dort gab es ähnliche Verhältnisse, was die Zusammensetzung der Akteure anbetraf wie dann später, natürlich auf sehr viel kleinerer Ebene innerhalb der RAF.
Also wenn man sich beispielsweise das Gründerquartett der RAF einmal anschaut, nämlich Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof, Horst Mahler und Andreas Baader, dann waren die ersten drei protestantisch geprägt und nur der letztere, nämlich Baader, war katholisch sozialisiert gewesen.
"Religiös inhaltsleer gewordener Protestantismus"
Dittrich: Das heißt, die protestantische Sozialisation im Elternhaus war ein Faktor für die Radikalisierung der RAF-Terroristen? Kann man das so sagen?
Kraushaar: Man hatte zunächst eigentlich nur bestimmte Splitter oder Fragmente, die einen in eine solche Richtung von Vermutungen drängten, also beispielsweise die Äußerung des Vaters von Gudrun Ensslin, der ja bekanntlich Pastor war.
Also Helmut Ensslin hat im Zusammenhang des Warenhausbrandstifterprozesses im Oktober 1968 davon gesprochen, dass dieses Delikt, nämlich ein Warenhaus – oder zwei in dem Falle sogar – anzuzünden, dass das ein Akt einer "heiligen Selbstverwirklichung" gewesen sei. Also da klang ja schon sehr, sehr viel mehr mit, etwas, was man nicht mehr politisch sozusagen in dieser Form hätte zum Ausdruck bringen können.
Aber erst seit Beginn der 80er-Jahre ist man auf einem … befindet man sich auf einem halbwegs gesicherten Boden, mit solchen Überlegungen. Weil damals wurde eine große, von dem damaligen Bundesinnenminister Gerhart Baum initiierte, sozialwissenschaftliche Untersuchung unter dem Titel "Analysen zum Terrorismus" vorgelegt. Und in diesen vier Bänden, die damals erschienen sind, gab es auch ein größeres Kapitel über die religiöse Sozialisation von Terroristen. Dieses hatte der damalige Experte für solche Fragen, der Soziologe Gerhard Schmidtchen, verfasst.
Und das Spannende an diesem Kapitel besteht darin, dass er das nicht nur versucht hat, sehr empirisch erst mal abzuklären - Sie haben ja eben bereits diese Zahlen genannt, diese Zahlenverhältnisse, dass nämlich 80 Prozent* protestantisch sozialisiert gewesen seien im linken Terrorismus und nur 26 Prozent katholisch. Und das war eine ganz gravierende Abweichung gegenüber einer fast pari-pari Konstellation der üblichen Verteilung zwischen Protestantismus und Katholizismus. Und Schmidtchen sprach davon, dass es eine Form der religiösen Desozialisation gegeben habe. Er ging davon aus, dass man es im linken Terrorismus auch zu tun gehabt habe mit einer Form der Wertetransformation, und seine Formulierung lautete, dass ein religiös inhaltsleer gewordener Protestantismus das formale Erziehungsgefäß für Ideologen und politische Überzeugungstäter sei. Und das ist wirklich sehr interessant, wenn man sich das überlegt. Und die Konsequenz daraus bestand für ihn darin, dass die Mission mit dem Wort, wenn sie dann erfolglos verblieben sei, dann umgewandelt worden wäre in letzter Konsequenz in die Mission mit der Waffe. Das war seine provokative These.
Dittrich: Können Sie das beschreiben? Was war typisch in diesen protestantischen Elternhäusern, was war ihnen vielleicht auch gemeinsam?
Kraushaar: Es ging in diesen Elternhäusern, jedenfalls dieser Untersuchung zufolge, sehr stark um eine Form der Überzeugung, die sich zum Beispiel in einem Begriff wie dem des Gewissens niedergeschlagen hat.
Ich erinnere mich im Übrigen auch an mich selber als jemanden, der sozusagen aus Gewissensgründen damals den Kriegsdienst verweigert hat. Das ist ja für jemanden, der protestantisch sozialisiert gewesen ist, dann eine wirkliche Instanz gewesen, mit der man bestimmte politische Fragen auch gemeint hat, in Formen der politischen Überzeugung auch umsetzen zu können.
