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Rassismus in den USA
Kulturkampf ums Geschichtsbild

Der Streit um den Umgang mit rassistischer Vergangenheit wird in den USA zunehmend schärfer. Während sich die einen kritisch mit der US-Geschichte auseinandersetzen wollen, fühlen sich die anderen in ihrer Kultur bedroht. Ein Kompromiss scheint ausgeschlossen.

Von Doris Simon |
Mehrere Demonstraten diskutieren und gestikulieren miteinander, umringt von Kameras.
Bei einer Demonstration von weißen Nationalisten in Long Beach im US-Bundesstaat Californien kam es zu Zusammenstößen mit Gegendemonstranten. (Ron Lyon/IMAGO/ZUMA Wire)
Betty Pilcher gehört zu denjenigen, die ihren kleinen Ort in der Mitte Amerikas am Leben erhalten: Die freundliche ältere Dame engagiert sich im Stadtrat, kümmert sich um Nachbarn, die noch älter sind als sie und trägt als Kosmetikerin ihren Teil zur Verschönerung des ländlichen Kansas bei. Bei einem Thema ist Betty allerdings gleich auf 180: Wenn es um den Geschichtsunterricht geht: Die Regierung in Washington, die Linken, die würden nur über das Schlechte reden, immer nur der Blick zurück.
Ein Schwarzweißfoto zeigt Straßenzüge gesäumt von Schutt und verkohlten Mauerresten, im Hintergrund sind Häusergerippe zu erkennen.
Das Massaker von Tulsa – bis heute nicht aufgearbeitet
Sie gipfelte am 1. Juni 1921 in Tulsa, Oklahoma, als ein weißer Mob Hunderte Afroamerikaner ermordete. Aufgearbeitet ist das Geschehen noch immer nicht.
"Geschichte ist Geschichte. Und wir hatten eine schlechte Geschichte in diesem Land. Ja, wir haben Verträge mit unseren Indianern gebrochen. Wir hatten Sklaverei, aber das haben wir hinter uns gelassen. Und wir sollten uns vorwärts bewegen und nicht immer wieder die Vergangenheit heraufbeschwören", sagt Betty Pilcher. So wie sie denken viele eher konservative Amerikaner. Sie haben das Gefühl, alles werde schlecht gemacht - ihr Land und alles, auf das sie stolz sind.

Geschichte aus weißer Perspektive

Sie können oder wollen nicht verstehen, dass schwarze und andere US-Bürger sich oft ausgeschlossen fühlen im Unterricht, wenn die Geschichte der Vereinigten Staaten vor allem aus weißer Perspektive dargestellt wird. Viele Schulen haben seit dem Jahr 2020 versucht, Schülern nahe zu bringen, wie Rasse und Rassismus Amerikas rechtliche und soziale Systeme beeinflusst haben und welche Auswirkungen dies heute noch hat. Schwierig in einem Land, in dem viele nicht anerkennen, dass es 2021 immer noch Rassismus gibt.
Menschen als Silhouetten vor einem brennenden Geschäft, das im Zuge der Unruhen in Brand gesteckt wurde.
US-Experte - "Die USA sind eine extrem gewaltbereite Gesellschaft"
Berechtigte Proteste wandelten sich in den USA häufig in Gewalt, sagte der USA-Experte Michael Dreyer im Dlf. Diese sei bei Ausschreitungen auf beiden Seiten vorhanden – bei Demonstranten und Polizei.
In einer Gegenbewegung hat seither der Druck auf Schulen enorm zugenommen. Zum Beispiel im wohlhabenden Loudoun County, eine Stunde außerhalb von Washington, wo Gegner seit Monaten die Rückkehr zum traditionellen Geschichtsunterricht fordern.
Eine Gegnerin sagt: "Sagen Sie meiner Tochter nicht, was sie denken soll. Sagen Sie meiner Tochter nicht, was sie sagen soll. Das ist nicht die Aufgabe der Schule. Das ist mein Job und meine Entscheidung."

