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Rassismus in der Weltliteratur
"Mit dem Tilgen von Begriffen ist nichts geleistet"

In vielen Klassikern springe Rassismus uns ganz unverhohlen entgegen, etwa in den philosophischen Schriften des Immanuel Kant, sagte der Literaturwissenschaftler Jürgen Wertheimer im Dlf. Doch darum Denkmäler zu stürzen, bringe nichts. Stattdessen müsse eine tiefgreifende Debatte geführt werden.

Jürgen Wertheimer im Gespräch mit Maja Ellmenreich |
William Shakespeare - eine zeitgenössische Darstellung des erfolgreichsten Bühnenautors aller Zeiten.
Auch Shakespeare? Manche Denkmalstürmer unterstellen auch ihm rassistisches Gedankengut, etwa in "Othello" (dpa / picture alliance)
In vielen Klassikern trete der Rassismus ganz unverhohlen zu Tage, sagte der Literaturwissenschaftler Jürgen Wertheimer im Dlf: Sei es in Euripides´ "Medea", in Shakespeares "Othello" oder Heinrich von Kleists "Verlobung von St. Domingo". Der Rassismus in der Literatur sei so etwas wie "eine zentrale Unterstimme der europäischen Hochliteratur", so der Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik an der Universität Tübingen.
Dossier: Rassismus
Dossier: Rassismus (picture alliance / NurPhoto / Beata Zawrzel)
Zwischen der Charakterisierung eines Menschen als Rassisten und dem Thematisieren rassistischer Strukturen gebe es allerdings einen gewaltigen Unterschied:
"Jeder, der rassistische Strukturen oder Themen oder Ereignisse oder Gefühle leugnet", so der Wissenschaftler, gehöre in die "gefährlichere Kategorie des Rassisten" eingeordnet.
Rassismus als politisches Instrument
Rassismus sei in der Gesellschaft immer latent vorhanden. Dieser Effekt spiegele sich dann auch in der Literatur wider. Zum Beispiel in Shakespeares "Othello", erläuterte Wertheimer in "Kultur heute". Seine Figur werde der Umgebung erst suspekt, als der Schwarze eine Tochter aus bestem venezianischem Hause heiraten will:
"In dem Moment schrillen die Alarmglocken, weil die Community argwöhnt, hier würden Vermischungen (...) entstehen."
Genau in diesem Augenblick springe der immer latent vorhandene Rassismus an die Oberfläche und werde zum politischen Instrument, sagte Wertheimer.
Eine Zeichnung von Immanuel Kant
Antirassistischer Denkmalsturm - Auch der Philosoph Immanuel Kant steht zur Debatte Nach den Antirassismus-Protesten weltweit hofft der Historiker Michael Zeuske auf einen kulturellen Wandel. Auch in Deutschland müsse über historische Persönlichkeiten wie den Philosophen Immanuel Kant neu diskutiert werden.
Auch der Philosoph Immanuel Kant, einer der wichtigen Philosophen der Aufklärung, wird gerade wegen seiner rassistischen Schriften kritisiert - nicht zum ersten Mal. Für Wertheimer gab es in der Geschichte Europas immer wieder ein Bedürfnis nach Abgrenzung voneinander. Das hatte Folgen:
"Ich würde sagen, der Rassismus ist aus Abgrenzungsnotwendigkeit entstanden und ist dann, als man entdeckt hat, dass es ein vorzügliches Herrschaftsinstrument ist, natürlich zum System ausgebaut worden." Demzufolge sei Kant "nur eine Stimme in diesem großen Diskurs" gewesen.
Literatur ist keine Sprachpolizei
Vor diesem Hintergrund sei "die wirklich gefährliche, aber unglaublich erfolgreiche Fiktion" der Weißen und ihres Anspruchs auf vermeintliche Überlegenheit, mit all den bekannten Worten, Mythen und Diskursen, zu sehen. Für Wertheimer ist es gut, "dass diese Diskussion jetzt aufbricht, dass man sie führt, dass man sie nicht umschleicht". Die Literatur sei dabei so etwas wie ein "Indikator für die Relevanz dieser Fragestellung". Keineswegs aber dürfe sie den Diskurs zum Anlass nehmen, um "als Sprachpolizei aufzutreten", findet der Literaturwissenschaftler: "Mit dem Tilgen von Begriffen ist nichts geleistet."
Neben dem Phänomen des Abgrenzungswunsches komme dann noch die Angst. Beide zusammen dienten als Verstärker von Rassismus.
"Sog des Traditionalismus"
Wie aber heute umgehen mit historischen Relikten? Kant nun "um einen Kopf kürzer zu machen", indem man ihn vom Sockel stürze, bringe nichts, so Wertheimer: "So viele Köpfe haben wir auch nicht, um uns das leisten zu können."
Stattdessen müsse jetzt die Debatte über die Bedeutung von Geschlecht, Abstammung, Sprache, Heimat, Herkunft und Religion geführt werden. Fragestellungen, an denen die Gesellschaft sich unter neuen und veränderten Vorzeichen abarbeiten müsse:
"Sonst erliegen wir dem Sog eines Traditionalismus, einer unreflektierten Verkettung an die Vergangenheit, einer neuen Mythologisierung oder Dämonisierung", warnte Wertheimer.