Krieg in Nahost
Versagen über Versagen über Versagen

An der derzeit katastrophalen Situation im Gazastreifen haben alle Schuld, meint der Publizist Ofer Waldman: Hamas-Führung, israelische Regierung, Welt-Gemeinschaft und die internationalen Organisationen. Rafah sei ein Menschheitsversagen.

Ein Kommentar von Ofer Waldman |
Bei einem israelischen Angriff zerstörtes Gebäude in der Stadt Rafah im Gazastreifen.
Bei einem israelischen Angriff zerstörtes Gebäude in der Stadt Rafah: Im Moment ist kein Ende des Konflikts zwischen Israel und der Hamas in Sicht. (picture alliance / Xinhua News Agency / Khaled Omar)
Rafah, eine Stadt im südlichen Gazastreifen, hatte bis vor vier Monaten etwas weniger als 200.000 Einwohner*innen. Seit dem von der Terrororganisation Hamas in Israel am 7. Oktober verübten Massaker und der darauffolgenden massiven Bodenoffensive Israels schwoll diese Zahl auf über anderthalb Millionen Menschen an - geflüchtete Palästinenser*innen aus anderen, großenteils zerstörten Wohngebieten des Gazastreifens. Zu ihnen gehören aber auch höchstwahrscheinlich die weit über hundert israelischen Geiseln, die die Hamas noch festhält, während die Hamas-Führung selbst, so wird vermutet, unterirdischen Schutz in Rafah fand - unter diesem nun größten Flüchtlingslager des Nahen Ostens.
Rafah ist die letzte, noch nicht von der israelischen Armee besetzte Stadt des Gazastreifens. Nun steht aber die israelische Armee vor den Toren der Stadt. Nach mehr als tausend israelischen Opfern, von der Hamas unter Folter und Misshandlung am 7. Oktober ermordet; nach mehr als 20.000 zivilen palästinensischen Opfern und der Verwüstung des Gazastreifens durch Israel; mit Menschen, die im Schlamm und Regen leben, der Kälte und dem Hunger ausgeliefert, während unter ihnen, in den Tunneln, mehr als hundert israelische Geiseln verrecken, ist Rafah vor allem eines: ein Menschheitsversagen.

Das morbide Kalkül der Hamas

Es ist ein Menschheitsversagen der Hamas-Führung, die sich hier - wie bereits vielerorts nach dem 7. Oktober - hinter der eigenen Zivilbevölkerung versteckt. Das morbide Kalkül der Hamas: Angesichts des horrenden Blutzolls wird der internationale Druck auf Israel so groß, dass es seine Armee stoppt, noch bevor sie die Hamas-Führung erreicht. Diese wird sich dann aus den Trümmern erheben und als Symbol des palästinensischen Widerstands feiern lassen.
Auch Israel steht vor den Scherben seines Versagens, seines Irrglaubens, man könne den israelisch-palästinensischen Konflikt „verwalten“ statt ihn friedlich zu lösen. Die israelische Regierung betont nun, das Ziel des Krieges sei die Beseitigung der Hamas um jeden Preis, denn sonst drohe eine Wiederholung des 7. Oktober. Doch was bedeutet „um jeden Preis“, für die Zivilbevölkerung Gazas, für die Geiseln?

Netanyahu untergräbt diplomatische Lösungen

Das Versagen Israels setzt sich noch fort: Die Regierung Netanyahu untergräbt jeden Versuch, eine diplomatische Lösung für den „Tag danach“ zu finden, von der Zwei-Staaten-Lösung ganz zu schweigen. Der Grund: Netanyahu ist politisch von radikalen, rechtsextremen Kräften abhängig. Diese scheuen sich nicht vor Kriegsverbrechen und propagieren nun offen die Vertreibung der Palästinenser und die Besiedlung des Gazastreifens.
Die internationale Gemeinschaft ist ebenfalls des Versagens schuldig. Sehenden Auges ließ sie zu, dass Gewalt und Besatzung den Punkt erreichen, von dem sich die radikalen Kräfte in der Region die Erfüllung ihrer Träume erhoffen: ein umfassender Krieg. Obwohl die Konfliktparteien scheiterten, aus eigenen Kräften eine friedliche Lösung zu erreichen, ließ man sie gewähren, verwendete nur einen Bruchteil der Druckmittel, über die die Weltgemeinschaft doch verfügt, und beschränkte sich auf gebetsmühlenartige, leere diplomatische Floskeln, die zunehmend an Relevanz verloren haben.

Palästinensisches Leid als zynisches Druckmittel

Zur Aufzählung gehört auch das Versagen der arabischen Welt, für die das palästinensische Leid bloß ein zynisches Druckmittel im Schachspiel des Nahes Ostens ist, wie auch das Versagen internationaler Organisationen, die den 7. Oktober halbherzig verurteilt haben und sich nun wundern, dass ihre Stimme nicht gehört wird.
Versagen über Versagen über Versagen, Schicht für Schicht, wie der Schlamm in Rafah.
Offenbar glauben alle Akteure, die Schuld der anderen wird die eigene Schuld annullieren. Aber das Gegenteil ist der Fall. Die eigene Schuld wird von der Schuld der anderen potenziert, ins Unermessliche gesteigert: ins Menschheitsversagen Rafahs.