Kritische Auseinandersetzung erschwert

20 republikanische Justizminister haben beim Bildungsministerium in Washington gegen Förderung protestiert für Projekte, die ethnisch, kulturell und sprachlich unterschiedliche Perspektiven in das Lernen einbeziehen und Projekte, die Informationskompetenz fördern. Zugleich verabschieden immer mehr republikanische Parlamente und Gouverneure Gesetze, die die kritische Auseinandersetzung mit der US-Geschichte erschweren oder unmöglich machen.
In Texas darf kein Lehrer Schüler verpflichten, sich im Geschichtsunterricht auch mit Texten oder Zeugnissen nicht-weißer Amerikaner auseinanderzusetzen. In Oklahoma, wo sich in dieser Woche das Massaker von Tulsa jährte, darf mit dem neuen Schuljahr kein Lehrer mehr Inhalte unterrichten, die Unbehagen, Schuldgefühle, Ängste oder irgendeine andere Form von psychologischem Kummer wegen Geschlechts oder Rasse auslösen.
Das sei kaum möglich, sagt Jeanette Jones, Geschichtslehrerin im ebenso konservativen Missouri. Geschichte sei nicht statisch. Schüler müssten nachdenken lernen über die anhaltenden Konsequenzen der Ereignisse der Vergangenheit, auch, wenn es weh tue.
People protest outside Los Angeles Mayor Garcetti's house after a guilty verdict was announced at the trial of former Minneapolis police Officer Derek Chauvin for the 2020 death of George Floyd, Tuesday, April 20, 2021, in Los Angeles. Former Minneapolis police Officer Derek Chauvin has been convicted of murder and manslaughter in the death of Floyd. (AP Photo/Ringo H.W. Chiu)
Gesellschaft in den USA - Struktureller Rassismus und weiße Privilegien
Struktureller Rassismus führe in den USA zu andauernder Benachteiligung schwarzer Bürger, so die Historikerin Britta Waldschmidt-Nelson im Dlf. An anderen Schaltstellen säßen zudem oft Anhänger rassistischer Ideologien.
"Vergangenheit ist nicht tot und vorbei, sondern geht weiter und beeinflusst unser tägliches Leben. Es liegt an allen, sie nicht nur zu erkennen, sondern dafür zu sorgen, dass sie nicht weitergeht."
Im Fokus konservativer Kritik steht die kritische Rassentheorie kurz CRT, ein Konzept, das davon ausgeht, dass Rassismus nicht die Schuld Einzelner ist, sondern aufrechterhalten wird von Systemen und Strukturen.
1619 ist der Titel eines vielbeachteten Medienprojekts der New York Times, das die US-Geschichte ab dem Datum untersucht, an dem versklavte Menschen zum ersten Mal auf amerikanischem Boden ankamen und dieses Jahr als Gründungsdatum des Landes markiert.

Angst vor Indoktrination

Konservative Aktivisten und Politiker haben diese Inhalte auf die Formel reduziert, Schulkinder sollten indoktriniert werden. Weißen Kindern werde eingetrichtert, sie seien als Rassisten geboren und blieben dies ein Leben lang, behauptet der Autor Ryan Girdusky.
Geschichte solle gelehrt werden, wie sie geschrieben wurde, fordert Girdusky. Öffentliche Schulen bezahlt mit Steuerzahlergeld, müssten Patriotismus fördern und dafür sorgen, dass die Bedeutung und Großartigkeit der USA fortgesetzt und nicht rückgängig gemacht werde.
Sie lehre nicht so sehr das Fach, sondern Fähigkeiten. Und die wichtigste Fähigkeit sei wahrscheinlich kritisches Denken, hält Geschichtslehrerin Jones dagegen. Ihre Haltung ist nah an dem, was Lehrer in vielen Bundesstaaten nicht mehr lehren sollen. In Utah fallen darunter auch soziale Gerechtigkeit, soziales emotionales Lernen und kritische Selbstreflexion, so erklärte es eine Mitarbeiterin der staatlichen Schulaufsicht auf Twitter.
Die schwierige Auseinandersetzung mit der Geschichte ihres Landes sei wie ein Traum, den viele Amerikaner wegwünschten, so, als habe es ihn nie gegeben, sagt Edward Smith, Professor im Ruhestand an der American University in Washington. Die Amerikaner lebten immer noch den Bürgerkrieg.

Politik stellvertretend für Kultur

Der Kampf für mehr Rassengerechtigkeit, sagt Smith, sei politisch und mit Gesetzen geführt worden. Eine breite gesellschaftliche Debatte, die strukturelle Unterdrückung und Rassismus zur Kenntnis nimmt, habe es in den Vereinigten Staaten bis heute nicht gegeben.
Der Soziologe James Davison Hunter befasst sich seit Jahrzehnten mit kulturellen Auseinandersetzungen in der US-Gesellschaft. Konservative Amerikaner sähen die aktuelle Auseinandersetzung als existenzielle Bedrohung ihrer Lebensweise und aller Dinge, die ihnen heilig seien. In der Politik könne man Kompromisse schließen, sagte der Soziologe dem Magazin Politico. Aber wenn Politik stellvertretend für Kultur stehe, dann seien Kompromisse nicht mehr möglich.