Rafael Cardosos Familiensaga "Das Vermächtnis der Seidenraupen" hat eine lange Entstehungsgeschichte, die in den Roman mit einfließt.
"Angefangen hat das Buch vor dreißig Jahren, als ich bei meinen Großeltern eine Kommode mit Dokumenten, Fotos, Manuskripten und Briefe entdeckte, die hatten etwas Geheimnisvolles für mich, weil sie auf Deutsch waren, und ich damals kein Wort deutsch sprach."
Das sagt Rafael Cardoso zur Entstehung des voluminösen Romans. Die Papiere in der Kommode bezeugten die deutsche Herkunft seiner Familie, die man ihm verheimlicht hatte. Rafael Cardoso wurde 1964 in Rio de Janeiro geboren, wuchs in den USA auf, kehrte in den 80er Jahren nach dem Ende der Militärdiktatur nach Rio zurück, wo er bis 2012 Professor für Kunstgeschichte war. Dann ging er nach Berlin, um den europäischen Kontext seiner Familiengeschichte zu recherchieren und eine aufwühlende Sage über Vertreibung, Flucht und Exil zu schreiben.
Cardosos Urgroßvater: Bankier und großzügiger Mäzen
Dass Rafael Cardoso "Das Vermächtnis der Seidenraupen" zuallererst im Kurt-Tucholsky Literaturmuseum im Schloss Rheinsberg vorstellte, ist von hohem Symbolwert. Sein Urgroßvater Hugo Simon war ein wohlhabender Bankier und Landgutbesitzer, ein passionierter Kunstsammler und großzügiger Mäzen, der mit Albert Einstein verkehrte, Thomas Mann, Alfred Döblin und anderen. Kurt Tucholsky verschaffte er 1923 eine Stelle in seinem Bankhaus Bett, Simon&Co.
Vor der Lesung zeigte man Rafael Cardoso ein Exemplar von Ernst Friedrichs "Krieg dem Kriege" mit einer handschriftlichen Widmung, die Hugo Simons‘ "edelste, aufrichtigste Bestrebungen für die Völkerversöhnung und den Weltfrieden" würdigt.
Rafael Cardosos Urgroßvater war Jude und ging nach der Machtergreifung der Nazis mit seiner Familie nach Paris, wo er die Pariser Tageszeitung finanziell unterstützte, Bilder aus seiner Sammlung beisteuerte für zwei Ausstellungen, die 1937 in Paris und 1938 in London stattfanden. Nach dem Einmarsch der Nazis in Paris floh Hugo Simon mit seiner Familie über Südfrankreich und Spanien nach Brasilien. Er und seine Frau Gertrud mit tschechischen Pässen, sein Sohn, der Bildhauer Wolf Demeter, seine Frau Ursula und ihre Schwester Annette Sophie mit französischen. Rafael Cardoso:
"Die ganze Familie meines Vaters war nach Brasilien ins Exil gegangen: Flüchtlinge ohne Papiere, ohne Geld, ohne rechtlichen Status. Sie hatten falsche Pässe und lebten in äußerst prekären Verhältnissen und ständiger Angst. Sie hatten vorher in Frankreich gelebt, mein Vater wurde in Frankreich geboren, ist nie in Deutschland gewesen. Sie hatten einen engen, emotionalen Bezug zur französischen Sprache und Kultur und eigneten sich mit der Zeit diese falsche Identität an. Wenn ich dabei war, sprachen sie Französisch, und wenn ich weg war, Deutsch. Sie hatten ein geheimes deutsches Leben."
"Spüre enge Verbindung zur jüdischen Kultur und Identität"
Über die deutsche Herkunft wurde in Rafael Cardosos Familie nie geredet, und das erschwerte die Spurensuche erheblich. Zur wichtigen Schlüsselfigur wurde der deutsche Historiker Charles Bloch. Er war Jude und Sozialist, weltoffen und dialogbereit, tief beeindruckt von Hugo Simon und daher nur allzu gern bereit, dem damals achtzehnjährigen Rafael Cardoso in Paris das geistige Erbe seines Urgroßvaters zu vermitteln. Rafael Cardoso:
"Charles gab mir zu verstehen, dass es da ein Vermächtnis gab, eine internationale Welt, in der der Andere nicht ausgegrenzt wird, sondern Teil der Gesellschaft ist. Ich bin kein Jude – meine Mutter kommt aus einer katholischen Familie –, spüre aber eine enge Verbindung zur jüdischen Kultur und Identität. Das hat sehr viel zu tun mit einem bestimmten Blick auf das Andersartige, den Anderen, auf die Vertriebenen, weil niemand völlig von einem Ort ist."
Rafael Cardoso zeichnet in seinem Roman beeindruckende Porträts von Künstlern im Exil. Ihre Irrfahrten durch Frankreich, die Sorge um Ausweise und Visa, die Angst vor einer Internierung in Lagern wie "Les Milles", in dem Lion Feuchtwanger, Max Ernst, Hans Bellmer und etliche andere einsaßen.
Der Urgoßvater in Brasilien: ständig auf der Hut
Auch in Brasilien musste sein Urgroßvater Hugo Simon ständig auf der Hut sein, mehrmals den Wohnort und den Arbeitsplatz wechseln. In Barbacena züchtete er Seidenraupen und war der Nachbar des französischen Schriftstellers Georges Bernanos, der zurückgezogen auf einem Landgut lebte. "Seidenraupen" nannte Hugo Simon den Roman, an dem er bis zu seinem Tod schrieb, der ihn 1950 in Sao Paulo ereilte. Von dem unvollendeten Roman erschien bislang nur das Kapitel über die Flucht nach Brasilien in der Frankfurter Zeitschrift "Exil". Rafael Cardoso:
"Mein Urgroßvater war wie Stefan Zweig der Ansicht, dass die Welt, in der sie in Europa gelebt hatten, zu Ende war. Es gab somit keinen Ort, an den sie hätten zurückkehren können. Mein Urgroßvater wollte in Brasilien bleiben. Das kommt im portugiesischen Romantitel "O Remanscente" zum Ausdruck: einer der bleibt als Zeuge, als Akteur, in einem existenziellen, fast schon existentialistischen Sinn. Überleben, Widerstand leisten und weiter zu leben versuchen."
Der deutsche Titel "Das Vermächtnis der Seidenraupen" stellt den Bezug zu Hugo Simons Roman "Seidenraupen" her, die für Rafael Cardoso ein Symbol für das bewegte Leben seines Urgroßvaters
sind. Zitat:
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"Wie er selbst waren sie das Produkt einer künstlichen Welt – das genaue Gegenteil zu einem romantischen Naturbegriff, wie er der Ideologie von Blut und Boden und dem Rassendenken zugrunde lag, und obwohl sie hässliche kleine Würmer waren, produzierten sie etwas von beträchtlicher Schönheit und Wert, eine Ware, kostbarer als Gold und schillernd wie die flüchtige Pracht von Schmetterlingsflügeln."
Rafael Cardoso hat mit der Saga "Das Vermächtnis der Seidenraupen an seinen weltoffenen und pazifistischen Urgroßvater erinnert, uns mit kaum bekannten Aspekten des deutschen Exils in
Brasilien vertraut gemacht. Sachkundig, spannend, nach Freiheit suchend.
Brasilien vertraut gemacht. Sachkundig, spannend, nach Freiheit suchend.