Ein junger spanischer Maler verlässt Anfang der achtziger Jahre seine gutbürgerliche Familie in Madrid und sucht in Paris nach neuer Orientierung. Ein mieser Job als Zeichner in einer Einrichtungsfirma bringt fast kein Geld. Als er auch noch sein Zimmer verloren hat und sich auf ein Dasein als Clochard einstellt – seine Kleidung verrät allerdings noch einen Hauch von Eleganz – lernt er Michel kennen, einen Arbeiter Mitte fünfzig. Die beiden verlieben sich. Der Ich-Erzähler zieht bei Michel ein. Ein ungleiches Paar: der ehrgeizige junge Spanier will als Künstler leben und bekommt die Chance, seine Bilder demnächst auszustellen. Aber Michels dunkle, enge Wohnung ist kein guter Arbeitsplatz. Trotzdem hofft der Erzähler auf die Zukunft. Michel dagegen lebt nur im Hier und Jetzt. Nach der Arbeit in einem Industriebetrieb streunt er durch die Stadt, säuft sich die Hucke voll und freut sich an dem Liebsten – mehr Ambitionen hat er nicht.
Großes Interesse für ökonomische und gesellschaftspolitische Prozesse
Rafael Chirbes, der von 1949 bis 2015 lebte, interessierte sich dafür, wie ökonomische und gesellschaftspolitische Prozesse sich im einzelnen Menschen und seinen Beziehungen zu anderen niederschlagen. Dabei machte er sich keinerlei Illusionen über unsere alltägliche Gleichgültigkeit, Blindheit und Selbstbezogenheit. Doch seine Haltung wurde dabei nicht zynisch. Er war neugierig, er wollte verstehen – und sein Blick blieb differenziert.
Das sieht man auch an seinem letzten Roman "Paris-Austerlitz", der zwischen 1996 und 2015 entstand: ein lang dauerndes Projekt, das häufig für andere Bücher unterbrochen wurde. Dazu später noch.
Chirbes erzählt die Pariser Liebesgeschichte der beiden so unterschiedlichen Männer von ihrem Ende her. Der aufstrebende junge Spanier hat sich von dem wesentlich älteren, schlichten Proleten getrennt. Später erfährt er, dass Michel an einem Kaposi-Syndrom erkrankt ist und an Aids sterben wird. Aber das Thema des Romans ist nicht Krankheit, sondern es geht um die Höhen und Tiefen einer Liebesbeziehung. Michel hat für die Hospitalbesuche seines Ex-Freundes nichts übrig. Freundschaft oder platonische Liebe sind ihm zu blöd – entweder man liebt oder man liebt nicht, sagt er bündig.
Wörter wie "schwul" oder "homosexuell" tauchen in dem Roman nicht auf. Aber Chirbes schreibt durchaus unverblümt, wo es ihm angemessen scheint. So überlegt der Ich-Erzähler, was Michels Saufkumpane wohl von ihm denken. Vermutlich halten sie ihn für einen perversen Reichen, der ungebildete Proleten fürs Ficken bezahlt und sich an ihrer Armut aufgeilt.
Doch so einfach war es nicht. Für beide Männer war die Liebe zeitweilig ein Glück, ein "warmes Zuhause". Aber lassen sich die Unterschiede in Alter, Klasse, Bildung, Religion und Nation einfach überspringen? Der Erzähler stellt sich unbequeme Fragen. Seine gutbürgerliche Frau Mutter rauschte noch in den Zeiten des Glücks einmal von Madrid aus an. Sie wusste, dass er schwul war – warum hat er ihr Michel nicht vorgestellt? Welche Rolle spielte das Geld in der Beziehung zu Michel? Warum hat er selbst seine steinharte jesuitische Erziehung nie überwinden können, warum konnte er nie loslassen, sich nie hingeben? Michel warf ihm vor, du gibst dich nur her.
Rafael Chirbes setzt einen diffizilen Erinnerungsprozess in Gang; sein Erzähler ist unerbittlich in den Selbstzweifeln und meistens zärtlich in der Annäherung an den Freund. Der Roman endet nicht tröstlich. Auf der letzten Seite schildert der Erzähler, wie Michel sich im Hospital an ihn klammerte. Wie er selbst sich losmachte und ging. Das Buch endet mit diesem Riss; mit einer Schuld, die bleibt. Die Liebe ist kein sicheres Zuhause, das vor den Zumutungen der Welt schützt. Die Liebe ist ein Teil der Welt, von all ihren Widersprüchen geprägt.
Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte
Mit der Frage nach Verantwortung und Schuld ist die Dimension umrissen, die diesen schmalen Roman zu einem herausragenden Stück Literatur macht. Chirbes schreibt unpathetisch, zurückgenommen. Aber in seiner Arbeit des Verstehenwollens kommt eine Unbedingtheit zur Sprache, die ergreift. Und man versteht: Chirbes hat dieses Buch nicht geschrieben, um sein Werk zu erweitern und um den Markt zu bedienen. Der lange Entstehungsprozess deutet vielmehr darauf hin, dass hier die Auseinandersetzung mit einem Teil der eigenen Geschichte geführt werden musste.