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Raffaels Philosophen-Fresko "Die Schule von Athen"
"Seit ein Gespräch wir sind"

Das Fresko "Die Schule von Athen" ist weltberühmt. Raffael hat es gemalt - im zweiten Stock des Vatikanpalastes im Rom. Das war vor 500 Jahren. Bis heute rätseln nicht nur Kunsthistoriker: Wer ist wer auf diesem Bild? Es reflektiert die Geschichte der Philosophie und stellt die ganz großen Fragen.

Von Astrid Nettling |
Touristen zeigen auf einzelne Figuren aus Raffaels "Schule von Athen"
Das große "Who is who?" vor Raffaels antiker Philosophenschule in den Vatikanischen Museen (imago images / VWPics)
Das Licht eines späten Sommertags taucht alles in seinen warmen Glanz. Es erfüllt das Innere einer weitläufigen, tempelartigen Halle. Es belebt die farbenprächtigen Gewänder und beseelt die Personen, die sich unter den hohen Hallenbögen in losen Gruppen zusammengefunden haben.
Jünglinge, reife Männer, ehrwürdige Greise sind dort versammelt. Sie reden, diskutieren, argumentieren. Einige hören zu oder schreiben auf oder sind in Gedanken vertieft. Einige wenden sich zum Gehen, während andere hinzutreten, teilnehmen am philosophischen Gedankenaustausch.
Raffaels weltberühmtes Fresko "Die Schule von Athen" befindet sich im zweiten Stock des Vatikanpalastes im Rom. Wer den mittleren Raum der drei sogenannten "Stanzen" betritt – zu Deutsch "Zimmer" –, erblickt auf einer der Wände das monumentale Wandgemälde von rund fünf mal acht Metern. Es zählt zu den Hauptwerken der italienischen Hochrenaissance.
Schmuck päpstlicher Wohnräume
1510 beginnt Raffael mit seiner Arbeit. 1508 war der erst 27 Jahre alte Künstler von Florenz nach Rom übergesiedelt. Er ist ein Newcomer am päpstlichen Hof, aber der große Baumeister Bramante empfiehlt ihn – und so beauftragt Papst Julius II. Raffael damit, seine privaten Wohnräume – die "Stanzen" – mit Fresken auszugestalten. Der Kunsthistoriker Christof Thoenes schreibt über die Vorgehensweise:
"Zuerst wurde der mittlere Raum in Angriff genommen, der die Privatbibliothek des Papstes enthielt. Von einem schriftlich fixierten Programm hören wir nichts. In jedem Fall war es Raffaels Sache, die Vorschläge, die ihn erreichten, ins Bild umzusetzen – eine Aufgabe, die an seine Intelligenz, Phantasie und Gestaltungskraft höchste Anforderungen stellte."
Eine ungeheure Herausforderung ist es in der Tat. Denn wie will man das Denken überhaupt ins Bild bringen? Die Tätigkeit des Geistes sowie den Sinn der Worte, der geschriebenen oder der gesprochenen Worte. Und wie die Denker – die Philosophen – bei ihrer Tätigkeit darstellen?
Doch sieh, welch deutliche Sprache spricht aus ihrer Gestik, ihrer Mimik. Welch gesprächiger Geist scheint das Ganze zu durchströmen und welch ungeheure Wortgewalt den gesamten Bildraum auszufüllen.
Schon Quintilian, der Rhetoriklehrer aus der römischen Antike, hatte in seinem einflussreichen "Lehrbuch der Redekunst" mit Blick auf die Kunst der Malerei hervorgehoben:
"… dass Gebärden, die ja doch auf einer Art von Bewegung beruhen, so stark auf den Geist wirken, dass ein Gemälde, ein Werk, das schweigt, so tief in unsere innersten Gefühle eindringen kann, dass es ist, als überträfe es selbst die Macht des gesprochenen Wortes."
Wiedergeburt antiker Philosophen
Es ist nicht überliefert, welche philosophischen Werke die Privatbibliothek des Papstes beherbergt hat. Auf seinem Wandgemälde in der Bibliothek jedenfalls feiert Raffael die Wiedergeburt der antiken Philosophen – ihre Renaissance – in leuchtenden Farben.
58 Personen sind es insgesamt, die Raffael in seiner "Schule von Athen" zusammenkommen lässt. Die Frage: "who is who?" hat von Anfang an die Gemüter bewegt. Dazu der Altphilologe Glenn Most:
"Die Mehrzahl der Identifizierungen blieb heftig umstritten. Und die Reiseführer tun bei ihren ‚Erklärungen‘ von Raffaels Fresko bis heute immer noch wenig mehr, als zur freudigen Überraschung ihrer Zuhörer so viele Figuren wie möglich mit Namen zu versehen."
