Im zweiten Teil von "Der lange Marsch" begegnen sich die erwachsenen Söhne und Töchter der sechs Familien in Madrid. Sie gehen zur Uni, lesen Kafka, Bourroughs, Fromm und Marcuse, diskutieren über sexuelle Befreiung und Marxismus und gründen eine kommunistische Bewegung. Ihr Weg endet noch vor Francos Tod in den Kellern der Geheimpolizei. Rafael Chirbes läßt seine Helden scheitern und zeigt, daß die Apathie der Elterngeneration nur mit Schmerzen überwunden werden kann. Auf eine einfache Botschaft läßt sich "Der lange Marsch" nicht reduzieren, denn Chirbes erzählt auch immer von den Innenwelten seiner Figuren, wodurch jede Erfahrung, jedes Erlebnis vielfach gebrochen wird. Rafael Chirbes ist ein altmodischer Schriftsteller und hat keine Scheu, sich auf ein traditionelles Genre zu berufen. Verstaubt wirkt "Der lange Marsch" trotzdem nicht - im Gegenteil. Der spanische Autor arbeitet den Bildungsromans für seine Zwecke um. Er zersplittert den klassischen Helden, wie er bei Hardy, Flaubert oder Balzac zu finden ist, und läßt ein ganzes Helden-Batallion agieren, das er souverän durch die 25 Jahre der erzählten Zeit dirigiert. Mit 30 verschiedenen Augenpaaren verfolgt der Leser die historische Entwicklung, wodurch nicht nur ein differenziertes Bild des privaten und öffentlichen Lebens entsteht, sondern auch der Bildungsroman einen neuen ästhetischen Reiz bekommt. "Für mich kommt es vor allem auf den Ton an", so Chirbes. "Die Geschichte an sich ist nicht so wichtig, denn jede ist schon 2000 Mal erzählt worden. Wenn ich einen Roman beginne, interessiert mich nur der erste Satz. Ich weiß nie, wie der Roman weitergehen wird. Auch bei ‘Der lange Marsch’ hatte ich keinen präzisen Plan. Es ist eine Art Tanz, der mich von einer Figur zur nächsten trägt. Ein Tanz auf der Suche nach dem Zusammenhalt des Romans. Und der Zusammenhalt des Romans ergibt sich aus dem Ton. Ich bin der Ansicht, daß man der Logik des ersten Absatzes, des ersten Satzes sogar, bis zum Ende folgen muß. Davon darf man nie abkommen. Daraus entsteht das Buch, daraus ergeben sich die erzählerischen Mittel."
Was Chirbes als Tanz beschreibt, ist in Wirklichkeit solides erzählerisches Handwerk. Er hat es perfekt im Griff. Chirbes nutzt Landschaftsbeschreibungen, um die seelischen Zustände seiner Figuren zu spiegeln; Motivketten weisen auf Entwicklungen voraus oder verdichten die Geschehnisse. Streunende Hunde, die Hofhunde der Großgrundbesitzerin und die Hunde der Passanten über den Kellern der Geheimpolizei versinnbildlichen das alte Spanien. Ein rauschender Bach hinter dem Haus des galizischen Bauerns deutet schon auf den Stausee hin, der sein Haus später verschlucken wird. Chirbes findet von der ersten Seite an seinen eigenen Ton, der sich in seiner schönen Sprache, der Atmosphäre seiner Bilder und dem Erzählrhythmus zeigt, aber der Ton trägt auch, weil die Geschichte stimmt. "Der Begriff des Tons umfaßt für mich auch die Perspektive", erläutert Chirbes. "Man guckt durch eine Jalousie in das Innere eines Zimmers. Wenn die Jalousie weit heruntergelassen ist, hat man den Eindruck, in ein sehr unordentliches Zimmer zu schauen, denn es liegen Schuhe und Wäsche auf dem Boden herum. Ist die Jalousie etwas weiter oben, entdeckt man, daß sich im Bett eine Liebesszene abspielt. Das meine ich mit Perspektive. Darin liegt zugleich die Tragödie der Romanciers. Das größte Problem für uns Schriftsteller ist nämlich, daß wir nicht sicher sein können, ob wir die Hoffnung und den Schmerz unserer Zeit tatsächlich zum Ausdruck gebracht haben. Man kann das häufig beobachten: Werke, die zu ihrer Zeit sehr erfolgreich und populär waren, erweisen sich später als hohl. Das Leben hat sich an anderer Stelle entfaltet, wovon in diesen Büchern nichts erzählt wurde. Es kommt also vor allem darauf an, an welcher Stelle das Auge durch die Jalousie guckt."
In "Der lange Marsch" sieht Chirbes in viele Zimmer hinein, und jedes Mal richtet sich sein Blick auf ein anderes Detail. Aus Schlafzimmern, Kinosälen, Küchen, Cafés und dem, was dort passiert, fügen sich die Realitäts-Fetzen wie Puzzleteile zusammen. Auch darin besteht Chirbes Kunst: Er gibt nicht zu viel preis und zählt auf die Phantasie seiner Leser.