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Rassismus
Eine andere Geschichte der USA

Der Tod des 17-jährigen Afroamerikaners Trayvon Martin hat 2012 in den USA die Debatte um Rassismus wieder aufflammen lassen. Der unbewaffnete Junge war von einem Polizisten erschossen worden. Was dieser und andere Fälle über die Geschichte der USA aussagen, hält der Historiker Ibram X. Kendi in seinem Buch "Gebrandmarkt" fest.

Von Arlette-Louise Ndakoze |
    Cover: Ibram X. Kendi: Gebrandmarkt
    Cover: Ibram X. Kendi: Gebrandmarkt (C. H. Beck / dpa)
    Der deutsche Untertitel irritiert. Nicht von Wahrheit spricht das Original, auch nicht von Rassismus allgemein, sondern von einer klar umrissenen Geschichte rassistischer Ideen in den USA.
    "Meine Definition einer rassistischen Idee ist einfach: Es ist jegliche Vorstellung, die eine bestimmte Gruppe als einer anderen ethnischen Gruppe unterlegen oder überlegen betrachtet. Ich definiere schwarzenfeindliche rassistische Ideen - den Gegenstand dieses Buches - als Vorstellungen und Gedanken jeder Art, nach denen schwarze Menschen in irgendeiner Weise geringerwertig sind als eine andere ethnische Gruppe von Menschen."
    Rassistische Ideen, so der Geschichtsprofessor weiter, gründeten nicht unbedingt auf Hass und Unwissen. Wer sie ausspricht, verstünde es meist, seine Absichten zu verschleiern. Die da wären: herrschende ethnische Diskriminierungen zu rechtfertigen. Aus rassistischen Ideen entstünden Unwissen und Hass, nicht umgekehrt. Zu diesem ungewöhnlichen Schluss kommt Ibram X. Kendi am Ende seiner Recherche. Das macht an diesem Punkt wiederum Sinn, denn in "Gebrandmarkt" geht es um die Ideengeschichte der Mächtigen.
    Das vermeintliche Brandmal
    Den Begriff "Gebrandmarkt" entnimmt er einer Rede von Jefferson Davis, der 1861 Präsident der Südstaaten wurde. Darin hatte er gegen ein Gesetz geeifert, das die Bildungsförderung für Schwarze anstrebte.
    "'Diese Regierung wurde nicht von Negern für Neger geschaffen', sondern 'von weißen Männern für weiße Männer', belehrte er seine Kollegen. Das Gesetz gründe auf der falschen Vorstellung von rassischer Gleichstellung, erklärte er. Die 'Ungleichheit der weißen und der schwarzen Rasse' sei 'ein Brandmal von Geburt an'".
    Die Äußerung begreift Ibram X. Kendi als Segregationismus. Deren Anhänger unterstützen die Rassentrennung. Daneben macht der Autor die Assimilationisten aus, die zwar für Schwarze eintreten, dabei aber rassistisch argumentierten. Antirassisten versuchten, beide Ausprägungen des Rassismus zu bekämpfen.
    Evolutions- und Menschheitstheorien
    Die Begriffsklärung macht die Fülle an Theorien und Ereignissen aus 600 Jahren rassistischer Ideengeschichte zugänglich, die der Historiker Kendi methodisch zusammenfasst. Wie sich die Begriffe voneinander abheben, zeigt er anhand von Charles Darwins Evolutionstheorie:
    "Einerseits sprach er davon, dass Zitat: 'die Rassen [...] allmählich ineinander übergehen und dass es kaum möglich ist, scharfe Unterscheidungsmerkmale zwischen ihnen aufzufinden', andererseits befand er, Zitat: 'Die Eingeborenen von Amerika, die Neger und die Europäer weichen voneinander ihrem Geiste nach so weit ab, als irgend drei Rassen, die man nur nennen könnte'".
    Im Buch "Die Abstammung des Menschen" von 1871 führt Darwin aus, was heute unter "Sozialdarwinismus" bekannt ist. Er spricht von zivilisierten Rassen, die in ferner Zukunft die, Zitat, "wilden Rassen ausgerottet und ersetzt haben" werden.
