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Ralph Giordano: Die Traditionslüge

Auch Ralph Giordano weiß aus eigener Erfahrung, dass Ausländer- und Fremdenfeindlichkeit in Deutschland eine lange Tradition haben. In seinem 1982 veröffentlichten autobiographischen Roman "Die Bertinis" hat er seinen Überlebenskampf als - so die nationalsozialistische Terminologie - "Halbjude" in Hamburg fiktional dokumentiert. Unermüdlich hat er Restauration und Verdrängung in der Bundesrepublik angeprangert und auch in seinem jüngsten Buch ist die deutsche Rezeption des Nationalsozialismus Giordanos zentrales Thema. Hören Sie den Beitrag von Frank J. Heinemann.

Frank J. Heinemann: |
    Auch Ralph Giordano weiß aus eigener Erfahrung, dass Ausländer- und Fremdenfeindlichkeit in Deutschland eine lange Tradition haben. In seinem 1982 veröffentlichten autobiographischen Roman "Die Bertinis" hat er seinen Überlebenskampf als - so die nationalsozialistische Terminologie - "Halbjude" in Hamburg fiktional dokumentiert. Unermüdlich hat er Restauration und Verdrängung in der Bundesrepublik angeprangert und auch in seinem jüngsten Buch ist die deutsche Rezeption des Nationalsozialismus Giordanos zentrales Thema. Hören Sie den Beitrag von Frank J. Heinemann.

    Was ist von einem Autor zu halten, der sich in der Lage sieht, wohlgefällig zu zitieren, was er vor mehr als einem halben Jahrhundert geschrieben hat? Muss man ihm gratulieren, uneingeschränkt, oder mischt sich in den Lobpreis für so viel Kontinuität und Identität ein Tröpfchen Brechtscher Skepsis? In Brechts Keuner-Geschichten wird Herr K. ja einmal dafür gelobt, dass er sich gar nicht verändert habe, und erbleichte daraufhin bekanntlich. Ralph Giordano jedenfalls, dem immer jugendlichen 77-jährigen, sind solche dialektischen Spitzfindigkeiten fremd. Voll Autorenstolz macht er uns gleich am Anfang seines neuen Buchs mit einem Text bekannt, den der 24-jährige Ralph Giordano geschrieben hat. Im Herbst 1947 war unter der Titelfrage "Eidgetreu?" in der längst vergessenen Berliner Zeitschrift Start zu lesen:

    "Die Verbrechen sind geschehen – im Namen Deutschlands und unvorstellbar grauenhafter, als die menschliche Phantasie sie sich bis zur Hitlerära ausmalen konnte. Trotzdem hören wir auch heute, wenn die moralische Einstellung des Einzelnen zum letzten Krieg diskutiert wird, immer wieder: ‚Wir hatten einen Eid geschworen, den wir halten mußten!‘ oder ‚Wir kämpften nicht für Hitler, sondern für Deutschland‘. Wer aber auch jetzt noch jene in der Sonne des Hakenkreuzes blühende ‚Eidtreue‘ verteidigt, der vertritt unmissverständlich den Standpunkt: Mag die Sache, mag der Staat, für den gekämpft wird, noch so mörderisch, noch so verbrecherisch, noch so rechtswidrig sein – dem einmal geleisteten Eid muss um jeden Preis die Treue gehalten werden. Doch diese ‚Treue‘ verstieß gegen das elementar Menschliche, das in den Gesetzesbüchern aller zivilisierten Völker als ‚die guten Sitten‘ bezeichnet wird. [....] Wer kann noch ernsthaft glauben, er hätte ‚nur seine Pflicht dem Vaterland gegenüber erfüllt‘, als er Befehle im Namen Deutschlands ausführte, in dem Hitler Häuptling war?"

    Aus dem zornigen jungen Mann von 1947 ist ein fast noch zornigerer alter geworden. Ralph Giordano, der als wortgewaltiger Fernsehreporter und Dokumentarist bekannt geworden war, setzte sich in Sachbüchern mit seinem Lebensthema auseinander, dem Nationalsozialismus und seinem Weiterwirken in der westdeutschen Gesellschaft. Er warf den Deutschen eine "zweite Schuld" vor: nach der Schuld der mörderischen zwölf Jahre eine fast völlige Restaurierung und Rehabilitierung der Führungseliten des "Dritten Reichs" nach 1945. Hatte sein Buch "Die zweite Schuld" der bundesdeutschen Gesellschaft insgesamt gegolten, so zielt sein jüngstes auf eines ihrer Segmente:

    "Die Traditionslüge. Vom Kriegerkult in der Bundeswehr".

