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Rainer Just: „Der Tod, die Liebe, das Wort“
Freud spukt weiter

Etliche Grundzüge seiner Psychoanalyse entwickelte Sigmund Freud mit Hilfe eines unwissenschaftlichen Kooperationspartners: der Literatur. Mit Romanauszügen von Franz Kafka, Arthur Conan Doyle, Vladimir Nabokov und Gustave Flaubert erkundet Rainer Just die literarische Seite in Freuds Werk.

Von Peter Henning |
Im Hintergrund Freuds berühmte Couch in der Ausstellung "Sigmund Freud: Conflict and Culture" der Library of Congress in Washington, 1998
Auch dem Schriftsteller diktiert das Unbewusste. Die psychoanalytische Literaturwissenschaft trägt dieser engen Verbindung von Fiktion und Verdrängung Rechnung (Buchcover Klever Verlag, Hintergrund Ap Archiv)
Sofern man der Freund-Forschung Glauben schenken darf, hat der österreichische Neurologe und Tiefenpsychologe Sigmund Freud den Grundgedanken seiner "Psychoanalyse" erstmals in einem auf den 15. Oktober 1897 datierten Brief an seinen Freund, den deutschen Hals-Nasen-Ohren-Arzt und Sanitätsrat Wilhelm Fließ formulierte. Darin heißt es:
"Ein einziger Gedanke von allgemeinem Wert ist mir aufgegangen. Ich habe die Verliebtheit in die Mutter und die Eifersucht gegen den Vater auch bei mir gefunden und halte sie jetzt für ein allgeneines Ereignis früher Kindheit, wenn auch nicht immer so früh wie bei den hysterisch gemachten Kindern. Wenn das so ist, versteht man die packende Macht des Königs Ödipus trotz aller Einwendungen, die der Verstand gegen die Fatumsvoraussetzungen erhebt, und versteht, warum das spätere Schicksalsdrama so elend scheitern musste.
 Jeder der Hörer war einmal im Keime und in der Fantasie ein solcher Ödipus und vor der hier in der Realität gezogenen Traumerfüllung schaudert jeder zurück mit dem ganzen Betrag der Verdrängung, der seinen infantilen Zustand von einem heutigen trennt."
Die Psychoanalyse ensteht im Fiktionalen
"Schon hier", so schreibt der Wiener Literaturtheoretiker Rainer Just im Vorwort zu seiner raumgreifenden Untersuchung "zum literarischen Komplex der Psychoanalyse" Freuds, "ist alles da, die literarische Ursuppe der Psychoanalyse, die epistemologische Mixtur aus Mythos und Wunsch, Traum und Schicksal, Fantasie und Erinnerung, Kindheitsdrama und Identitätsspiegelung". Und von Anfang an - so Just weiter - "... stand die Psychoanalyse in Konstellation mit der Literatur. Von Beginn an und bis zuletzt setzte sie sich mit dem Gegen-Diskurs der Fantasie auseinander. In dieser literarischen Auseinandersetzung entwickelte Freud seine psychoanalytischen Grundtheoreme, im Fiktionalen und Imaginären fand er die Realität seines spekulativen Gedankengebäudes beglaubigt – eine prekäre, eine paradoxale, eine nonkonformistische Konfirmation, die funktionierte, weil sowohl der Untersuchungsgegenstand als auch das investigative Medium dieselben waren: es ging um die Unheimlichkeit des Menschen, die durch die Sprache zu Bewusstsein kommt."
Literarische Werke – so Freud – enthalten analog zum Tagtraum eine Oberfläche, die durch Sublimierung beziehungsweise Repression von unbewussten Wünschen oder Begierden entstanden ist. Ihr Inhalt kann – so Freud weiter – mithilfe verschiedener psychoanalytischer Deutungsverfahren entschlüsselt werden.
"Unwissenschaftliche Koalition" mit der Literatur
So enthielten etwa seine "Traumdeutungen" aus dem Jahr 1900 bereits eine Reihe solcher durch Kondensation entstandener Imagines und Muster sowie deren sich anschließende Deutungen. Dementsprechend behauptet die explizit auf Freud zurückgehende "psychoanalytische Literaturtheorie", die Just in seinem Buch anhand zahlreicher Literaturbeispiele von Kafka bis Adorno veranschaulicht, eine enge Verbindung zwischen den Gesetzen von Traum oder Tagtraum und denen jeglicher Art von Fantasie, also auch der dichterischen Fantasie. In seinem Buch schreibt Just:
"Freud folgte Marx und Nietzsche, er ging dabei aber über die soziologischen, historischen und philosophischen Reflexionsbewegungen hinaus und schuf einen neuen Diskurs, die Psychoanalyse, welche es sich zum Ziel gesetzt hatte, die Gesetze des Unbewussten zur Aufklärung zu bringen. Ein ungeheures Unterfangen, bei dem Freund vor allem auf einen unwissenschaftlichen Kooperationspartner vertraute: die Literatur.
Und das Ergebnis dieser "unwissenschaftlichen Koalition", wie Just die von Freud angestrebte Liaison zwischen Seelenkunde und Literatur nennt, ist verblüffend. Denn "seit je träumte die Literatur" – so Just "....von der Erkenntnis des Traums, die Freuds Analyse ihr lieferte. Doch der Packt von Literatur und Psychoanalyse schillert auch ambivalent, da überall, wo große Begeisterung im Spiel ist, nicht nur Dank und Anerkennung folgen, sondern auch aggressive Konfrontations- und Abwehrmanöver."
Freud als poetischer Denker
So sprach etwa der erst kürzlich verstorbene Schweizer Arzt und Ideen-Geschichtler Jean Starobinski in Bezug auf Freuds Versuch, Literatur und Psychoanalyse zusammen zu denken, leicht despektierlich von "Freuds literarischem Komplex" und einer gewissen "Abhängigkeit" seiner Folgerungen "von affektmächtigen Gedanken und Interessenkreisen". Tatsächlich war Freud in hohem Maße von der Literatur affiziert. Just geht sogar so weit, von einer "Ergriffenheit" Freuds für sie zu sprechen.
"Freud war Wissenschaftlicher und Schriftsteller, ein poetischer Denker der Aufklärung, der wie kaum ein anderer vor ihm die Arbeit auf sich nahm, im Akt einer unerbittlichen Selbst-Analyse auch die dunkelsten Abgründe der menschlichen Psyche zu erforschen."
So ruft Rainer Just, der seit 2004 Literaturtheorie an der Universität Wien lehrt, im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit der literarischen Seite in Freuds Werk immer neue Fallbeispiele aus der Literaturgeschichte der vergangenen einhundert Jahre auf, um zu veranschaulichen, wie eng Freuds Literaturtheorie mit seiner Gesellschaftskritik verzahnt ist. Das führt von Analogien in Kafkas Roman "Das Urteil" bis hin zu Explorationen der Werke von Arthur Conan Doyle, Vladimir Nabokov oder Gustave Flaubert. Das ist höchst interessant - leider aber allzu oft in einem streng wissenschaftlichen Duktus abgefasst, was die Lektüre oft unnötig erschwert.
Das Unbewusste diktiert dem Schriftsteller
Freuds Literaturtheorie belegt anhand dieser Beispiele die signifikanten Zusammenhänge zwischen Literatur und Psychoanalyse, ohne die Schreiben als literarische Befragungsform des Ichs oder der Psyche nicht funktioniert.

