Dreizehn Tagebücher, dazu Reiseberichte, Vorlesungsmitschriften, Vermerke zu mündlichen Äußerungen und lose Notizen – all das findet man, akribisch dokumentiert und vereint, in der vorliegenden Gesamtausgabe der Tagebücher und Aufzeichnungen von Rahel Levin Varnhagen. Thematisch zeichnen sich vor allem die folgenden Schwerpunkte ab: Bemerkungen zur Literatur, Kunst und Politik ebenso wie zu Fragen von Kindheit, Frausein und dem Alltagsleben im Berlin des ausgehenden 18., beginnenden 19. Jahrhunderts.
Darüber hinaus versprechen die Tagebücher einen Einblick in die Privatperson Varnhagen, abseits ihrer umtriebigen Briefwechsel, die 2011 bereits ebenfalls im Wallstein-Verlag erschienen sind, unter dem Titel Rahel – Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde, kritisch ediert nach der Konzeption ihres Mannes und Nachlassverwalters Karl August Varnhagen von Ense. An die 1600 Briefe sind darin enthalten, auf über 3000 Seiten.
Rahel Levin Varnhagen war eine überaus fleißige Schreiberin, Intellektuelle, sie äußerte sich zu den Debatten ihrer Zeit, ohne Anspruch an ein eigenes Werk, Anspruch darauf, eine Dichterin, Philosophin, Wissenschaftlerin zu sein. Sie resoniert und raisonniert – wenn das Wortspiel hier erlaubt ist – im Echoraum der Werke Anderer.
Warum? Lag ihr Talent vor allem darin, sich und andere ins Gespräch zu bringen und diesem Gespräch ein Forum zu bieten, mit ihrem Salon, den sie von 1790 bis 1806 in Berlin unterhielt? Oder erreichte sie als Frau und Jüdin das, was unter den damaligen Umständen gesellschaftlich ihr überhaupt nur offen gestanden hatte, unter Verzicht auf die letzte Anerkennung, sich auch als Autorin eines eigenen Werks öffentlich profilieren zu können?
Hannah Arendt beschrieb sie als Beispiel der Möglichkeiten und Grenzen jüdischer Emanzipation im Ausklang der Aufklärung, Übergang zur Romantik, in ihrem ersten Buch, genannt Rahel Varnhagen. Von welchen Konflikten zeugen Varnhagens Tagebücher und Aufzeichnungen, die jetzt erstmals vollständig erschienen sind? Zum Jüdischsein etwa vermerkt sie:
"Die Juden sind komisch sagt man; und man lacht wenigstens häufig über sie. Das kommt (…) von ihrer schreklichen Lage in der europäischen Welt, die so sehr mit ihrer Urgeschichtlichen kontrastirt. – Woher der Mensch aber über (…) so etwas überhaupt lachen muß, das frag’ ich immer. – und folglich auch ihr ganzes Geberden, sie mögen es anstellen wie sie wollen. Europa’n müßen die Falten ausgebügelt werden!"
Shakespeare’s Sister oder – Madame Fichte
Ihre Äußerungen zum Jüdischen sind stets allgemein, anteilnehmend, persönlich aber wird sie in ihren privaten Schriften dabei nicht, bleibt sie auch dort diskret. Anders, wenn es um das eigene Geschlecht geht. So berichtet sie 1812 von einem Traum:
"Betine frägt, kennst du Liebesschmerz. Wimmernd, und wie heulend rief ich unter rinnenden Thränen mein Schnupftuch vor dem Gesicht; ein langes, langes Ja! kennst du Kränkung? Ja! wieder so. Kennst du Unrechtdulden, Ungerechtigkeit? Ja! kennst du gemordete Jugend? Ja! wimmre ich wieder in langem Ton, in Thränen zergehend. Wir waren fertig, die Herzen rein; meines aber noch mit schwehrer Erdenlast gefüllt; ich richte mich auf, sehe die Weiber ernst an, und will meine letzte Last mir entnehmen laßen; mit schwehr gesprochenen worten, über-deutlich, um auch ja hirauf die Antwort ja zu erhalten frag ich! Kennt ihr – Schande?"
Gewalt gegen Frauen ist auf körperliche wie gesellschaftliche Art virulent. So notiert sie acht Jahre später, 1820:
"(...) fürchterlich ist die Natur darin, daß eine Frau gemißbraucht werden kann, und wieder Lust und Willen einen Menschen erzeugen kann."
