Mordlust
Siehe: Wortlust. Wortdurst. Wortwurst. Wutschminken. Toilettengeheimnisse. Herrengesänge. Charaktergemüse. Kindermehl. Dosenboden. Nackenknacken. Röckerascheln. Grübelzwang. Grabenschlitze Satzritzen. Schlachtmüll. Verkehrslücken. Achselgrubenschweiß. Wagenwaschanlagen. Beleuchtungswesen. Lokomotivschuppen. Artilleriekasernen. Scheibenwischerwasser. Auspuffgeräusche. Bremsgeräusche. Aufprallgeräusche. Ackerränder. Fleischlappen. Wolkenknoten. Kältepfropfen. Hutfutter.
Dieses Stichwort, das nur aus Stichworten besteht, könnte in seiner Wortlust am Anfang von Ror Wolfs großer "Enzyklopädie für unerschrockene Leser" stehen. Die Worte sind da, nun gilt es nur noch zu klären, zu erforschen, was es mit ihnen auf sich hat. Es könnte in seiner Mordlust auch an ihrem Ende stehen, einen gewissen Überdruss am aufreihenden enzyklopädischen Prinzip signalisieren. In Wirklichkeit steht es, dem alphabetischen Prinzip folgend, so ziemlich in der Mitte von "Raoul Tranchirers Bemerkungen über die Stille". Wir haben uns getäuscht.
" Diese Wortkette, auf die Sie anspielen, ist ja spielerisch hergestellt. Es sind ja Verweise, für den Betrachter zunächst völlig irrsinnige Verweise, wahnwitzige Verweise. Man könnte eine Kette bilden aus diesen Worten, die ich da aneinandergefügt habe, und man würde daraus eine Geschichte machen. Aber hier habe ich es dabei belassen, auch nicht als erster in der Literatur überhaupt, nur die Substantiva stehen zu lassen."
Der Ratsuchende oder der Wissensdurstige wird in dieser Enzyklopädie ebenso düpiert wie der vorschnell Interpretierende, das wissen ihre unerschrockenen Leser schon lange. Sie werden dafür entschädigt mit einer Wirklichkeit, die Tranchirer eigens für sie hergestellt hat, wenn auch nicht allein, dazu gleich mehr. Es ist eine Wirklichkeit, die von den beigefügten Collagen inspiriert zu sein scheint, wenn die Collagen nicht das Ergebnis von Tranchirers Forschungen sind, das könnte auch sein. Es ist Zeit für einen kleinen Rückblick.
" Ich habe an dieser Enzyklopädie, wie ich sie nenne, ja seit 1959 gearbeitet, immer neben meinen anderen Arbeiten, mal mehr, mal weniger. Und ich habe dem Autor, der dort am Werk ist, den Namen Raoul Tranchirer verpasst. Ich habe ihn erfunden, weil Tranchirer einer ist, der alles behaupten kann, was er behaupten will. Er kann auch das Gegenteil behaupten. Gegen Ende zu wird der enzyklopädische Gedanke, der in diesen Büchern steckt, es sind ja mittlerweile sechs, immer mehr zum Selbstzweck. D.h. Tranchirer bemerkt, dass eine Enzyklopädie gar nicht abschließbar ist, das sie immer weiter geht , immer weiter geführt werden müsste. Aber er will für sich selbst zum Ende kommen, und auf diese Weise entsteht eine sehr viel persönlichere Ansicht bestimmter Dinge. Es ist tatsächlich so, dass hier ein Übergang wieder gesucht wird, vom Autor und das bin diesmal ich, von der Enzyklopädie zum Erzählerischen, zur Prosa hin."
Nun ist es heraus: dies ist der Abschlussband der "Enzyklopädie für unerschrockene Leser". In ihm kommt auch eine Entwicklung zu ihrem Ende, die sich in ihrer langen Entstehungszeit allmählich und gleitend vollzogen hat: von den parodistischen Anfängen hin zu einer dichterischen Prosa, die nicht mehr weit entfernt ist von den ebenso kurzen wie dauerhaften Prosakunststücken des Autors Ror Wolf. Jetzt aber, am Ende der enzyklopädischen Arbeit, wird das gesamte Personal der Tranchirerschen Wirklichkeitsfabrik noch einmal zusammengerufen.
