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Rasantes Tauwetter

Die Spannungen zwischen Russland und der Ukraine unter Viktor Juschtschenko waren offensichtlich. Seit nunmehr knapp drei Monaten ist der pro-russische Staatschef Viktor Janukowitsch an der Macht und das Verhältnis zwischen beiden Staaten hat sich eklatant verändert.

Von Robert Baag |
    Die Tumulte in der Verchovna Rada, dem ukrainischen Parlament, vor knapp drei Wochen, sind verhallt. 25 Jahre Liegerechte für die russische Schwarzmeerflotte im ukrainischen Marine-Stützpunkt Sewastopol gegen eine stattliche 40-Milliarden-Dollar-Finanzspritze aus Moskau sind rechtlich abgesegnet - hier wie dort: Ein rasanter, und überraschender Neustart in den ukrainisch-russischen Beziehungen, Blitz-Tauwetter nach einem halben Jahrzehnt politischer Frostperiode zwischen den beiden größten slawischen Nachbarstaaten der ehemaligen UdSSR. Und noch nicht einmal ein Monat wird vergangen sein, wenn ab heute Russlands Präsident Dmitrij Medvedev erneut für zwei Tage bei seinem Amtskollegen Viktor Janukovytsch in Kiew zu Besuch sein wird. Nicht nur die im Februar abgewählte orangefarbene Opposition ist deshalb voller Argwohn. Sie wirft Janukovytsch seit dem Handel "Flottenstützpunkt gegen billigeres Gas aus Russland" den Ausverkauf nationaler Interessen vor. Doch Vladimir Kornilov, Direktor der Kiewer Filiale des "Instituts für die Länder der GUS", der Ex-Sowjetrepubliken also, rät, sich zu entspannen:

    "Es ist kaum zu erwarten, dass schon am 17., 18. Mai irgendwelche entscheidende weitere Durchbrüche erzielt werden - übrigens auch nicht im Zusammenhang mit dieser im Vorfeld so aufgeregt diskutierten Idee, die russische Firma GASPROM mit dem ukrainischen Partner NAFTOHAZ zu einer Firma zusammenzulegen."

    Diesen jüngsten, als verdeckte Übernahme des ukrainischen Erdgas-Pipelinesystems bewerteten Vorschlag des russischen Premierministers Putin hatte kein anderer als Janukovytsch selbst postwendend als Spontanvorschlag des Russen heruntergespielt und seinerseits gescherzt, dass die ukrainische Seite dann ja wohl sicherlich 50 Prozent der Anteile von GAZPROM, dem russischen Energieriesen, erhalten würde.

    Auch wenn heute tatsächlich niemand in diesem Bereich mit weitergehenden unterschriftsreifen russisch-ukrainischen Abkommen rechnet, wird Moskau mittel- bis langfristig an derlei Begehrlichkeiten wohl festhalten. Konstantin Simonov, Direktor des Moskauer Fonds für nationale Energiesicherheit, stellt dabei den Bezug her zu der jüngsten, international als sensationell empfundenen 40-Milliarden-Dollar-Finanzspritze an Kiew:

    "Ich glaube nicht, dass wir für die Schwarzmeer-Flotte bezahlen! Wir zahlen vielmehr dafür, dass sich die Ukraine künftig zivilisiert benimmt. Und zwar mindestens solange, bis die Southstream-Pipeline in Betrieb geht, an der Ukraine vorbei. Im Hinterzimmer sagen wir der Ukraine jetzt: 'Ja, Kinder, wir zahlen 40 Milliarden und nennen es: Geld für die Flotte. Aber in Wirklichkeit - und darüber müsst Ihr euch im Klaren sein - sind wir dabei, Southstream zu bauen. Treibt also keinen Unfug und klaut uns jetzt wenigstens kein Gas!' - Übrigens ist das der Grund, weshalb die sogenannten Char'kower Abkommen vom April jährlich erneuert werden müssen - auch zwischen GASPROM und NAFTOHAZ."

    Simonov warnt seine russische Seite vor Illusionen:

    "Sowohl bis vor kurzem die Orangenen in der Ukraine als auch die neue Macht dort - die ja eigentlich seit Ex-Präsident Kutschmas Zeiten eine alte Macht ist - jeder hat es immer trefflich verstanden, diesen Hebel einzusetzen. Wir werden deshalb immer misstrauisch sein, dass dies erneut passieren könnte. Nicht umsonst reden die Ukrainer davon, dass die Pipelines für sie eine Heilige Kuh seien. Sie wissen doch, dass dieses Röhrensystem das letzte ihnen verbliebene Instrument ist, mit dem sie in der Realität noch Druck auf uns in Russland ausüben können."

    Diejenigen Moskauer wie Kiewer Beobachter, die Präsident Janukovytsch nach noch nicht einmal einem Viertel Jahr im Amt als Sachwalter ausschließlich russischer Interessen bezeichnen, sind weiterhin in der Minderheit. Die Mehrheit glaubt vielmehr, dass die hinter Janukowytsch stehenden ukrainischen Oligarchen aber auch russische Unternehmer, die seit Langem ihr Kapital in die ukrainische Chemie- und Luftfahrtindustrie, in den Agrarsektor, den Kohlebergbau oder in das Hüttenwesen der Ukraine investiert haben, alle zusammen an einer funktionsfähigen Drehscheiben-Funktion dieses Landes zwischen Ost und West interessiert sind. Der Kiewer Politologe Volodymyr Fesenko:

    "Man wird versuchen, Balance zu halten zwischen Europa und Russland. Im Augenblick liegt nach objektiven Gesetzmäßigkeiten der Akzent in Richtung Russland. Bis zu welcher Grenzlinie, das ist bereits eine andere Frage. Die Antwort darauf sucht Janukovytsch wohl noch selbst."