Die gesellschaftliche Gewalt gegen Frauen zeigt sich wiederum in den preußischen Gesetzen jener Zeit. In die Ausgabe der Tagebücher und Aufzeichnungen sind auch Abschriften privater Korrespondenzen aufgenommen, die nicht wie die autorisierten Briefwechsel mit bekannten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens zur Publikation vorgesehen waren. So zeugt ein Brief Rahel Varnhagens an ihren 80-jährigen Onkel in Breslau von der heiklen und gefährlichen Situation, in die sie geraten war, da sie einem Mann Geld geliehen hatte, das derjenige aber nicht mehr zurückzahlte.
Nach den damaligen preußischen Gesetzen durfte ein Mann einer Frau kein Geld leihen. Tat er es doch, machte er sich strafbar, die Frau wiederum machte sich erpressbar, weil ein solcher Gesetzesverstoß nur geheim geschehen konnte. Sie brauchte also eine unbedingt verlässliche Vertrauensperson in dieser Sache. Die Frage der Weiblichkeit reicht über psychische und soziale Dimensionen auch in das eigene Anliegen Varnhagens hinein, zu schreiben. Die französische Schriftstellerin Stéphanie de Genlis ist ihr darin ein Vorbild. So vermerkt sie zur Lektüre der Memoiren von de Genlis:
"Seite 344. vertheidigt sie die Authorschaft der Frauen sehr gut: und macht auch dabey die Bemerkung wie viel Talent überhaupt in der Welt verloren geht, und nur im tiefsten Keim bleibt."
Gut hundert Jahre bevor Virginia Woolf die Frage aufwarf, was, wenn William Shakespeare eine literarisch begnadete Schwester gehabt hätte, hält Rahel Varnhagen – 1820, um genau zu sein – diese Überlegung fest:
"Wenn Fichtes Werke Madame Fichte geschrieben hätte, wären sie schlechter?"
Die Vordenkerin
Hannah Arendts Darstellung der Hindernisse, denen Rahel Varnhagen ausgesetzt war, und mit denen sie ihre Art zu schreiben kultivierte, wird durch den Blick in die gesammelten Tagebücher und Aufzeichnungen umso anschaulicher. Dabei wird jedoch ebenso deutlich: Varnhagen blühte auf im Eingehen auf andere, Kommentieren Anderer, Beobachten Anderer.
Da ist sie in ihrem Element, mit kurzen, knappen Beschreibungen, scharfen Federstrichen, wunderbaren Bonmots, deren Schlagfertigkeit und Witz den Aphorismen von Georg Christoph Lichtenberg oder Oscar Wilde in nichts nachstehen. Sie versucht zu dichten, doch kaum ein Vers trägt darüber hinaus. Sie notiert philosophisch zündende Einfälle und Gedanken, doch arbeitet sie nicht aus.
Die zeitlich aufwendigen, gesellschaftlichen Verpflichtungen und Zwänge sind das eine, die Neigung zu etwas und das sich selbst darin Findende etwas anderes, auch wenn beides nicht immer zu trennen ist. So verdankt Hannah Arendt, auch wenn es in ihrem frühen Buch zu Varnhagen noch nicht explizit zur Sprache kommt, zwei grundlegende Motive ihres späteren Denkens der romantischen Vordenkerin. Varnhagen:
"Da mir durch den dunklen Mutterleib geholfen ward, so habe ich alle Hoffnung."
Ein Sinnspruch fürs Leben, vom Geborensein her. Hannah Arendt wird das Geborensein entgegen der philosophischen Tradition von Platon bis Martin Heidegger – in der das Sterben und der Tod betont werden – als Ausgangspunkt für ihr Denken nehmen, mit dem Stichwort der Natalität. Und an anderer Stelle vermerkt Varnhagen:
"Handlen aber, ist Existenz bekommen (...)."
Berliner Verhältnisse
Das Geborensein schenkt Hoffnung, wie das Handeln Existenz – auch das zweite Motiv bestimmt Arendts Grundannahmen, die sie 1960 in ihrem Buch Vita activa oder Vom tätigen Leben ausgeführt hat, fast drei Jahrzehnte später, nachdem ihre Studie zu Varnhagen bereits konzipiert gewesen war. Die Veröffentlichung sämtlicher Tagebücher und Aufzeichnungen Varnhagens bietet insofern auch neue und genauere Einblicke in das Verhältnis der beiden jüdischen Denkerinnen.