    Das Buch wirkt wie ein Nachtrag zu der von Giordano begrüßten und trotz ihrer offenkundig gewordenen Defizite weiterhin gelobten Wehrmachtsausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Die Ausstellung über den Vernichtungskrieg im Osten hat die von der Zeitgeschichtsforschung längst vorher korrigierte Legende von der im Kern "sauber" gebliebenen Wehrmacht für ein allgemeines Publikum zerstört. Giordano beleuchtet nun die Verbindungen zwischen alter Wehrmacht und junger Bundeswehr und trägt auf gut 450 Seiten alles zusammen, was gegen eine solche Traditionslinie spricht. 1955 wurde die Bundeswehr offiziell gegründet, doch das, was Giordano die "Traditionslüge" nennt und was schon bald nach 1945 in den Memoiren von Hitlers Generälen und an den Stammtischen von Veteranen-Vereinen wucherte, bekam schon im Dezember 1952 mit Konrad Adenauers Ehrenerklärung für die Wehrmachtserklärung den regierungsamtlichen Segen.

    Konrad Adenauer hat diese Erklärung wider besseres Wissen abgegeben. Darauf weist Giordano voll Grimm hin. Der erste Kanzler der Bundesrepublik war kein Widerständler gewesen, aber gewiss auch weder Nationalsozialist noch Militarist. Nach 1945 hat er sich privat sehr kritisch über die ihrem Führer verfallenen Deutschen, die Haltung seiner katholischen Kirche und auch über die Wehrmacht geäußert. Giordano charakterisiert sein Buch als das eines "politischen Publizisten, nicht eines Historikers". Bei der Bewertung Adenauers wird die Beschränkung, die solche Haltung, ein solcher Blick aufs historische Material mit sich bringen, besonders deutlich. Doch zuvor ein Wort zu den Vorzügen von Giordanos Umgang damit: Unermüdlich trägt er die Fakten aus der zeitgeschichtlichen Forschung über die Wehrmacht, die Entwicklung der Bundeswehr und das Weiterwirken von Wehrmachtstraditionen in ihr zusammen. Kein Beleg für eine seiner Ansicht nach verlogene Tradition entgeht ihm, weder in der Forschungsliteratur noch in der allgemeinen Publizistik. So brandmarkt er auch die Serie unsäglicher Gedenkanzeigen für gefallene junge Soldaten in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die als Reaktion auf die Wehrmachtsausstellung einsetzte – ein zutiefst unmoralischer Missbrauch von stummen Toten, die sich nicht dagegen wehren können, für aktuelle politische Zwecke eingespannt zu werden. Sein Buch durchstreift die Tatorte der Wehrmacht von Weißrussland über den Balkan und Griechenland bis in das nach dem Bruch der Achse Rom-Berlin von deutschen Soldaten malträtierte Italien, immer eingedenk der auch von einem Norbert Blüm erkannten moralischen Wahrheit, dass die Gaskammern von Auschwitz nur so lange arbeiten konnten, wie die deutsche Front hielt. Natürlich wusste das, privat sozusagen, auch Konrad Adenauer, der öffentlich die Wehrmacht reinwusch. Warum? Adenauer, der bis zur Ruchlosigkeit realistische Politiker, wusste auch genau, dass er ein Volk vor sich hatte, das zumindest bis Stalingrad seinem Führer blind vertraut hatte, und er wusste, dass er eine Armee nur aufbauen konnte mit der nur von einigen Hauptkriegsverbrechern gesäuberten alten Führungselite. Hätte er der Legende vom sauberen "Waffenrock" widersprochen, so hätte er weder die Zustimmung der Wehrmachtsoffiziere noch eine Mehrheit bei ihren ehemaligen Untergebenen gewonnen. Die Wiederbewaffnung aber brauchte er, um sein Hauptziel zu erreichen, die feste Bindung an den Westen, die neue deutsche Abenteuer unmöglich machen sollte. Die moralisch mehr als anfechtbare Anknüpfung an die Wehrmachtstradition nahm Adenauer in Kauf, vor allem, soweit sie sich aufs bloß "Symbolische" bezog. Der Erfolg gibt ihm - zumindest