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Rassismus und Kolonialismus
Wie Portugal seine Vergangenheit aufarbeiten will

Portugal tut sich schwer mit der Aufarbeitung seiner Kolonialgeschichte und mit dem Kampf gegen Rassismus und Diskriminierung. Die afrikanischstämmige Bevölkerung fordert aber mehr Rechte ein. Nun hat die Regierung einen Plan vorgelegt.

Von Tilo Wagner |
Der große Kompass (1960), Belém; ein Geschenk der Republik Südafrika, das die Entdeckungen der Eroberer im 15. und 16. Jahrhundert verzeichnet
In Portugal sind die Entdeckungen Teil der Identität: Die Schattenseiten der Kolonialisierung werden oft noch ausgeblendet (picture alliance / Uta Poss)
Feierstunde im portugiesischen Parlament, Ende April dieses Jahres: Vertreter aus Politik und Gesellschaft gedenken der so genannten "Nelkenrevolution". Am 25. April 1974 hatte eine Gruppe von Offizieren das autoritäre Regime gestürzt, das Portugal fast ein halbes Jahrhundert lang regiert hatte. Es war der Beginn von Freiheit, Demokratie und europäischer Integration des Landes. Und gleichzeitig ein wichtiger Schritt, um den Krieg in den Kolonien zu beenden. Staaten wie Angola, Mosambik oder Guinea-Bissau kämpften zu jener Zeit gegen die Kolonialmacht Portugal und für ihre Unabhängigkeit.
Am Rednerpult im Parlament in Lissabon steht ein Mann, der wie kaum ein anderer die zwiespältige Geschichte Portugals seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts symbolisiert: Marcelo Rebelo de Sousa. Sohn des letzten Kolonialministers im autoritären Regime, Journalist und Gründungsmitglied der einflussreichen liberalen Wochenzeitung "Expresso". Ehemaliger Parteivorsitzender der größten liberal-konservativen Partei. Und schließlich seit 2016 Staatspräsident. Zum ersten Mal nutzt Rebelo de Sousa die Gedenkfeier am 25. April für eine tiefgreifende Reflexion über die portugiesische Kolonialgeschichte:
"Wir müssen Geschichte schreiben. Und wir müssen sie immer wieder neu schreiben. Daraus müssen wir lernen, ohne Furcht und ohne Komplexe. Und wir müssen unterschiedliche Interpretationen erlauben, denn wir leben nun mal in einer Demokratie. Aber die Gefühle, die diese Neuschreibung der Geschichte hervorruft, dürfen nicht zu einem Gefängnis werden und auch nicht für kurzlebige politische Kampagnen ausgenutzt werden. Denn das hilft uns nicht, die Geschichte zu verstehen und die Gegenwart und Zukunft neu zu denken."
Portugals Präsident Marcelo Rebelo de Sousa 
Portugals Präsident Marcelo Rebelo de Sousa (AFP/ Eric Feferberg)