Bei mindestens zwei der Gestalten jedoch gilt die Identifizierung als unstrittig.
Langsam schreiten sie aus dem Hintergrund in das Bild hinein. Ein schöner Greis in einem flammend roten Gewand und ein Mann im reifen Alter, gekleidet in Braun mit einem leuchtend blauen Überwurf. Sie schauen einander an und sind in ein Gespräch vertieft. Der Ältere deutet mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand senkrecht nach oben, während der Jüngere mit seiner ausgestreckten Rechten flach nach unten weist.
Es sind die Philosophen Platon und Aristoteles.
Als wollte er seine Geste bekräftigen, trägt der Ältere unter seinem linken Arm ein Buch mit dem Titel "Timeo", wohingegen der Jüngere auf seinen linken Oberschenkel gestützt ein Buch hält, auf dem die Aufschrift "Etica" zu lesen ist.
"Timeo" oder griechisch "Timaios" – gemeint ist jener Dialog, in dem Platon seine Kosmologie, seine Weltentstehungslehre, entwirft. "Etica" oder "Nikomachische Ethik" – so heißt die Schrift, in der Aristoteles die Grundlagen menschlichen Handelns darlegt.
Eintracht in Differenz
Beide Philosophen gehen im Bild miteinander, obwohl sie zu Lebzeiten als Lehrer und Schüler denkerisch auseinandergingen. Bis heute ist die Rede von Platonikern auf der einen und Aristotelikern auf der anderen Seite. Johann Wolfgang von Goethe bemerkt dazu, als er 1786 vor Raffaels Fresko steht:
"Jahrhunderte teilen sich in die Verehrung des Plato und Aristoteles, bald friedlich, bald in heftigem Widerstreit; und es ist als ein großer Vorzug des unsrigen anzusehen, dass die Hochschätzung beider sich im Gleichgewichte hält, wie schon Raffael in der sogenannten Schule von Athen beide Männer gedacht hat."
Der Name "Schule von Athen" stammt allerdings nicht von Raffael. Erst nach seinem Tod erhielt sein Fresko diesen Namen.
Natürlich darf ein Dritter nicht fehlen bei dem imaginären Stelldichein: Sokrates, der Lehrer Platons. Er steht links von Platon in einer Gruppe von Zuhörern, denen er die Unhaltbarkeit ihrer Ansichten vor Augen führt.
Am rechten Rand verborgen hat sich Raffael selbst in seinem Gemälde porträtiert. Unter einer schwarzen Kappe blickt er dem Betrachter direkt entgegen.
Am rechten Rand verborgen hat sich Raffael selbst in seinem Gemälde porträtiert. Unter einer schwarzen Kappe blickt er dem Betrachter direkt entgegen. (imago images / VWPics)
Unterhalb von Aristoteles räkelt sich Diogenes auf einer Treppenstufe. Wie immer nachlässig gekleidet und gleichgültig gegenüber allen Konventionen.
Und wer ist der Mann, der sich unten rechts über eine Tafel beugt? Vielleicht Euklid oder Archimedes mit vier lerneifrigen Schülern, denen er mit seinem Zirkel die Lösung eines geometrischen Problems demonstriert. Daneben unterhält sich Ptolemaios, einen Erdglobus in der Hand, angeregt mit einem anderen Astronomen, der einen Himmelsglobus balanciert. Und in der Gruppe unten links? Das muss Pythagoras sein, der vor einer Schreibtafel hockend unter den wissbegierigen Blicken der Umstehenden ein Zahlendiagramm in ein Buch kopiert.
Es handelt sich um das Schema seiner Ton- und Harmonielehre. Nach diesem pythagoreischen Vorbild hatte auch Platon im "Timaios" die "harmonia mundi" beschrieben, den verborgenen Einklang des Mikro- und Makrokosmos.
Streitbare Weisheit und schöpferische Inspiration
Schwingt ein solch verborgener Einklang nicht ebenso durch Raffaels "Schule von Athen"? Ein Einklang trotz unterschiedlicher Stimmen und Persönlichkeiten? Und hatte nicht bereits Leon Battista Alberti, der Renaissancehumanist, Mathematiker und Kunsttheoretiker, beobachtet:
"Zahlenverhältnisse, die das Konzert der Stimmen dem menschlichen Ohr angenehm machen, sind die gleichen, die Augen und Seele mit wunderbarem Vergnügen erfüllen."
Denn schau, wie harmonisch sich die steinernen Hallenbögen – einem vollendeten Dreiklang gleich – unter dem blauen Himmel emporwölben. Hoch über den in der Halle Versammelten. Und sieh, auch der Gott der Musik und der Musen ist da, Apollon, mit seiner Leier in der Hand.
Das Standbild Apollons flankiert die weitläufige Halle auf der linken Seite. Gegenüber auf der rechten Seite steht Pallas Athene, die Göttin der Weisheit, gerüstet mit Speer und Schild.