Er hat sich eine ganze Reihe von namhaften Mitarbeitern erfunden, und er hat sich einen Gegenspieler erfunden, das ist Klomm. Und dieser Klomm behauptet von allem, was Tranchirer behauptet, das Gegenteil. Das muss so sein. Er ist der Feind, der aber leicht zu vernichten ist, denn Tranchirer steht nicht allein. Tranchirer hat eine ganze Reihe von jüngeren oder gleichaltrigen Mitarbeitern, die ihn schätzen, die ihn mögen, die ihn vertreten und verteidigen. Er wiederum zeigt sich den Mitarbeitern gegenüber freundlich, in dem er sie immer wieder zitiert und sie in der Wirklichkeitsfabrik zusammenführt zu Herrenabenden usw. Klomm ist eigentlich nie eingeladen, kommt aber trotzdem. ... Und am Ende, Tranchirer hat sich zurückgezogen, und zwar endgültig zurückgezogen, das bekräftige ich, der Autor, hiermit, ich glaube in den 40. Stock eines Hochhauses in Chicago, übernimmt Collunder die Leitung der Wirklichkeitsfabrik, schreibt ein Nachwort und erklärt eine unabschließbare Enzyklopädie für abgeschlossen, endgültig abgeschlossen.
Tranchirer, der ja auch die Moritatendichtung wesentlich bereichert hat, nimmt seinen Abschied. Und in diesem melancholischen Moment stellt sich die bange Frage, ob der gesamte Bereich der Kurzprosa mit ihm nach Chicago gegangen ist.
" Er nimmt nicht die gesamte Kurzprosa mit. Die Kurzprosa geht wieder zurück an Ror Wolf, der wird sich weiter damit beschäftigen. Er nimmt die enzyklopädische Kurzprosa mit. Tranchirer, das ist ja nun unschwer zu erkennen, ist ein Alter Ego des Autors, und wenn er jetzt freigestellt wird oder in Pension geht oder verschwindet aus dem Sichtbereich, dann hat der Autor selbst, also ich, Ror Wolf, immer noch die Aufgabe weiterzumachen. Ich glaube, ich werde mich bis zum Ende nicht von der kurzen Form ganz trennen. Ich finde auch, dass ich nicht nur eine Neigung, sondern auch die Fähigkeit habe, in der kurzen Form einen längeren Zusammenhang zusammenzufassen."
Die kurze Form und der längere Zusammenhang, der ausschweifende, unabschließbare lexikalische Zusammenhang und die Lakonie der einzelnen Artikel, damit sind auch zwei der Stützpfeiler genannt, die dieses umfangreiche enzyklopädische Gebäude tragen. Was aber hat den Autor veranlasst, es jetzt, mit diesem Buch, abzuschließen?
" Einfach die Lebenssituation, in der ich mich befinde. Ich bin in einem Alter, in dem man bestimmte Dinge fertig zu machen hat. Ich habe ja, wie Sie wissen, lange an dem Thema Fußball gearbeitet, bis 1982. Und dann habe ich gesagt, hiermit ist das Thema für mich beendet. Und ich habe dieses Versprechen, das ich dem Leser gegeben habe, eingehalten bis heute. Und ebenso ist es hier, es muss einen Abschluss haben, ich muss frei werden für meine anderen Arbeiten. Ich habe noch einen Roman zu schreiben in den nächsten Jahren. Ich habe noch einen Band mit Gedichten vorzubereiten und fertig zu machen. Ich habe noch einen Band mit nachgelassenen Prosatexten fertig zu machen. Ich möchte auch noch gern ein Hörspiel machen. Alles das werde ich nicht schaffen, aber ich werde es versuchen."
Das sind gute Gründe. Man wird sie akzeptieren können und müssen. Und mir verbleibt nur noch die Aufgabe, dem geneigten Leser diesen letzten Band der Enzyklopädie ans Herz zu legen und ihn für seine Treue mit einem Stichwort des Bandes als Vorschau zu belohnen. Selbstverständlich heißt es Neigung.
Neigung
Alles was sich bewegt hat die Neigung, diese Bewegung einzustellen, sich hinzusetzen, niederzulegen und zur Ruhe zu kommen. Dagegen hat alles was sich nicht bewegt, sich also in Ruhe befindet, die Neigung, in Bewegung zu kommen, das Haus zu verlassen und fortzugehen. - Die Mitglieder der Enzyklopädischen Gesellschaft, die monatlich zu einem Gedankenaustausch in den Gesellschaftsräumen der Wirklichkeitsfabrik zusammentreffen, stimmen mir in diesem Punkt uneingeschränkt zu. Lediglich Jorgenzeitz äußert gewisse Zweifel. Das soll uns aber nicht weiter beschäftigen, zumal wir gerade aufstehen, uns voneinander verabschieden und in verschiedene Richtungen verschwinden.