Das Verhältnis Varnhagens zu den Geistesgrößen ihrer Zeit wiederum spiegelt sich auf eindrückliche Weise in den privaten Schriften. Einerseits durch ihre Mitschriften von Vorlesungen, etwa August Wilhelm Schlegels, über die bildende Kunst, andererseits durch aufschlussreiche Anekdoten, wie zum Beispiel die folgende:
"Frau von Helvig, als man ihr, gegen ihre Behauptung einwandte, auch die Männer hätten es ja in der Ehe oft schlecht, nicht immer die Frauen, sondern diese herrschten wohl ganz und gar, rief mit Eifer aus: 'O ein Mann, der von seiner Frau beherrscht wird, der ist es auch gar nicht werth, daß er im Hause befiehlt!' – Aber, wandte Hegel sehr gelassen ein, so viel ist er doch noch immer werth, daß ihm befohlen wird? – Diese witzige Wendung machte uns sehr lachen."
Georg Wilhelm Friedrich Hegel erscheint hier von seiner galantesten Seite, indem er dialektisch versiert, mit Hierarchien vertraut, die Dame auf ihren Denkfehler aufmerksam macht, ihr sei womöglich selbst gar nicht an der Aufhebung der Gegensätze gelegen. Neben den Abschriften privater Korrespondenz beinhaltet die Ausgabe von Varnhagens Aufzeichnungen auch Beschreibungen und Vermerke Anderer über sie, um das Bild von ihr zu vervollständigen.
So hielt ihr Mann, Karl August Varnhagen von Ense, eine Szene fest, in der sie selbst äußerst schlagfertig auftritt:
"Friedrich von Raumer stritt gegen Rahel mit sehr seichten und gemeinen Aussprüchen (…) über den Schritt seines Bruders, der aus einem Mineralogen ein Pädagog geworden. Man solle bei dem bleiben, meinte er, wobei man hergekommen, man könne nur Eines recht sein, nicht aber das Eine und auch das Andre. Dabei berief er sich auf Demuth, und verwarf das Denken und Überlegen.
Nachdem er sich in Albernheiten und Schiefheiten erschöpft, fragte er unter andern auch: 'Zum Beispiel ich! Was könnt’ ich für ein andres Fach noch zu meinem hinzufügen? Sollt' ich noch etwas werden? Was meinen Sie, daß ich noch werden könnte und sollte? Schlagen Sie mir was vor!' – O ja! erwiederte Rahel mit größter Unschuld, ein Denker! Werden Sie ein Denker! – Er verstummte."
Scheinschreiben – und -leben?
Eine Urszene zur Aufklärung, möchte man meinen, in diesem Fall aus dem Jahr 1823. Rahel Varnhagen hatte selbst das Wort Witzschlag geprägt – nach Blitz- oder Hitzschlag –, vergleichbar wie Lichtenberg in seinen Sudelbüchern davon gesprochen hatte, das Denken sei dem Blitzen verwandt, es denkt wie es blitzt, als Ereignis. Der Geistesblitz ist in den Sprachgebrauch eingegangen, der Witzschlag ist eine schöne Variante.
Auch eine andere vielsagende Wortschöpfung Varnhagens findet sich in den Tagebüchern: das Scheinschreiben, synonym für ein aufgesetzt wirkendes, ausdrucksschwaches Schreiben. Der Begriff lässt ihr ambivalentes Verhältnis zum Schreiben anklingen, als Autorin der Ansätze und Notate auf tausenden von Seiten, in Merkheften wie in Briefen, ohne ein für sich stehendes Werk. So meint sie generell:
"Im Leben, welches die Götter geben, ist Schreiben nicht nöthig: in anderm hilft’s Nichts!"
Beginnt man jedoch mit dem Schreiben, führt es dann über das Scheinschreiben hinaus?
"Ich fühle mich, und uns arm, wenn mir dies deutlich wird: es ist wie ein Spiel, von Karten, oder Schach: wenig feste Bedinggungen und die größten unendlichsten Combinazionen. Nur wenn wir uns irren: das heißt, eine gemachte oder uns von der Natur vor gelegte Combination, für etwas Absolutes, Unveränderliches halten, und uns darüber zufrieden geben; es nämlich lieben, dann fühlen wir uns reich: das ist nicht’s als uns in einen Zustand finden und setzen, in dem wir hier nicht bleiben können, einem simulacre (…)."