Streitbare Weisheit und schöpferische Inspiration tragen also den Bau, in dem sich die philosophischen Meister, ihre Schüler und Anhänger sowie die anderen Interessierten zu einer Stimmenvielfalt eingefunden haben.
Wie ungezwungen und frei sich alle in dem weiten, offenen Raum bewegen. Aufgeschlossen, ansprechbar, neugierig, mitteilsam, wissensdurstig. Überwölbt von einem Geist, der es ebenso ihrem Denken gestattet, sich ungezwungen und frei nach allen Seiten hin zu regen.
Denken in Freiheit
In aller Freiheit, "ohne jede Einschränkung und Enge", so hatte es auch der Renaissancephilosoph Pico della Mirandola in seiner berühmten Rede "Über die Würde des Menschen" formuliert. In aller Freiheit – und das im vollen Einklang mit der Absicht des Weltenschöpfers, denn:
"Gottvater, der höchste Baumeister, hatte dieses Haus, die Welt, die wir sehen, nach den Gesetzen verborgener Weisheit errichtet. Als das Werk vollendet war, wünschte der Meister, es gäbe jemanden, der die Gesetzmäßigkeit eines so großen Werks genau erwöge, seine Schönheit liebte und seine Größe bewunderte. So dachte er an die Erschaffung des Menschen."
1483 kommt Raffael als Sohn des Malers Giovanni Santi in Urbino zur Welt. Schon mit elf Jahren beginnt er in Perugia seine Ausbildung in der Werkstatt des bekannten Malers Il Perugino. 1504 geht er zu weiteren Studien nach Florenz, vertieft sich voll Bewunderung in die Werke Leonardos und Michelangelos. Vier Jahre später ist er in Rom und bereit, die künstlerische Herausforderung im Vatikan anzunehmen, bereit für die "Stanzen" des Papstes.
Welche Berater Raffael zur Seite standen, ist bis heute ungeklärt. Der Altphilologe Glenn Most schreibt:
"Raffael selbst war kein gebildeter Mann – er beherrschte kein Griechisch, und seine Kenntnisse des Lateinischen waren dürftig. Wer auch immer der Mann hinter Raffael gewesen sein mag, er muss nicht nur ein führender Theologe am Hof Julius' II. und enger Vertrauter des Papstes gewesen sein, sondern auch ein hochgelehrter Kenner der antiken griechischen Philosophie."
Das andere monumentales Wandbild Raffaels im Vatikan: Die"Disputa del Sacramento" (Ausschnitt)
Darstellung der Justitia, des Parnass und der Theologie: Die"Disputa del Sacramento" von Raffael (imago images / UIG)
Das Philosophen-Fresko ist nicht das einzige monumentale Wandbild, das Raffael für die Bibliothek des Papstes ausführt. Seine Darstellung der Justitia, des Parnass und der Theologie – die so genannte "Disputa del Sacramento" – füllen die drei anderen Wände der Bibliothek. Doch die "Schule von Athen" gilt bis heute als das Meisterwerk der "Stanzen".
In diesem Bild reflektiert sich am stärksten der Geist der neuen Zeit. In ihm erklingt – was Friedrich Nietzsche über die Dialoge Platons sagt – das "Jauchzen über die neue Erfindung des vernünftigen Denkens". Erklingt die Freude über den neu geschaffenen denkerischen Freiraum, der sich durch keine dogmatisch festgelegten Schranken eingegrenzt sieht.
Aufforderung zum Dialog
Die "Schule von Athen" scheint auch die Betrachter einzuladen, zu den Personen in der Halle hinzuzutreten, um an dem Gespräch der Geister teilzuhaben.
Kommt! Scheint links unten im Bild der geheimnisvolle, engelhaft schöne Jüngling im weißen Gewand uns zuzurufen. Kommt! Er wandelt durch den Raum, schreitet unbeteiligt an den Gruppen vorbei und schaut uns direkt an, als wollte er uns in das Geschehen hineinziehen. Kommt in den weiten und offenen Spielraum der Welt, wo in dem Gespräch, das wir sind, wir uns und unser Da-sein immer wieder neu und anders bedenken und zur Sprache bringen können.
In dieser Weise wird es in einer Zeile des Dichters Friedrich Hölderlin lauten –
Viel hat erfahren der Mensch.
Seit ein Gespräch wir sind
Und hören können voneinander.
Es ist ein stets streitbares Gespräch. Schon Platon spricht von einem Streit – von einer "Gigantomachie um das Sein" –, der bereits zu seiner Zeit unter den Denkern der unterschiedlichen Schulen ausgebrochen war.