nachträglich – recht. Auch Giordano räumt ein, die Bundeswehr habe bis heute niemals "den Primat der Politik" verletzt, sie sei "nicht rechtsextremistisch unterwandert", jedenfalls nicht mehr als der Rest der Gesellschaft. Der leidenschaftliche Moralist arbeitet sich an dem ab, was dem Realpolitiker nebensächlich war, eben am Symbolischen: An der Absurdität lediglich von den Hakenkreuzen gesäuberter Orden, die wieder getragen werden durften, und vor allem an den fragwürdigen Namenspatronen bundesdeutscher Kasernen. Fritsch, Kübler, Mölders, auch Rommel – er findet sie gleichermaßen unerträglich. In Sachsen übrigens, fand Giordano heraus, habe man nach 1990 eine Kaserne lieber nach dem Landsmann Körner als nach Carl Goerdeler benannt. Aber hätte nicht auch Goerdeler Probleme bringen können? Bevor er Widerstand leistete, war er schließlich überzeugter Nationalsozialist, wie andere tapfere Widerständler auch. Tradition zu symbolisieren ist ein schwieriges Geschäft. Gehört nicht ein Anteil von Legende, man könnte es auch Lüge nennen, notwendig dazu? Giordano scheut sich, den Begriff Tradition als solchen zu problematisieren. Für ihn gibt es nur die "Traditionslüge" auf der einen und die richtige Tradition auf der anderen Seite. Er schlägt vor, Kasernen künftig nach Widersachern des einstmals herrschenden Militärwesens zu benennen, von wilhelminischen Offizieren, die zu Pazifisten wurden, über Karl Liebknecht, der 1914 die Kriegskredite verweigerte, bis zu Deserteuren des Zweiten Weltkriegs. Er bekennt sich selbst als "Nicht-Pazifist", ist also einverstanden, dass Menschen für das Töten auf Befehl und möglicherweise auch das Getötetwerden trainiert werden. Eignen sich da Pazifisten und Deserteure, so ehrenhaft ihre Motive auch waren, als Namenspatrone? Und zweitens: Wird mit einer Galerie von Dissidenten und Non-Konformisten als Namensgebern nicht etwas ins Werk gesetzt, was man ebenfalls eine Traditionslüge nennen könnte, nämlich die Erzeugung einer künstlichen Traditionslinie, die nicht repräsentativ ist für deutsche Militärgeschichte, nur Wunschbild, nicht historische Wahrheit? Giordano geht, wie gesagt, der Problematisierung des Begriffs "Tradition" aus dem Weg. Er gönnt sich lieber, nach 400 Seiten Kampf gegen die Geister und den Ungeist der Vergangenheit, ein wenig Zukunftshoffnung. Er knüpft sie an eine ihm kürzlich zugespielte Denkschrift, die im Verteidigungsministerium kursiere. Für ihn ist sie ein erster Schritt, "endlich aus dem langen Schatten der Wehrmacht herauszutreten". Seine Hoffnung belegt er unter anderem mit diesem Zitat daraus:

    "Die Verehrung und Traditionswürdigkeit von Soldaten allein aufgrund ihrer ausgeprägten soldatischen Sekundärtugenden (z. B. Tapferkeit, Mut, fachliches Können) steht aufgrund der gesellschaftlichen Veränderungen und dem untrennbar damit verbundenen Leitbild des ‚Staatsbürgers in Uniform‘ zumindest für Soldaten vor 1956 [...] zur Debatte. [....] Der Vorbehalt, Kasernenumbenennungen seien Selbstverleugnungen früheren Selbstverständnisses und opportunistisches Verneinen militärischer Fähigkeiten deutscher Soldaten während des Zweiten Weltkrieges, kann die heutige Bundeswehr nicht mehr treffen. Dass die zwangsläufig mit der Ausprägung und Weiterentwicklung des neuen Geistes einhergehenden Brüche, wie sie jetzt im Zuge so mancher Kasernenumbenennung offen zutage treten, bei vielen Angehörigen, Kriegsveteranen und anderen auf Unverständnis stoßen und für sie enttäuschend sind, lässt sich nicht verhindern und wird hoffentlich der Einsicht weichen, die die Bundeswehr als eigenständige Armee auf freiheitlich-demokratischem Fundament sieht."