Staatspräsident ruft zum Nachdenken über die Kolonialgeschichte auf

Staatspräsident Rebelo de Sousa fordert die Portugiesen in staatsmännischem Ton auf, über die Kolonialgeschichte ihres Landes offen nachzudenken, über Rassismus und Sklaverei, über die Leiden der Soldaten auf beiden Seiten des Kolonialkrieges, über immer noch nachwirkende Folgen wie Migration, Armut und Ausgrenzung.
Diese Rede war ein Novum und sei auf große Zustimmung gestoßen, sagt António Sousa Ribeiro, Leiter des einflussreichen sozialwissenschaftlichen Instituts CES der Universität Coimbra. Zwar werde ein kritischer Diskurs über die 500-jährige Kolonialgeschichte Portugals seit Jahrzehnten an den Hochschulen geführt. Doch die Mehrheit der Portugiesen, sagt Ribeiro, habe die portugiesische Fremdherrschaft etwa in Brasilien, in Angola oder im indischen Goa bisher nie wirklich hinterfragt:
"Die Vision, die die Diktatur in den Kolonien begleitete, hat weiterhin Gewicht, insbesondere der so genannte Lusotropikalismus, die Idee also, dass der portugiesische Kolonialismus ganz anders war, viel gutmütiger als alle anderen Kolonialherrschaften. Dieses Gedankengut ist weiter tief verwurzelt, sogar in den jüngeren Generationen. Dazu gehört auch die Vorstellung, dass es in Portugal keinen Rassismus gibt."
Die Schriftstellerin Isabela Figueiredo und ihr Buch „Roter Staub. Mosambik am Ende der Kolonialzeit"
Isabela Figueiredo: "Roter Staub" - Wenn der Vater ein Rassist ist
Isabela Figueiredo hat ein autobiografisches Buch über das Ende der portugiesischen Kolonialzeit in Mosambik geschrieben, das eine Debatte über Kolonialismus und Rassismus ausgelöst hat. Jetzt liegt es auf Deutsch vor.

Kolonialgeschichte und Rassismus werden breiter diskutiert

Die portugiesische Kolonialgeschichte und die Frage, wie das Land mit Rassismus umgeht, werden nun jedoch zunehmend zum Gegenstand breiterer Diskussionen. Und das hat mehrere Ursachen: Die weltweit geführten Debatten über Sklaverei, Kolonialisierung und Beutekunst spielen auch in der portugiesischen Öffentlichkeit eine größere Rolle, ähnlich verhält es sich mit anti-rassistischen Bewegungen wie Black Lives Matter. Außerdem hat das Land noch bis Ende Juni die EU-Ratspräsidentschaft inne und will auf europäischer Ebene auch im Kampf gegen Rassismus eine gute Figur machen.
Doch das hat auch politische Folgen: Die rechtspopulistische Partei Chega ist auf dem Vormarsch. Sie hat sich den Wahlspruch "Portugal ist nicht rassistisch" auf die Fahnen geschrieben. Und der Parteigründer André Ventura, der bei den Präsidentschaftswahlen im vergangenen Januar auf 11,9 Prozent der Stimmen kam, sieht keinen Grund, die portugiesische Geschichte neu zu bewerten
"Wir haben viel gegeben. Kultur, Infrastruktur, Schulen, soziale und religiöse Integration, das war im 16. und 17. Jahrhundert ganz wichtig. Das alles wird von diesen neuen Intellektuellen vergessen, die sagen, wir müssen als Gesellschaft Schuld auf uns laden und dafür geradestehen und eventuell sogar den Ländern, in denen wir präsent waren, Reparationszahlungen überweisen. Das ist doch lachhaft. Die Geschichte ist so wie sie ist, wir können sie nicht neu schreiben."
Das Entdeckerdenkmal Padrao dos Descobrimentos steht im Lissaboner Stadtteil Belem am Ufer des Flusses Tejo.
Portugal - Verklärter Blick auf Kolonialgeschichte
Portugal war eine der ersten Kolonialmächte und hielt länger an seinen Kolonien fest als andere europäische Staaten. Eine kritische Auseinandersetzung mit dieser Zeit steht noch aus.

