Archiv

Rainer Maria Woelki zu Flüchtlinge
"Europa kann kein Europa à la Carte sein"

Der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki hat von der Europäischen Union mehr Solidarität in der Flüchtlingskrise gefordert. Auch Polen und andere Staaten müssten das einhalten, worauf sie sich verpflichtet hätten, sagte der Erzbischof von Köln im DLF. Man dürfe nicht nur Milliarden zur Eurorettung bereitstellen. Es gebe auch menschliche Werte.

Rainer Maria Woelki im Gespräch mit Christoph Heinemann |
    Der Erzbischof von Köln, Kardinal Rainer Maria Woelki, während einer Pressekonferenz.
    Der Erzbischof von Köln, Kardinal Rainer Maria Woelki, während einer Pressekonferenz. (picture alliance / dpa / Henning Kaiser)
    Der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki hat eine gesamteuropäische Lösung der Flüchtlingskrise gefordert. Im Deutschlandfunk sagte er, Europa müsse sich auf die gemeinsamen Werte und Verpflichtungen besinnen. Ein Europa à la carte könne es nicht geben. Woelki betonte, auch Polen und andere Staaten müssten das einhalten, worauf sie sich verpflichtet hätten. Es gelte, die menschlichen Werte wie Solidarität und Freiheit zu verteidigen. Zugleich kritisierte Woelki die Diskussion in Deutschland über die Einführung einer Obergrenze für Flüchtlinge. Der Anspruch auf Asyl dürfe nicht ausgehebelt werden, betonte der Kardinal.

    Das Interview in voller Länge:
    Christoph Heinemann: Gedanklich ist die Brücke von der Weihnachtsgeschichte zu den Flüchtlingen kurz. Es geht um die Suche nach einer Unterkunft und schließlich, nachdem Machthaber Herodes aus Angst um seinen Thron zum Massenmörder wird, um Flucht unter Lebensgefahr. Kommt einem mit Blick auf Syrien bekannt vor. Bei aller berechtigten Kritik an den Kirchen, es gibt auch diese Bilanz: Die mitgliederstärkste katholische Diözese in Deutschland, die Kölner, hat für 2015 und das kommende Jahr rund 28 Millionen Euro bereitgestellt, außerdem rund 150 Wohnungen oder Häuser für Asylsuchende, und etwa 750 Schulplätze. In den Gemeinden helfen Tausende mit, viele in der Aktion "Neue Nachbarn". Hilfe leisten auch viele protestantische Christen und sehr viele private nichtkirchliche Organisationen und helfende Hände. Die einen packen also an, die anderen haben Angst vor einer Islamisierung. Angela Merkel hat diesen Leuten kürzlich einen Spiegel vorgehalten und ihnen indirekt die Gretchenfrage gestellt:
    O-Ton Angela Merkel: "Wenn Sie mal Aufsätze in Deutschland schreiben lassen, was Pfingsten bedeutet, da, würde ich mal sagen, ist es mit der Kenntnis über das christliche Abendland nicht so weit her! Und sich dann anschließend zu beklagen, dass Muslime sich im Koran besser auskennen, das finde ich irgendwie komisch! Und vielleicht kann uns diese Debatte auch mal wieder dazu führen, dass wir uns mit unseren eigenen Wurzeln befassen und ein bisschen mehr Kenntnis darüber haben!"
    Heinemann: Das wollen wir gleich tun. Und wir beginnen mit dem Ereignis, das sich vor rund 2.000 Jahren in der Ortschaft Betlehem zugetragen haben soll. Am Telefon ist Rainer Maria Kardinal Woelki, der Erzbischof von Köln, guten Morgen!
    Rainer Maria Woelki: Guten Morgen, Herr Heinemann!
    Heinemann: Kardinal Woelki, was feiern Christen an Weihnachten?
