Die Debatte um die Stationierung von US-Raketen in Deutschland bestimmt auch die Sondierungsgespräche in Thüringen, wo sich die Regierungsbildung als äußerst schwierig erweist. Für einen der potenziellen Koalitionspartner, das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), ist es sogar Bedingung für alle kommenden Verhandlungen: In Deutschland sollen keine US-Raketen stationiert werden.
Damit vertritt das BSW die Meinung vieler Bundesbürgerinnen und -bürger, die ein Wettrüsten und eine Eskalation des Konflikts zwischen der NATO und Russland befürchten. Während die Bevölkerung in Westdeutschland dazu gespalten ist, sind im Osten zwei Drittel klar gegen die Stationierung von US-Waffen.
Was ist bezüglich der Stationierung von Raketen geplant?
Im Rahmen des NATO-Gipfels in Washington im Juli gaben die USA gemeinsam mit Deutschland bekannt, US-Langstreckenwaffen in Deutschland stationieren zu wollen. Dabei geht es um Marschflugkörper vom Typ Tomahawk mit mehr als 2.000 Kilometern Reichweite, um Flugabwehrraketen vom Typ SM-6 und um neu entwickelte Überschallwaffen. Ab 2026 sollen die ersten dieser Waffensysteme nach Deutschland gebracht werden. Wo genau die Raketen stationiert werden sollen, ist noch nicht bekannt.
Die Raketen sollen nur eine begrenzte Zeitlang auf deutschem Boden bleiben. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) betonten mehrfach, dass mit den US-Raketen eine „Lücke“ in der Abschreckungskapazität geschlossen werde, bis Europa selbst im Besitz vergleichbarer abstandsfähiger Präzisionswaffen sei. Die Bundesregierung hat die Stationierung der US-Langstreckenraketen in Deutschland genehmigt. Eine Zustimmung des Bundestags würde erst nötig, sobald Kosten für den Bund entstehen.
Wie ist die Entscheidung geopolitisch und historisch einzuordnen?
Zum ersten Mal seit Ende des Kalten Krieges sollen wieder US-Raketen auf deutschem Boden stationiert werden. Nach dem NATO-Doppelbeschluss brachten die USA 1983 mit den Cruise-Missiles und Pershing II-Raketen Langstrecken-Atomwaffen nach Deutschland. Die Entscheidung führte damals zu großen Demonstrationen und Blockaden seitens der Bevölkerung, an denen sich auch prominente Politiker, Intellektuelle und Generäle der Bundeswehr beteiligten. Gut zwei Drittel der Deutschen waren damals gegen die Stationierung von US-Raketen.
Heute geht es laut der Pläne zwar nicht um atomare Sprengköpfe, sondern um konventionelle Waffen. Das Ziel ist jedoch das gleiche: die militärische Abschreckung Russlands. US-Raketen auf deutschem Boden würden in jedem Fall das endgültige Ende des INF-Abkommens zwischen Russland und den USA bedeuten, das von 1987 bis 2019 galt und die Stationierung von Mittelstreckenraketen verbot.
Wie hat Russland auf die Ankündigung reagiert?
Kurz nach Veröffentlichung der Pläne warnte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow vor einer Rückkehr zum Kalten Krieg. Russland habe die Fähigkeit zur Abschreckung und seine Raketen auf Ziele in Europa ausgerichtet. Bei einer Rede in St. Petersburg im Juli sagte der russische Präsident Wladimir Putin, Russland würde auf eine Stationierung von US-Raketen in Deutschland mit dem Aufbau eines ähnlichen Waffensystems entlang seiner westlichen Grenze antworten.
Putin argumentierte, dass die US-Raketen mit Atomsprengköpfen bestückt werden könnten und im Fall eines Angriffs innerhalb von zehn Minuten über russischem Territorium wären. Russland habe sich bisher ein Moratorium auferlegt und trotz des abgelaufenen INF-Abkommens weiter an die Vereinbarungen gehalten. Die USA beklagen dagegen seit längerer Zeit russische Verstöße gegen den Vertrag. Putin betonte, im Falle einer Umsetzung der Pläne werde Russland sich nicht mehr verpflichtet fühlen, das Verbot landgestützter atomarer Mittelstreckenwaffen weiter einzuhalten.