Widerstand gegen verharmlosende Sicht auf die Kolonialgeschichte

Gegen diese Weltsicht regt sich jedoch Widerstand in der portugiesischen Gesellschaft. In den vergangenen Jahren haben Portugiesen mit afrikanischen Wurzeln und afrikanische Migranten zusammen mit Linksparteien und Anti-Rassismus-Organisationen ihre Positionen in der Öffentlichkeit deutlicher artikuliert. Und sie haben ein Projekt im Lissabonner Bürgerhaushalt verankern können, das neue Maßstäbe in der Erinnerungskultur setzen soll: Auf einem zentralen Platz am Tejo-Ufer soll das erste Mahnmal der Hauptstadt gebaut werden, das an die Opfer von Sklaverei und Rassismus erinnert. Denn im transatlantischen Handel von schätzungsweise elf Millionen afrikanischen Sklaven zwischen Europa, Westafrika und Amerika spielte Portugal eine ganz entscheidende Rolle. Die Diskussion um das Erbe des Kolonialreiches wird immer wichtiger, sagt der Politologe Riccardo Marchi von der Universität Lissabon:
"Es hat sich eine einflussreiche Bewegung afrikanischstämmiger Bürger herausgebildet, die Rechte einfordert, die eine politische Agenda hat und die eine Debatte über Erinnerung, über die Kolonialgeschichte und über strukturellen Rassismus in der portugiesischen Gesellschaft anstößt. Das sind alles Themen, die die alteingesessenen Parteien kaum oder gar nicht in der politischen Debatte haben wollen – einfach, weil es sehr heikle Punkte sind. Doch die Bewegung afrikanischstämmiger Bürger hat das Thema nun ins Zentrum der politischen Arena getragen."
Migranten in Lissabon vor einem Verkaufsstand
Das afrikanische Lissabon - Die Portugiesen zwischen Toleranz und Rassismus
Afrika spielt eine wichtige Rolle im Bewusstsein der Portugiesen. Insbesondere in Lissabon leben viele afrikanische Migranten und Portugiesen mit afrikanischen Wurzeln und prägen die Stadt. Doch latenter Rassismus ist ein Problem.
Die Folge ist eine zunehmende Polarisierung in der Öffentlichkeit und der Politik: Auf der einen Seite Rechtsextreme und Rechtskonservative mit ihrer verharmlosenden Sicht auf die portugiesische Geschichte; und auf der anderen Seite Aktivisten, die gegen Rassismus kämpfen und für eine rigorose Aufarbeitung der portugiesischen Kolonialgeschichte. Das verunsichert insbesondere die gemäßigte politische Führung des Landes, darunter auch Staatspräsident Marcelo Rebelo de Sousa:
"Jeder Schritt, den wir gehen, vergrößert die Versuchung, die Aufarbeitung der Geschichte für eine taktische, strategische oder politische Mobilisierung auszunutzen. In einer Zeit, in der im Alltag, im Gesundheitswesen, in der Wirtschaft und im Sozialen die Corona-Krise zu spüren ist, blicken wir mit wacher Ernsthaftigkeit auf etwas, das die politische Auseinandersetzung aufwühlen kann, aber das für die Portugiesen keine Dringlichkeit hat. In der aktuellen Krise hat die Aufarbeitung der Geschichte keine Priorität, und es bleibt zweifelhaft, ob die Frage jemals Dringlichkeit haben wird."

Rassismus als Resultat der fehlenden Geschichtsbewältigung

Doch genau hier scheint der Staatspräsident die Bedeutung der historischen Aufarbeitung für die Gegenwart zu unterschätzen, sagen politische Beobachter. Denn der gegenwärtige Rassismus in Portugal, der wohl auch aus der fehlenden Geschichtsbewältigung resultiert, führt gleichzeitig zu Diskriminierung und sozialer Ungleichheit. Die Mehrheit der rund 370.000 afrikanischstämmigen Bürger Portugals lebt in den Vororten der Großstädte Porto und Lissabon, in heruntergekommenen Sozialbauvierteln oder in ehemaligen Barackensiedlungen, in denen die Wellblechhütten der 70er und 80er Jahre zwar überwiegend verschwunden sind, die Wohnverhältnisse aber trotzdem prekär bleiben.
So wie in Cova da Moura, einem Viertel im Osten der Hauptstadt. In der Nähe der Autobahn ziehen sich die einfachen, selbst gebauten Wohnhäuser, dicht an dicht gedrängt, den Hügel hinunter. Im Viertel liegt der Jugend- und Kulturverein Moinho da Juventude, der einen Kindergarten und ein Jugendzentrum betreibt und die Bewohner mit Lebensmitteln unterstützt oder sie beim Umgang mit Behörden berät. Das Viertel Cova da Moura wird in den portugiesischen Boulevardmedien immer wieder als sozialer Brennpunkt dargestellt, in denen Drogenhandel, Kriminalität und Gewaltverbrechen an der Tagesordnung seien.