    Woelki: Weihnachten feiern wir, dass Gott Mensch wird. Er kommt in diese Welt, er wird einer von uns. Das ist etwas eigentlich Unfassbares. Und er kommt nicht irgendwo, in Rom oder in Jerusalem in einer Weltstadt zur Welt, sondern in Betlehem, das heißt draußen vor der Tür. Er kommt – und da wird der Papst ja nicht müde, das immer wieder zu betonen – gerade dort, wo Menschen in Armut sind, wo sie ausgegrenzt sind. Die Hirten damals gehörten zu einer solchen Gruppe der Ausgegrenzten. Dort ist Gott zu finden. Und Gott ist deshalb keine Not unbekannt, weil er in solche Situationen hineinkommt, in eine Flüchtlingssituation, in eine Armutssituation. Er kommt als Kind, entwaffnend, klein, ohnmächtig, also im Grunde genau das Gegenteil dessen, was wir uns normalerweise eigentlich vorstellen, wie einer kommt, der eigentlich Gerechtigkeit und Frieden bringen will. Denn auch das ist mit diesem Kind verbunden, weil die Lebenssituation damals, in die dieses Kind hineingeboren wurde, auch sehr unfriedlich gewesen ist und eigentlich nur ein militärischer Scheinfriede herrschte.
    Heinemann: Unfassbar sagten Sie gerade eben. Unfassbar ist das ja vor allen Dingen auch für Menschen, die nicht glauben. Weil sie nicht glauben wollen oder weil sie nicht glauben können. Welche humanistische Botschaft enthält diese Weihnachtsgeschichte?
    Woelki: Ja, es ist vor allen Dingen die Sehnsucht nach Frieden, es ist die Sehnsucht nach Gerechtigkeit. Es ist im Letzten die Sehnsucht nach Angenommensein, nach Zuwendung. Das geschieht an Weihnachten. Wir Menschen schenken uns diese Zuwendung, dieses Angenommensein, aber wir sind begrenzte Wesen, deshalb ist da viel Gebrochenheit auch hinter. Deshalb muss eine solche Liebe, ein solches Angenommensein, ein letztes Angenommensein gewissermaßen von außen in die Welt kommen. Das geschieht an Weihnachten, indem Gott, dessen Wesen Liebe ist, das übernimmt. Das ist, glaube ich, etwas, was uns mit Atheisten verbindet oder mit Menschen, die nicht glauben können, auch mit Menschen anderer Religionen, diese große Sehnsucht: Wir Christen glauben, das können wir nicht selber machen, es wird von außen an uns herangetragen, indem Gott selber kommt, dessen Wesen Liebe ist.
    "Wir schaffen das, wenn wir es wollen, und wir müssen es auch schaffen und wir können es schaffen, weil wir ein reiches Land sind."
    Heinemann: Kardinal Woelki, Sie haben die Brücke zu den Flüchtlingen gerade schon geschlagen. Mit Blick zurück: Was überwiegt bei Ihnen, die Freude über die große Hilfe oder die Empörung über brennende Unterkünfte? Heute Nacht hat es wieder gebrannt.
    Woelki: Ja, ich weiß nicht, ob man das so überhaupt miteinander zusammenbringen kann, es sind natürlich völlig verschiedene Schuhe. Da ist, wie gesagt, die Ablehnung, die Feindschaft, der Hass, das sind Dinge, die kann man einfach nicht teilen. Wir leben hier in Deutschland in einem Rechtsstaat, was ist das für eine Humanität, auf die wir uns berufen, was ist das für ein Menschenbild, das solche Taten begründen könnte? Damit wollen wir hier in Deutschland, damit wollen wir in Europa, damit wollen wir als Menschen nichts zu tun haben, es gibt nichts, womit das zu rechtfertigen ist. Und insofern eben auf der anderen Seite viele Menschen, die sich hier einsetzen, die sich als Freiwillige hier in Dienst nehmen lassen. Ich glaube, dass die Bundeskanzlerin, dass wir ihr sehr dankbar sein müssen, dass sie hier nicht eingeknickt ist und dass sie dieses berühmte Wort von "Wir schaffen das" gesagt hat. Und wir schaffen das, wenn wir es wollen, und wir müssen es auch schaffen und wir können es schaffen, weil wir ein reiches Land sind, weil wir kluge Köpfe haben, weil wir die notwendigen Mittel haben, weil wir flexibel und erfinderisch und fantasievoll hier sind und weil wir auch bewiesen haben in der Vergangenheit, dass wir mit vielen Herausforderungen zurechtgekommen sind und die gestemmt haben. Also, ich bin sehr dankbar für die vielen Menschen, die hier ein gegenteiliges Zeugnis bringen und für eine Humanität unserer Gesellschaft einstehen.