Die "unfacionirten Deutschen"
Schreiben und Lesen, Korrespondieren und Diskutieren, erscheinen als soziales Netz von Handeln und Existenz, und zugleich als Maskeraden, illusionäre Bemühungen. ‚Ein Mensch wie ein Buch, kann dem Sinne nach zerrißen werden‘, notiert sie. Das Scheinschreiben, simulacrum, zeugt nichtsdestotrotz vom Leben und steht in seiner Spannung, Brisanz. Auch von politischen Ereignissen:
"Montag den 26ten Febr(uar) 1828. Als mich die gewaltsamen und schahmlosen Wahlen zu der französischen Kammer sehr ärgerten und gänzlich unbegreiflich schienen, dacht' ich: es muß zu einem Äußersten kommen. Kompakte Irrthümer, die gar nicht aus den Köpfen hinauskommen wollen; fallen am Ende mit den Köpfen. Das ist nicht nur so gesagt: sondern, einfach, so geschiehts. Wahrheit siegt, wenn auch noch so spät: dacht ich. Aber was ist wahrheit? – fragen übelgesinnte, unphilosophische Menschen."
Den erwachenden Nationalstolz in den Ländern Europas nennt sie "dünkelhaft" und meint:
"Welchem einzelnen Menschen wäre es wohl erlaubt sich solche Complimente zu schneiden, wie es jede Nazion gegen sich selbst gelaßen und blind ausführen darf; und wovon wir unfacionirten Deutschen bis vor einiger Zeit frey waren."
Unfacioniert, von dem französischen Wort façonner hergeleitet, sprich formen, und insofern hier: "wir unverformten Deutschen", unverformt von vergleichbarem Nationalismus. Ein Großteil der privaten Schriften Varnhagens sind auf Französisch verfasst, sie übertrug Gedichte von Johann Wolfgang von Goethe ins Französische, nahm das Französische für ein europäisches Versprechen, einer weiten, internationalen Kultur. Soweit auch, dass Sprechen zugleich Handeln bedeutet. 1813 schreibt sie einem französischen Kriegsgefangenen in Prag:
"Mein Herr! Es ist kein Französin, die Ihnen dieses kleine Paket zukommen läßt, es ist eine Preußin, die den Krieg verabscheut und all seine Opfer beklagt. Ich bin Berlinerin und kenne sehr wohl den Befehl, den Ihre Truppen erhalten hatten, unsere Stadt zu zerstören, falls Ihnen der Sieg zufallen sollte, wie Gott ihn für diesmal uns geschenkt hat. Sie sollen auch wissen, mein Herr, daß viele meiner Landsleute den Krieg nichts als verabscheuen und einzig danach streben, die Übel zu mildern, die er verursacht. Auf daß ein guter und rascher Frieden Sie in Ihre Heimat zurückführen möge!"
Die Tagebücher und Aufzeichnungen Rahel Levin Varnhagens zeigen ein Schreiben in einer ungemein komplexen Gemengelage, im Persönlichen wie in sozialen Umständen und historischen Situationen. Jemand schreibt sich frei, ohne das gesellschaftlich verheißene Ziel dadurch zu erreichen, das Werk einer Disziplin – ob Literatur oder Philosophie –, vielmehr entsteht auf die Art ein durch und durch offenes Schreiben, romantisch fragmentarisch, brüchig, zwischen Idealen und traumwandlerisch einnehmenden Passagen bis hin zu Fragwürdigkeiten, Irritationen, in denen man nicht nur die Urteile, sondern auch die Vorurteile der Zeit wiedererkennt, ein Aufscheinen von Exotismus etwa, wenn es um das Bild von Frauen nicht-europäischer, vermeintlich niederer Kulturen geht. Rahel Levin Varnhagen eignet sich nicht als Galionsfigur ideologischer Sehnsüchte, das Zwiespältige ist Teil ihrer Texte, dynamisches Moment ihrer ausufernden Offenheit.
Eine Autorin nicht nur im Sinne von Hannah Arendt, möchte man meinen, auch von Hélène Cixous, denkt man an ihr Postulat einer ausgreifenden, mäandernden Literatur. Das Lachen der Medusa heißt dieses Postulat, und das Lachen ist nicht nur für Cixous oder Arendt charakteristisch, auch für Varnhagen.
Davon zeugt nicht nur ihr Lachen mit Hegel, vielmehr die Fülle entwaffnend frecher Bemerkungen, die sich in ihren Notizen finden. Zu der elaborierten Vorlesung Schlegels über antike Säulen vermerkte sie denn auch nur: "Ich glaube der liest für Maurer (…)." Auch das ist Dialektik der Aufklärung – sie kritisch gegen ihren erhabenen Anspruch gewendet.
Rahel Levin Varnhagen: "Tagebücher und Aufzeichnungen"
herausgegeben von Ursula Isselstein
Wallstein-Verlag, Göttingen. 1064 Seiten, 98 Euro.
herausgegeben von Ursula Isselstein
Wallstein-Verlag, Göttingen. 1064 Seiten, 98 Euro.