Dagegen wehrt sich Flávio Almada, Soziologe, Bürgerrechtsaktivist und Mitarbeiter im Kulturverein. Almada ist bekannt: Vor sechs Jahren wurden er und ein paar seiner Kollegen aus dem Viertel von Polizisten grundlos festgenommen und auf einer Polizeiwache brutal zusammengeschlagen und immer wieder rassistisch beleidigt. Zum ersten Mal in der portugiesischen Geschichte wurden acht Polizisten wegen Gewaltexzessen und Verschleppung zu Gefängnisstrafen verurteilt. Doch gleichzeitig nutzten teilweise rechtsextrem beeinflusste Polizisten das Verfahren zur Gründung einer Protestbewegung, die sich mit den angeklagten Kollegen solidarisierte und die Nähe zur rechtspopulistischen Partei Chega suchte. Flávio Almada glaubt, dass ein großer Teil der portugiesischen Bevölkerung den afrikanischstämmigen Bürgern das Recht abspricht, sich gegen Rassismus und Diskriminierung lautstark wehren zu dürfen:
"Wir Schwarzen kriegen Prügel und Kugeln ab, wir werden grundlos verhaftet, wir werden ermordet und keiner kümmert sich darum. Trotzdem glaubt die Öffentlichkeit, dass wir das einfach so hinnehmen müssen. Wir sollen uns nicht wehren, denn das scheint ein Privileg zu sein, auf das wir kein Anrecht haben. Zum Beispiel die vielen Haushaltshilfen, die hier wohnen. Sie arbeiten 16 Stunden am Tag, sie werden auf der Arbeit ausgebeutet, und auf der Straße diskriminiert, dann kommen sie zurück ins Viertel und werden am Eingang von männlichen Polizisten regelmäßig abgetastet – und das sollen sie dann einfach hinnehmen? In diesem Land herrscht ein struktureller Rassismus."
Portugals Haupstadt Lissabon (13.03.2019)
Seit 1. Januar 2021 hat Portugal die EU-Ratspräsidentschaft inne. (www.imago-images.de/ Goran Stanzl)

Europarat zeigte sich besorgt

Erst im März hat sich der Europarat in einem Länderbericht besorgt gezeigt, dass die Zahl der rassistischen Übergriffe und der Hassreden gegenüber der afrikanischstämmigen Bevölkerung und den Roma in Portugal spürbar zunehme. Die Probleme hat mittlerweile auch die sozialistische Regierung erkannt. Bis Ende Juni will die Staatssekretärin für Bürgerrechte und Gleichstellung, Rosa Monteiro, einen nationalen Plan zur Bekämpfung von Rassismus verabschieden.
Die beiden gehen hintereinander zu einem Rednerpult aus Plexiglas, beide tragen einen Mund-Nasen-Schutz. Von der Leyen im orangefarbenen Jackett geht voraus. 
EU-Migrationspolitik: Neuer Anlauf des portugiesischen Ratsvorsitzes
Obwohl die Interessen der EU-Staaten bei der Asyl- und Migrationspolitik weit auseinander gehen, will sich die portugiesische Regierung für einen gemeinsamen Ansatz einsetzen.
"Portugal hat die EU-Ratspräsidentschaft inne. Das ist ein ausgezeichneter Rahmen, um mit gutem Beispiel voranzugehen. Und das nützt uns auch innerhalb Portugals. Wir stehen vollkommen hinter der europäischen Idee: Die Wahrung der Menschenrechte und die Vorstellung, eine Europäische Union zu schaffen, in der alle Menschen gleich sind und die gleichen Chancen haben."
Die EU-Kommission fordert von allen EU-Mitgliedsstaaten, dass sie bis Ende 2022 einen Aktionsplan gegen Rassismus verabschieden. Portugal stellt sein Programm nun wesentlich früher vor. Für manche Beobachter ist das ein weiteres Zeichen, dass die sozialistische Regierung die Fragen nach Integration und Chancengleichheit ernst nimmt. Im vergangenen Jahr hat die Regierung schon das Staatsbürgerschaftsrecht weiter gelockert: Kinder von Migranten, die auf illegalem Weg nach Portugal kamen und sich seit über einem Jahr dort aufhalten, haben nun bei ihrer Geburt Anrecht auf die portugiesische Staatsangehörigkeit.