So mag denn der eine oder andere Betrachter vor Raffaels Bild eher ins Träumen geraten. So jedenfalls ist es dem Philosophen Wilhelm Dilthey ergangen. 1903, in einer Dankesrede zu seinem 70. Geburtstag, erzählt er seinen Zuhörern von einem Gespräch unter Freunden und seinem darauf folgenden Traum:
"Ich genoss an jenem Abend ganz besonders, wie der harmonische Geist des göttlichen Raphael den Streit der auf Leben und Tod sich bekämpfenden Systeme besänftigt hat zu einem friedlichen Gespräch. Schlafmüde legte ich mich nieder. Und alsbald bemächtigte sich ein geschäftiges Traumleben des Raphaelschen Bildes. Die Gestalten der Philosophen wurden zu Wirklichkeiten. Aus weiter, weiter Ferne sah ich eine lange Reihe von Männern in den Trachten der folgenden Jahrhunderte sich nähern. So oft einer bei mir vorüberging, mühte ich mich, ihn zu erkennen."
Er zählt sie alle auf – Kosmologen, Naturphilosophen, Theologen, Rationalisten, Empiristen, Materialisten, Idealisten –, deren Rede und Gegenrede, deren leidenschaftliche Dispute und erbitterte Kämpfe die abendländische Geistesgeschichte getragen haben und noch tragen. Ein Gespräch – ein unendliches Gespräch durch die Zeiten hindurch – aber ist und bleibt es dennoch. Wilhelm Dilthey schließt seine Rede mit den Worten:
"Was der Mensch sei, sagt ihm nur seine Geschichte. Die Melodie unseres Lebens ist bedingt durch die begleitenden Stimmen der Vergangenheit."
Platon und Aristoteles im Mittelpunkt
Die stimmigste Melodie hat Raffael in der harmonischen Anlage seiner vielstimmigen "Schule von Athen" zu komponieren gewusst. Ganz im Sinne seiner Zeit, mit Platon und Aristoteles als Bezugs- und Mittelpunkt des Ganzen.
Welch ruhige Gewissheit strahlt von beiden aus, wie sie da in das Bild hineinschreiten. Von Platon, der besonnen nach oben deutet, von Aristoteles, der gelassen nach unten zeigt. Sogar die Farbe und die Form ihrer Gewänder scheinen ihre Gesten aufzunehmen. Ähnelt Platons rotes Gewand nicht einer zum Himmel aufsteigenden Flamme? Und wiederholt Aristoteles' braunes Kleid nicht den Farbton der Erde?
Denn so wie Mensch und Geschichte aufeinander bezogen sind, so verweisen auch Erde und Himmel, Irdisches und Göttliches, Mikro- und Makrokosmos untrennbar aufeinander.
Nicht allein Julius II. zeigt sich tief beeindruckt, als er das vollendete Fresko sieht. 1513 stirbt der Papst. Unter seinem Nachfolger, Papst Leo X., stellt Raffael mit seiner Werkstatt die restlichen Wohnräume fertig. 1516 teilt Kardinal Pietro Bembo – ein angesehener Humanist aus dem Freundeskreis des Künstlers – einem Freund mit:
"Die Gemächer unseres Herrn, welche Raffael gemalt hat, sind wunderbar schön."
Hochgepriesen als Künstler, von seinen Zeitgenossen geliebt wegen seiner Anmut, Liebenswürdigkeit und Bescheidenheit ist es ein Schock für die Welt, als Raffael am 6. April 1520 überraschend an einem Fieber stirbt. Also vor ziemlich genau 500 Jahren. Da ist er 37 Jahre alt. Auf eigenen Wunsch wird er in Rom im Pantheon in einem antiken Sarkophag bestattet. In seiner Biographie "Vita di Raffaello da Urbino" schreibt der Künstlerbiograph Giorgio Vasari:
"Im Angesicht des toten Körpers und des lebendigen Werks zerriss es allen, die es anschauten, die Seele vor Leid. Mit gutem Grund hätte die Malerei, als dieser edle Künstler starb, gleich selbst mitsterben können, da sie, als er die Augen schloss, fast blind wurde."
Doch sieh, wie kraftvoll die Farben noch leuchten. Und auch Raffael blickt uns weiterhin an. Wir erkennen ihn, fast verdeckt, am äußersten Rand der Halle rechts, angetan mit einer schwarzen Kappe. Sein Gesicht hat er dem Betrachter zugewandt. Er schaut aus dem Bild heraus auf uns, als wollte er das Gespräch keinesfalls abreißen lassen.
Somit liegt es an uns, auch über den langen Zeitraum von 500 Jahren hinweg den Faden aufzunehmen und an das Gespräch der Denker dort anzuknüpfen. Denn wie schon der Dichter Gotthold Ephraim Lessing wusste:
"Nichts geht über das laut Denken mit einem Freunde."