Ror Wolf: Raoul Tranchirers Bemerkungen über die Stille
Schöffling & Co. 2005, geb, 157 S. mit zahlreichen Collagen, EUR : 19,90
Siehe: Wortlust. Wortdurst. Wortwurst. Wutschminken. Toilettengeheimnisse. Herrengesänge. Charaktergemüse. Kindermehl. Dosenboden. Nackenknacken. Röckerascheln. Grübelzwang. Grabenschlitze Satzritzen. Schlachtmüll. Verkehrslücken. Achselgrubenschweiß. Wagenwaschanlagen. Beleuchtungswesen. Lokomotivschuppen. Artilleriekasernen. Scheibenwischerwasser. Auspuffgeräusche. Bremsgeräusche. Aufprallgeräusche. Ackerränder. Fleischlappen. Wolkenknoten. Kältepfropfen. Hutfutter.
Dieses Stichwort, das nur aus Stichworten besteht, könnte in seiner Wortlust am Anfang von Ror Wolfs großer "Enzyklopädie für unerschrockene Leser" stehen. Die Worte sind da, nun gilt es nur noch zu klären, zu erforschen, was es mit ihnen auf sich hat. Es könnte in seiner Mordlust auch an ihrem Ende stehen, einen gewissen Überdruss am aufreihenden enzyklopädischen Prinzip signalisieren. In Wirklichkeit steht es, dem alphabetischen Prinzip folgend, so ziemlich in der Mitte von "Raoul Tranchirers Bemerkungen über die Stille". Wir haben uns getäuscht.
" Diese Wortkette, auf die Sie anspielen, ist ja spielerisch hergestellt. Es sind ja Verweise, für den Betrachter zunächst völlig irrsinnige Verweise, wahnwitzige Verweise. Man könnte eine Kette bilden aus diesen Worten, die ich da aneinandergefügt habe, und man würde daraus eine Geschichte machen. Aber hier habe ich es dabei belassen, auch nicht als erster in der Literatur überhaupt, nur die Substantiva stehen zu lassen."
Der Ratsuchende oder der Wissensdurstige wird in dieser Enzyklopädie ebenso düpiert wie der vorschnell Interpretierende, das wissen ihre unerschrockenen Leser schon lange. Sie werden dafür entschädigt mit einer Wirklichkeit, die Tranchirer eigens für sie hergestellt hat, wenn auch nicht allein, dazu gleich mehr. Es ist eine Wirklichkeit, die von den beigefügten Collagen inspiriert zu sein scheint, wenn die Collagen nicht das Ergebnis von Tranchirers Forschungen sind, das könnte auch sein. Es ist Zeit für einen kleinen Rückblick.
" Ich habe an dieser Enzyklopädie, wie ich sie nenne, ja seit 1959 gearbeitet, immer neben meinen anderen Arbeiten, mal mehr, mal weniger. Und ich habe dem Autor, der dort am Werk ist, den Namen Raoul Tranchirer verpasst. Ich habe ihn erfunden, weil Tranchirer einer ist, der alles behaupten kann, was er behaupten will. Er kann auch das Gegenteil behaupten. Gegen Ende zu wird der enzyklopädische Gedanke, der in diesen Büchern steckt, es sind ja mittlerweile sechs, immer mehr zum Selbstzweck. D.h. Tranchirer bemerkt, dass eine Enzyklopädie gar nicht abschließbar ist, das sie immer weiter geht , immer weiter geführt werden müsste. Aber er will für sich selbst zum Ende kommen, und auf diese Weise entsteht eine sehr viel persönlichere Ansicht bestimmter Dinge. Es ist tatsächlich so, dass hier ein Übergang wieder gesucht wird, vom Autor und das bin diesmal ich, von der Enzyklopädie zum Erzählerischen, zur Prosa hin."
Nun ist es heraus: dies ist der Abschlussband der "Enzyklopädie für unerschrockene Leser". In ihm kommt auch eine Entwicklung zu ihrem Ende, die sich in ihrer langen Entstehungszeit allmählich und gleitend vollzogen hat: von den parodistischen Anfängen hin zu einer dichterischen Prosa, die nicht mehr weit entfernt ist von den ebenso kurzen wie dauerhaften Prosakunststücken des Autors Ror Wolf. Jetzt aber, am Ende der enzyklopädischen Arbeit, wird das gesamte Personal der Tranchirerschen Wirklichkeitsfabrik noch einmal zusammengerufen.