Portugal stellt einen Anti-Rassismus-Plan auf

Der portugiesische Anti-Rassismus-Plan umfasst zehn unterschiedliche Bereiche. Von Schulungsmaßnahmen in der öffentlichen Verwaltung, über Quoten an Hochschulen für afrikanischstämmige Studierende, bis hin zu Maßnahmen in Bildung, Kultur, Justiz und Sport sowie im sozialen Bereich. Bis Mitte Mai konnten Bürger und Bürgerinnen weitere Vorschläge einbringen. Noch vor der Sommerpause will die Regierung den Plan im Kabinett beschließen. Darüber hinaus hat auch das portugiesische Innenministerium angekündigt, gegen Rassismus in der portugiesischen Polizei härter vorzugehen. Staatssekretärin Rosa Monteiro:
"Es gibt den alten Spruch: Eine Gesellschaft lässt sich nicht per Gesetz verändern. Aber die Gesetze sind dennoch sehr wichtig, weil sie uns zeigen, wie die Gesellschaft aussehen kann, in der wir leben möchten. Wir wissen, dass viel Arbeit vor uns liegt, zum Beispiel im Bildungsbereich oder in der öffentlichen Verwaltung."
Bleibt die Frage, ob sich der Antirassismus-Plan tatsächlich umsetzen lässt. Die konservativen Oppositionsparteien im portugiesischen Parlament haben sich gegen Quoten für afrikanischstämmige Studierende ausgesprochen. Zudem ist bisher nicht bekannt, wie viel Geld die Regierung in das Programm insgesamt investieren will. Deshalb stößt das Vorhaben bei Opfern rassistischer Diskriminierung wie Flávio Almada auf Skepsis:
"Ich möchte genau wissen, was getan wird, um in unserem Viertel die chronischen Probleme im Bereich des Wohnens zu lösen. Ich möchte wissen, wie viel Geld in die öffentlichen Verkehrsmittel investiert wird. Es gibt zwar bereits die Sozial-Monatskarte, aber wir brauchen mehr S-Bahnen. Und ich möchte wissen, wie unsere Schwestern, Mütter und Tanten, die als Reinigungskräfte oder Haushaltskräfte arbeiten, davon profitieren. Denn in diesen Jobs kannst du sofort gefeuert werden. Wie können sie mehr Rechte bekommen?"
Die portugiesische Regierung hat jetzt angekündigt, rund 2,7 Milliarden Euro aus dem EU-Wiederaufbauplan in den sozialen Wohnungsbau investieren zu wollen und gleichzeitig den Ausbau der Eisenbahn voranzutreiben. Inwiefern Migranten, Roma und die afrikanischstämmige Bevölkerung von den aus Brüssel kommenden Geldern profitieren werden, ist bisher unklar.