So heißt es stellvertretend in den poetologischen Überlegungen des Schweizer Schriftstellers Paul Nizon, der er von Anfang an von einer unauflöslichen, sich wechselseitig bedingenden Beziehung zwischen dem Schreiber und seinem Unbewussten, ausging, über seinen Landsmann Robert Walser: "Er war ganz innerlich, lebte fast nur mit Geist und Gehirn. Alles Geschriebene diktierte ihm die Seele. Also das Unbewusste."
Und bei dem 1995 in Paris verstorbenen rumänischen Denker E. M. Cioran heißt es entsprechend: "Das ich ist das einzige Thema des Schriftstellers."
Über seine literarisch-psychoanalytische Untersuchungen hinaus ist Justs Buch aber vor allem das: Eine unverhohlene Empfehlung, den Begründer der modernen Psychoanalyse zu lesen oder wieder zu lesen! Denn – so fragt Just rhetorisch, um sich sogleich selbst die abschließende Antwort zu liefern: "Ist Freud tot? Nein, ist er nicht! Der positivistische Zeitgeist hat ihn nur für tot erklärt, um in Ruhe weiter herrschen zu können, doch sein skandalöses Werk bleibt anstößig, wirkt als monolithischer Denkanstoß weiter, auch wenn man es immer wieder zu verdrängen, ja zu verwerfen sucht. Es kehrt zurück. Es spukt – es zieht seine Stärke aus seinem Veralten."
Rainer Just: "Der Tod, die Liebe, das Wort. Zum literarischen Komplex der Psychoanalyse"
Klever Verlag, Wien, 522 Seiten, 48 Euro