    "Sowohl Assimilationisten wie Segregationisten nahmen die 'Abstammung des Menschen' begeistert auf. Die Assimilationisten lasen Darwin und behaupteten, er habe gesagt, dass Schwarze sich eines Tages zu einer weißen Zivilisation entwickeln könnten; die Segregationisten lasen ihn und behaupteten, er habe gesagt, Schwarze seien zum Aussterben verurteilt."
    Rassistische Ideen kreisten laut Kendi stets um die Frage, wie die Menschheit entstand. Die dominante Theorie ist die Monogenese. Sie kommt aus der Bibel und besagt, dass die Menschen von Adam und Eva abstammen. Anhänger der Polygenese wie Darwin meinten, die Menschheit habe sich auf verschiedenen Erdteilen parallel entwickelt. Klimatheoretiker schließlich unterteilten Ethnien nach Klimazone und Rangordnung - ein prominenter Vertreter war Aristoteles.
    "Für Aristoteles waren die Griechen durch ihr ideales mittleres Klima die schönsten und begabtesten Menschen und die überlegenen Herrscher und Sklavenhalter der Welt. Es sei ein, Zitat: 'allgemeines Naturgesetz', schreibt er im ersten Buch der 'Politik', dass, Zitat 'gleich von Anbeginn des Daseins [...] die Elemente auseinander [treten], die einen auf die gehorchende, die anderen auf die gebietende Seite'."
    Ein Mahnmal für Zivilisationen
    Kendi führt die bedeutenden Ereignisse aus, die die rassistische Ideengeschichte der USA begleiteten: die Versklavung von Afrikanern, die Kolonisierung Nordamerikas, die Gründung der USA, die Abschaffung der Sklaverei und die Entstehung afroamerikanischer Bürgerrechtsbewegungen. Ein Netz aus Buchdruck, Übersetzungen und Institutionen brachte die jeweiligen Ideen in Umlauf. Dazu passt, dass die Gründerväter der USA Menschen des Wortes waren, nämlich Prediger und Gelehrte. Es erklärt auch den tosenden Erfolg, den Harriet Beecher Stowes Roman über die Sklaverei, "Onkel Toms Hütte", 1852 bekam.
    "Mit einem Roman erreichte Stowe auf glanzvolle Weise das, was Garrison etwa drei Jahrzehnte lang mit einem Artikel nach dem anderen in 'The Liberator' angestrebt hatte. [...] Sie stellte Cotton Mather auf den Kopf - und mit ihm all die Prediger, die Jahre damit verbracht hatten, Plantagenbesitzer davon zu überzeugen, dass das Christentum aus Schwarzen bessere Sklaven mache. Da unterwürfige Schwarze die besten Sklaven seien, seien sie auch die besten Christen, sagte sie."
    Ibram X. Kendis dichte Recherche und scharfe Analysen münden in einen flüssigen, oft romanesken Schreibstil. Das macht ihre Sogkraft aus. Es beeindruckt, wie der Historiker Namen der Menschheitsgeschichte entmystifiziert, etwa Aufklärer Deutschlands, Englands und Frankreichs. Hier greift die Maxime der Geschichtswissenschaft: Hinterfrage den Autor der Quelle, den Menschen mit seiner Biographie, seiner Betroffenheit. Ibram X. Kendi beginnt bei sich.
    "Irgendwie schaffte ich es, dieses Buch zu schreiben, während Trayvon Martin und Rekia Boyd und Michael Brown und Freddie Gray und die Charleston 9 und Sandra Bland litten und starben; ihr Leiden und ihr Tod sind das Resultat der amerikanischen Geschichte und der rassistischen Ideen in den Köpfen der Menschen, genau wie dieses Buch der Geschichte rassistischer Ideen das Resultat dieser Todesfälle ist."
    "Gebrandmarkt" ist in den USA im April 2016 erschienen, vor dem Ende von Barack Obamas Amtszeit. Dabei stand das nächste Kapitel amerikanischer Geschichte noch bevor: Die Wahl Donald Trumps trieb den Rassismus weiter voran. "Gebrandmarkt" erklärt unwillkürlich, wie es dazu kam. Für die USA wie auch für Gesellschaften weltweit ist Ibram X. Kendis Buch ein Mahnmal.
    Ibram X. Kendi: "Gebrandmarkt. Die wahre Geschichte des Rassismus in Amerika"
    C.H. Beck Verlag, 604 Seiten, 34 Euro.