Alltägliche Gewalt und Diskriminierung

Hinzu kommt: Ohne eine tiefgreifende Aufarbeitung des rassistischen Alltags im portugiesischen Kolonialreich, wird es den weißen Portugiesen und Portugiesinnen schwerfallen, die Notwendigkeit einer Anti-Rassismus-Kampagne anzuerkennen, da sind sich viele Expertinnen und Experten sicher. Dabei geht es nicht nur um Portugals Schuld im transatlantischen Sklavenhandel, sondern auch um die alltägliche Gewalt und Diskriminierung, die für die afrikanische Bevölkerung in den Kolonien bis Mitte der 1970er-Jahre zum Alltag gehörten.
Über diesen Aspekt der Kolonialgeschichte wird erst jetzt breiter diskutiert. Das liegt auch daran, dass das 15. und 16. Jahrhundert, als Portugiesen den Seeweg nach Afrika, Asien und Lateinamerika erkundeten, im Selbstverständnis Portugals weiterhin eine herausragende Rolle spielen:
"Portugal ist ein Land am Rande Europas, das sich aber als Teil des Zentrums fühlt. Als Argument wird der Verweis auf die glorreiche Geschichte genutzt. All die Mythen, die sich um dieses so genannte Zeitalter der Entdeckungen ranken, formen ein sehr mächtiges Narrativ, das bis heute anhält."
Beatriz Gomes Dias, Linkspolitikerin und Kämpferin für die Aufarbeitung von Portugals kolonialer Vergangenheit
Dekolonisierung in Portugal: Beide Seiten der Geschichte zeigen
In Portugal wurden während der Kolonialzeit sechs Millionen Menschen versklavt. Bisher gibt es keinen Ort, der an ihr Schicksal erinnert. Das soll sich nach dem Willen einer Bürgerinitiative in Lissabon ändern.
Sagt António Sousa Ribeiro, von der Universität Coimbra. Aus dem verklärten Geschichtsbild speise sich eine übersteigerte Form der Identität.
"Diese Hyperidentität der Portugiesen, von denen der Philosoph Eduardo Lourenço spricht, ist sehr schwer zu durchbrechen. Wenn jemand nun diese Identität oder Hyperidentität in Frage stellt, ist das fast wie ein Todesstoß. Man lädt die Leute ein, alles zu verneinen, an das sie ihr ganzes Leben lang geglaubt haben."
Der Bildung kommt deshalb eine ganz entscheidende Rolle zu, wenn Rassismus und Kolonialgeschichte in Portugal aufgearbeitet werden sollen. Portugiesische Schulbücher erwähnen zwar mittlerweile auch die Sklaverei, aber sie wird nicht als das grundlegende Element einer Wirtschafts- und Herrschaftsordnung erklärt, die die Unterhaltung der Kolonien überhaupt ermöglichte.
Die Schriftstellerin Isabela Figueiredo arbeitet seit vielen Jahren als Lehrerin an portugiesischen Schulen. Vor zwölf Jahren publizierte sie den autobiografischen Bericht "Rote Erde" über ihre Kindheit in der damaligen portugiesischen Kolonie Mosambik vor der Nelkenrevolution. Ihren eigenen Vater beschreibt sie als hemmungslosen Rassisten. Das Buch sorgte in Portugal für großes Aufsehen. In den Lehrplänen der Oberstufe fehlen solche oder ähnliche Werke aber weiterhin. Figueiredo glaubt dennoch, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis die Portugiesen einen kritischeren Blick auf das koloniale Erbe wagen.
"Was wir bisher noch nicht richtig behandelt haben, ist die dunkle Seite unserer Kolonialgeschichte. Deutschland hat eine sehr gute Aufarbeitung der Verbrechen im Zweiten Weltkrieg geschafft, doch wir tun uns schwer damit. Im vergangenen Jahrzehnt haben wir zaghaft mit der Aufarbeitung begonnen. Und das wird sich nun im kommenden Jahrzehnt in den Schulen widerspiegeln. Noch spüren wir davon nichts, denn diese Dinge passieren nicht unmittelbar, sie brauchen ihre Zeit."