Was sagen die Befürworter der Stationierung von US-Raketen?
Bundeskanzler Olaf Scholz hat die geplante Stationierung weitreichender US-Waffensysteme in Deutschland mehrfach verteidigt. Am Rande des NATO-Gipfels in Washington sprach Scholz von einer „sehr guten Entscheidung“. Auch bei einer Rede im schleswig-holsteinischen Todendorf Anfang September sprach Scholz von der Bedrohung durch Russland. Putin habe Raketen bis nach Kaliningrad verlegt, Luftlinie 530 Kilometer von Berlin entfernt. Darauf nicht angemessen zu reagieren, wäre fahrlässig, betonte Scholz. Auch das SPD-Präsidium und weite Teile der FDP und der Union begrüßten die Entscheidung.
Vizekanzler und Bundeswirtschaftsminister Habeck (Die Grünen) bezeichnete die Entscheidung als notwendig, auch wenn er sich mit Aufrüstung nicht leicht tue. Russland sei im Moment kein Friedenspartner, betonte Habeck in der Zeitung „Neue Westfälische“. Vergleichbar äußerte sich Habecks Parteikollegin, Bundesaußenministerin Annalena Baerbock. Gegenüber der Funke-Mediengruppe bezeichnete sie Russland als die größte Sicherheitsgefahr. Putin wolle Europa mit seinem Waffenarsenal Angst machen. Deshalb seien verstärkte Abschreckung und zusätzliche Abstandswaffen nötig. Alles andere wäre verantwortungslos und naiv, so Baerbock.
Der Osteuropaexperte Wilfried Jilge sagte im Deutschlandfunk: „Bei all dem, was Putin zurzeit macht, können wir nicht mehr ignorieren, dass wir einer massiven Bedrohung ausgesetzt sind.“ Es gehe bei dem NATO-Beschluss „um nichts anderes als den Schutz der Zivilbevölkerung“. Schon vor dem Angriffskrieg gegen die Ukraine habe Putin die Schwarzmeerflotte mit nuklear bestückbaren Mittelstreckenraketen ausgerüstet. Die ausgebliebene Antwort der NATO habe nicht zu mehr Frieden geführt, im Gegenteil: Danach begann Russland den Krieg gegen die Ukraine.
Was sagen die Gegner der Stationierung von US-Raketen?
Kritik an der Entscheidung der Stationierung bekam die Regierung teilweise aus den eigenen Reihen zu hören: Der ehemalige Parteichef der Sozialdemokraten, Walter-Borjans, sagte im Deutschlandfunk, es störe ihn, wenn eine so weitreichende Entscheidung quasi im Alleingang entschieden werde. SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich warnte vor dem Risiko einer militärischen Eskalation. Es erschließe sich ihm auch nicht, warum allein Deutschland derartige Waffen stationieren solle, sagte Mützenich gegenüber den Funke-Medien. Unter Lastenteilung innerhalb der NATO habe er bisher etwas anderes verstanden.
Unter den Oppositionsparteien sprechen sich vor allem die AfD und das BSW deutlich gegen die Raketenstationierung aus. Das BSW macht, wie eingangs erwähnt, sein Nein zur Bedingung jeder Form von Koalitionsbeteiligung. BSW-Vorsitzende Amira Mohamed Ali betonte im Deutschlandfunk: „Die Stationierung der US-Mittelstreckenraketen lehnen wir ganz strikt ab.“ Ihre Partei betrachte diese als eine Maßnahme, die die Kriegsgefahr für Deutschland unmittelbar erhöhe. Die scheidende Linken-Vorsitzende Janine Wissler warnte vor einem Wettrüsten, das niemand gewinnen könne.
pj