"Noch vor wenigen Jahren haben wir geglaubt, keine Region der Welt sei so stabil wie der Nahe Osten mit seinen Diktatoren. Dann ist die Feder gesprungen, und die Erde hat sich in Bewegung gesetzt. Der Nahe Osten bebt, und mit den Flüchtlingen und dem Terror hat uns der Tsunami in Europa längst erreicht."
Als FAZ-Redakteur und ehemaliger Korrespondent ist Hermann ein ausgewiesener Kenner der Region. In seinem Buch will er der Komplexität der Länder und ihrer Probleme gerecht werden - was ihm ausgezeichnet gelingt. Er hebt sich damit wohltuend von anderen Autoren ab, die einseitig dem Westen das Chaos in der arabischen Welt ankreiden. Doch auch Hermann spricht die USA und Europa nicht frei von Schuld. Im Gegenteil: Die Wurzeln der Probleme sieht er vor 100 Jahren. Damals errichteten die Kolonialherren Großbritannien und Frankreich künstliche Nationalstaaten ohne eigene Identitäten, wie Hermann schreibt. Sie stützten sich auf Minderheiten und drängten die Mehrheit an den Rand - wie in Syrien und im Irak:
"Europa griff tief in die Geschicke Arabiens ein. Es schuf Staaten und zog Grenzen, ernannte Könige und schrieb Verfassungen [...] Als die Europäer in den Nahen Osten eindrangen, waren sie auf ein dichtes Geflecht von konfessionellen, tribalen und ethnischen Identitäten gestoßen, auf das sie nicht vorbereitet waren. Als sie die Region verließen, waren die Linien, die diese Identitäten trennen, noch schärfer, und sie traten klarer hervor."
Gesellschaftlicher Frieden in weite Ferne gerückt
Aber Hermann sieht auch ein Versagen der lokalen Eliten. Denn mit der Unabhängigkeit der Staaten verschärfte sich die Lage weiter. In vielen Ländern putschten sich Militärs an die Macht. Autoritäre Regierungen mit totalitären Ideologien entstanden. Sie korrigierten die Fehlentwicklungen unter den Kolonialherren nicht, sondern verstärkten sie. Sicherheitsapparate übernahmen alle Macht. Die Elite habe nur ein Interesse gehabt: ihren eigenen Wohlstand zu mehren, so Hermann:
"Der postkoloniale Staat der arabischen Welt [...] war keine Solidargemeinschaft; wer in Not war, richtete sich nicht an den Staat, sondern an seinen Stamm und seine konfessionelle Gemeinschaft. Dieser Staat stiftete auch keinen gesellschaftlichen Frieden. Nie waren solche Staaten inklusiv, sondern sie schlossen viele von der Teilhabe aus. Denn die Mächtigen verstanden und verstehen Herrschaft als ein Nullsummenspiel: Der Stärkere nimmt alles, der Schwächere bekommt nichts."
Die oberflächliche Stabilität fand 2011 ihr Ende
Über Jahrzehnte herrschte in der Region dennoch scheinbar eine Stabilität - bis zur Explosion 2011. Der Nahe Osten glitt danach ins Chaos, weil die Regime, laut Hermann, auch den bürgerlichen Islam zerstört hatten - der Weg war frei für Extremismus. Für die heutige Lage macht Hermann aber auch maßgeblich die unerbittliche Konkurrenz zwischen den beiden Regionalmächten verantwortlich: dem sunnitischen Saudi-Arabien und dem schiitischen Iran. Ihr Konflikt überlagere alles andere, schreibt Hermann. Die bestehenden Konflikte heizten sie konfessionalistisch auf - damit rücke ein Kompromiss etwa in Syrien in weite Ferne.
"Die Rivalität zwischen den Regionalmächten Saudi-Arabien und Iran wurde zum Brandbeschleuniger des Konflikts. Saudi-Arabien will Syrien aus dem 'schiitischen Halbmond', der von Teheran über Bagdad nach Beirut reicht, herauslösen und in Damaskus eine sunnitische Vasallenregierung einsetzen; Iran will sich jedoch über Syrien den Zugang in den Libanon bewahren."
Hermann ist sich sicher: Solange der Konflikt zwischen Saudi-Arabien und dem Iran nicht entschärft wird, scheitern alle Versuche, die zahlreichen Konflikte in der Region zu lösen. Zugleich warnt er den Westen davor, mit autoritären Regierungen wie etwa in Ägypten zusammenzuarbeiten.
"Das Regime von Präsident al-Sisi zieht die Daumenschrauben immer weiter an und erhöht die Repression in der Hoffnung, jegliche Opposition zu ersticken und eine Wiederholung der Massenproteste des Jahres 2011 zu verhindern. Die Repression trifft nicht allein die Gesellschaft, sie trifft alle Bereiche, ob Kultur oder Wirtschaft. Ausgeschlossen ist damit aber die Hoffnung auf Veränderungen, die erforderlich wären, um Druck aus dem Kessel zu lassen. Die Folge wird sein, dass der Kessel auch uns früher oder später um die Ohren fliegt."
Neuer Gesellschaftsvertrag notwendig
Überhaupt gibt Hermann einen düsteren Ausblick. Starkes Bevölkerungswachstum, eine drohende ökologische Katastrophe - die Region stehe vor Problemen, die selbst in Friedenszeiten kaum zu lösen wären. Notwendig ist für Hermann ein neuer Gesellschaftsvertrag, ein Wandel in der Wirtschaft mit weniger Staat und mehr Freiheiten für den Einzelnen - und eine neue politische Kultur. Erkennen aber kann er all das in der Region kaum:
"Die Konflikte und die Kriege, die sich zu einem großen Krieg zusammenfügen, werden nicht so schnell ausklingen. Zwar ist der postkoloniale Nationalstaat am Ende, doch es ist noch nichts in Sicht, was die verfallene Ordnung ersetzen könnte, und es zeichnet sich noch nicht ab, wie eine stabile neue Ordnung beschaffen sein müsste."
Hermann ist eine schlüssige und präzise Analyse gelungen, die die vielen Stränge der Region miteinander verbindet. Einige Fäden hätte er noch mit aufnehmen können: Russlands einflussreiche Rolle in Syrien etwa erwähnt er nur am Rand. Ebenso die schwindenden Ölressourcen und der massive Wandel, der den Golfländern bevorsteht. Hermann entwirft am Ende ein Szenario, wie die Region beruhigt werden könnte - mit funktionierenden Institutionen, einem gemäßigten Arabismus und einer Freihandelszone. Das aber liest sich wie ein schöner Traum.
Rainer Hermann: "Arabisches Beben. Die wahren Gründe der Krise im Nahen Osten"
Klett-Cotta 2018, 350 Seiten, 16,95 Euro.
Klett-Cotta 2018, 350 Seiten, 16,95 Euro.