Er hat sich eine ganze Reihe von namhaften Mitarbeitern erfunden, und er hat sich einen Gegenspieler erfunden, das ist Klomm. Und dieser Klomm behauptet von allem, was Tranchirer behauptet, das Gegenteil. Das muss so sein. Er ist der Feind, der aber leicht zu vernichten ist, denn Tranchirer steht nicht allein. Tranchirer hat eine ganze Reihe von jüngeren oder gleichaltrigen Mitarbeitern, die ihn schätzen, die ihn mögen, die ihn vertreten und verteidigen. Er wiederum zeigt sich den Mitarbeitern gegenüber freundlich, in dem er sie immer wieder zitiert und sie in der Wirklichkeitsfabrik zusammenführt zu Herrenabenden usw. Klomm ist eigentlich nie eingeladen, kommt aber trotzdem. ... Und am Ende, Tranchirer hat sich zurückgezogen, und zwar endgültig zurückgezogen, das bekräftige ich, der Autor, hiermit, ich glaube in den 40. Stock eines Hochhauses in Chicago, übernimmt Collunder die Leitung der Wirklichkeitsfabrik, schreibt ein Nachwort und erklärt eine unabschließbare Enzyklopädie für abgeschlossen, endgültig abgeschlossen.
Tranchirer, der ja auch die Moritatendichtung wesentlich bereichert hat, nimmt seinen Abschied. Und in diesem melancholischen Moment stellt sich die bange Frage, ob der gesamte Bereich der Kurzprosa mit ihm nach Chicago gegangen ist.
" Er nimmt nicht die gesamte Kurzprosa mit. Die Kurzprosa geht wieder zurück an Ror Wolf, der wird sich weiter damit beschäftigen. Er nimmt die enzyklopädische Kurzprosa mit. Tranchirer, das ist ja nun unschwer zu erkennen, ist ein Alter Ego des Autors, und wenn er jetzt freigestellt wird oder in Pension geht oder verschwindet aus dem Sichtbereich, dann hat der Autor selbst, also ich, Ror Wolf, immer noch die Aufgabe weiterzumachen. Ich glaube, ich werde mich bis zum Ende nicht von der kurzen Form ganz trennen. Ich finde auch, dass ich nicht nur eine Neigung, sondern auch die Fähigkeit habe, in der kurzen Form einen längeren Zusammenhang zusammenzufassen."
Die kurze Form und der längere Zusammenhang, der ausschweifende, unabschließbare lexikalische Zusammenhang und die Lakonie der einzelnen Artikel, damit sind auch zwei der Stützpfeiler genannt, die dieses umfangreiche enzyklopädische Gebäude tragen. Was aber hat den Autor veranlasst, es jetzt, mit diesem Buch, abzuschließen?
" Einfach die Lebenssituation, in der ich mich befinde. Ich bin in einem Alter, in dem man bestimmte Dinge fertig zu machen hat. Ich habe ja, wie Sie wissen, lange an dem Thema Fußball gearbeitet, bis 1982. Und dann habe ich gesagt, hiermit ist das Thema für mich beendet. Und ich habe dieses Versprechen, das ich dem Leser gegeben habe, eingehalten bis heute. Und ebenso ist es hier, es muss einen Abschluss haben, ich muss frei werden für meine anderen Arbeiten. Ich habe noch einen Roman zu schreiben in den nächsten Jahren. Ich habe noch einen Band mit Gedichten vorzubereiten und fertig zu machen. Ich habe noch einen Band mit nachgelassenen Prosatexten fertig zu machen. Ich möchte auch noch gern ein Hörspiel machen. Alles das werde ich nicht schaffen, aber ich werde es versuchen."
Das sind gute Gründe. Man wird sie akzeptieren können und müssen. Und mir verbleibt nur noch die Aufgabe, dem geneigten Leser diesen letzten Band der Enzyklopädie ans Herz zu legen und ihn für seine Treue mit einem Stichwort des Bandes als Vorschau zu belohnen. Selbstverständlich heißt es Neigung.
Neigung
Alles was sich bewegt hat die Neigung, diese Bewegung einzustellen, sich hinzusetzen, niederzulegen und zur Ruhe zu kommen. Dagegen hat alles was sich nicht bewegt, sich also in Ruhe befindet, die Neigung, in Bewegung zu kommen, das Haus zu verlassen und fortzugehen. - Die Mitglieder der Enzyklopädischen Gesellschaft, die monatlich zu einem Gedankenaustausch in den Gesellschaftsräumen der Wirklichkeitsfabrik zusammentreffen, stimmen mir in diesem Punkt uneingeschränkt zu. Lediglich Jorgenzeitz äußert gewisse Zweifel. Das soll uns aber nicht weiter beschäftigen, zumal wir gerade aufstehen, uns voneinander verabschieden und in verschiedene Richtungen verschwinden.
Ror Wolf: Raoul Tranchirers Bemerkungen über die Stille
Schöffling & Co. 2005, geb, 157 S. mit zahlreichen Collagen, EUR : 19,90