    Heinemann: Ist ein schlechter Christ, wer aus Sorge um den Zusammenhalt der Gesellschaft Obergrenzen für Flüchtlinge fordert?
    Woelki: Ich tu mich insgesamt sehr schwer zu sagen, was ist ein schlechter Christ, was ist ein guter Christ. Also, da will ich jetzt gar kein Urteil abgeben. Es steht schon in der Heiligen Schrift drin, dass wir damit vorsichtig sein sollen. Nein, ich glaube, wer sich um den Zusammenhalt unserer Gesellschaft sorgt, der muss dann eben auch etwas tun, dass sie nicht auseinanderbricht. Und statt Zusammenhalt nehme ich deshalb eher den Begriff Integration in den Mund und wir müssen uns gerade als Christen und auch von unserer christlich-abendländischen Tradition her immer daran erinnern lassen, dass wir in jedem Menschen ein Ebenbild Gottes sehen, das hat mit Weihnachten zu tun, eben weil Gott Mensch wird, deshalb eignet jedem Menschen eine besondere Würde.
    Heinemann: Das ist die ethische Seite. Aber kann es 2016 so weitergehen wie 2015?
    Woelki: Also, ich glaube, dass wir zunächst einmal wahrnehmen müssen, dass wir das Recht auf Asyl hier haben, dass es ein unabhängiges Verfahren ist und dass jeder hier kommen kann und auch aufgrund der Erfahrung, die wir im Nationalsozialismus gemacht haben, das Recht hat, um ein politisches Asyl eben zu bitten. Und dieses Verfahren muss unabhängig sein und jeder, der hier hinkommt und auch darum bittet und Anspruch darauf hat, der muss diesen Anspruch gewährt bekommen. Und deshalb muss man vorsichtig sein mit dem Begriff Obergrenze, damit man diesen Anspruch auf das Asyl nicht darüber aushebelt.
    Heinemann: Aber muss Politik nicht Grenzen schützen und die Zuwanderung begrenzen jetzt in der konkreten Situation?
    Woelki: Ich glaube, dass es eine gesamteuropäische Aufgabe ist.
    Heinemann: Aber das klappt ja gerade nicht.
    Woelki: Ja, aber darum müssen wir miteinander kämpfen und das muss natürlich innerhalb Europas diskutiert werden und wir müssen uns auf unsere gemeinsamen europäischen Verpflichtungen und Werte besinnen. Europa kann kein Europa à la carte sein, dann müssen natürlich auch Polen und die anderen Staaten mit drauf verpflichtet werden auf das, worauf sie sich eingelassen haben. Die Dinge waren von Anfang an klar, wir haben eben einen europäischen Wertekatalog und man kann nicht nur bestimmte Dinge für sich selbst reklamieren, man kann nicht nur ein ökonomisches Europa vorantreiben wollen, man kann nicht nur beraten und über Nacht Millionen und Milliarden zur Verfügung stellen zur Rettung von Geld, des Euros, sondern man muss auch die damit verbundenen Werte, die menschlichen Werte, die europäischen Werte, Solidarität, Freiheit, die müssen auch hier miteinander verteidigt werden. Das hat etwas mit eben auch der Flüchtlingsfrage zu tun, Menschen, die zu uns kommen.