Und in diesen Elternhäusern ging es … Elternhäuser ist vielleicht noch zu allgemein gesagt, man müsste vielleicht als erstes von den evangelischen Pfarrhäusern sprechen, denn da hat man ein Konzentrat dieser Werttransformation vor Augen. Der damalige Politikwissenschaftler Martin Greiffenhagen hatte ja ein berühmtes Buch über das evangelische Pfarrhaus geschrieben, und da war die Rede von einer Dialektik zwischen Verweltlichung und Vergeistlichung. Und er hat das mit der Reformation in Verbindung gebracht. Und da geht es ja ganz stark darum, dass nämlich diese Form der katholischen Religiosität und Kirchenpraxis, dass diese verwandelt und umgewandelt werden soll in Form eines säkularen Prozesses, der also nicht nur den Gottesdienst, sondern alle praktischen Tätigkeiten im Alltagsleben umfasst und diese mit einer enormen theologischen Intensität auflädt. Und wenn man das jetzt überträgt auf die Erfahrungen von Terroristen, die sich im Untergrund befinden – auch da haben wir es mit einer Zeitintensität zu tun, mit einem Kampf auf Leben oder Tod. Und da kann man sich sehr gut vorstellen, wie bestimmte Dinge geronnen sind und zwar insbesondere im Kontext einer radikalen politischen Moralität angesichts des damaligen Vietnamkrieges.
"Die RAF hatte Gegen-Werte"
Dittrich: In Ihrem Buch beschreiben Sie auch einen karitativen Anspruch – vor allem bei den Frauen in der RAF. Viele kamen aus Berufen und Studienfächern, mit denen sie anderen Menschen helfen wollten. Gibt es da auch einen Zusammenhang? Sozusagen von der christlichen Nächstenliebe zum ideologischen Linksterrorismus?
Kraushaar: Ja, auch das lässt sich bestätigen. Es ist übrigens auch kein Zufall, dass eine ganze Reihe ehemaliger RAF-Terroristinnen entweder in sozialpädagogische oder in karitative Berufszweige übergewechselt sind, nachdem sie aus ihrer Haft entlassen worden waren. Das hängt ganz eng zusammen.
Und ich glaube, man muss insgesamt sich versuchen vorzustellen, dass man es ja bei der RAF nicht einfach mit einer Gruppierung zu tun gehabt hat, die irgendwie wertlos gewesen sei, also wertelos meine ich damit, also die verzichtet hätte auf eigene Werte.
Sondern die hatten Gegen-Werte. Der Soziologe Friedhelm Neidhardt hat das mal auf diesen Begriff gebracht und hat versucht, das deutlich zu machen. Und in diesen Gegen-Werten war etwas geronnen aus diesem protestantischen Erbe.
"Die Auferstehung Jesu als Grundmodell der Weltrevolution"
Dittrich: In der RAF-Forschung ist meistens von den politischen Motiven der Terroristen die Rede gewesen, von der Revolution, die sie anstrebten. Könnte man sagen, die Revolution wird bei ihnen zur Ersatzreligion?
Kraushaar: In gewisser Weise, ja. Das ist im übrigen schon angelegt gewesen und zum Ausdruck gebracht worden bei Rudi Dutschke, der ja überragenden Figur der 68er-Bewegung, der ja eine gewissen Gewaltaffinität auch an den Tag gelegt hat und im übrigen der erste war, der überhaupt in der deutschen Sprache von einer Stadtguerilla gesprochen hatte, obwohl er später ein erklärter Gegner der RAF gewesen war. Bei Dutschke taucht das alles bereits auf.
Dutschke hat ja Tagebuch geführt und noch 1963, als er sozusagen schon im politischen Kampf sich befand und an der FU in Berlin Soziologie studierte, hat er notiert an Ostern 1963 von der Auferstehung Jesu und dass das das Grundmodell einer historischen Weltrevolution sei. Und ich glaube, dass man an der Figur von Dutschke genau diese Prägung sehr deutlich machen kann. Denn Dutschke ist immer, in seiner gesamten Biografie, sowohl ein bekennender und überzeugter Sozialist gewesen, wie auch ein überzeugter Christ. Also beides war bei ihm wechselseitig durchdrungen und aufgeladen. Und von dieser Intensität strahlte vieles ab, in diese Akteurs-Gruppen hinein, von denen dann Splittergruppen in den Untergrund gegangen sind und später die RAF getragen und geprägt haben.
Dittrich: Herr Kraushaar, vielen Dank für Ihre Zeit heute Morgen.
Kraushaar: Sehr gerne.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
*Nach Rücksprache mit Wolfgang Kraushaar: Gemeint sind 68 Prozent.
Wolfgang Kraushaar: "Die blinden Flecken der RAF"
Klett-Cotta, 423 Seiten, 25 Euro
Klett-Cotta, 423 Seiten, 25 Euro