    "Weihnachten ist das Gegengift zur Angst"
    Heinemann: Schauen wir noch mal ins Inland, Kardinal Woelki! Verstehen sie Pegida?
    Woelki: Ehrlich gesagt kann ich das nicht verstehen. Ich denke, dass da als Grundlage gewissermaßen so etwas wie eine wabernde Angst ist, die sich dann in verschiedenen Spielarten äußert. Die Angst vor dem eigenen Abstieg, vor dem Verlust von Wohlstand und materiellen Werten, Angst vor dem Fremden, vor dem Unbekannten, vor Veränderungen insgesamt. Und das hat irgendwie alles in Pegida ein Ventil gefunden und das führt dann eigentlich zu dieser merkwürdigen Erscheinung, dass die Demonstranten ausgerechnet dann Weihnachtslieder singen. Weihnachten ist aber genau das Gegengift zur Angst, "fürchtet euch nicht", das ist die Botschaft der kommenden Nacht, die Botschaft der Engel. Und die Botschaft ist: Gott ist Mensch geworden und er ist mit uns und wer sich darauf einlässt, der braucht keine Angst zu haben.
    Heinemann: Aber Stichwort Angst: Was antworten Sie Menschen, die eine Islamisierung des Abendlandes befürchten?
    Woelki: Ich glaube, dass alleine angesichts der Zahl derer, die hier zu uns kommen, dass diese Angst übertrieben ist. Ich habe in Berlin mit vielen Muslimen zusammengelebt, in dem Kiez, in dem ich gewohnt habe, und auch hier bei uns in Köln leben seit Jahren Tausende von Muslimen, die in der Regel sehr gut integriert sind und die auch unser Stadtleben bereichern. Es ist, finde ich, eine Anfrage an uns, wie wir hier unser Christentum leben. Und da hat die Bundeskanzlerin ebenfalls – Sie haben das ja zu Beginn auch deutlich gemacht – den Finger in die Wunde gelegt: Fangen wir an, authentisch zu leben, versuchen wir, unsere Wurzeln, aus denen wir leben, wieder zu aktivieren, versuchen wir, uns um ein authentisches Christsein zu bemühen! Das ist eigentlich das Beste, was wir einer solchen Angst vor einer Islamisierung entgegensetzen können, Authentizität und Glaubwürdigkeit des eigenen.
    Heinemann: Woher stammt der Hass in Deutschland?
    Woelki: Ja, ich glaube, dass eben eine ganze Reihe von Menschen diesen Hass entwickeln, weil eben diese Angst existiert, die Angst, zu kurz zu kommen, ausgeschlossen zu sein aus vielen gesellschaftlichen Bereichen. Und deshalb ist das Entscheidende immer wieder, dass wir versuchen, soziale Gerechtigkeit zu schaffen, dass wir uns nicht nur um Flüchtlinge kümmern, sondern dass auch die anderen, die außen vor sind, die keine Arbeit haben, die Drogenabhängigen, die Obdachlosen, dass wir diese Menschen, die ebenfalls am Rande sind, nicht außer Acht lassen und darüber hinaus wirklich alles tun, dass Bildung und Ausbildung, dass Partizipation und Teilhabe an dieser Gesellschaft möglich sind. Das ist das einzige Mittel, glaube ich, womit eine solche Not und eine solche Angst und meinetwegen, wenn Sie so wollen, auch im Letzten ein Hass, ein Neid, ein Sozialneid im Letzten bekämpft werden kann.
    Heinemann: Rainer Maria Kardinal Woelki, der Erzbischof von Köln, vielen Dank für das Gespräch, Ihnen ein frohes Fest und auf Wiederhören!
    Woelki: Danke, Ihnen auch!
    Heinemann: Danke!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.