Jan Drees: Frau Wardetzki, ihr aktuelles Sachbuch trägt den Titel: "Und das soll Liebe sein" - und es ist unter anderem eine Anleitung darüber ist, wie man sich aus einer sogenannten narzisstischen Beziehung befreien kann. Das klingt geradezu unheimlich. Was verstehen Sie als Spezialistin unter einer narzisstischen Beziehung?
Bärbel Wardetzki: Das ist eine Beziehung zwischen zwei Menschen, die ein verletztes Selbstwertgefühl haben und die aufeinander stoßen in der Hoffnung, der Andere könne das eigene Selbstwertgefühl erhöhen – und nach diesem Kriterium wird auch der Partner ausgesucht. Also das heißt: Der Partner oder die Partnerin muss so sein, wie ich sie brauche, damit ich mich gut fühle, und das ist natürlich eine sehr ausbeuterische und sehr egoistische Form von Beziehung.
Drees: Aber es ist zugleich auch eine Form von Beziehung, die typisch zu sein scheint für unsere Zeit, oder täuscht da der Blick?
Wardetzki: Ich befürchte, dass es sehr typisch ist im Moment, weil es gibt einen großen Hype auch im Internet über dieses Thema – und es scheint sehr, sehr viele Leute zu berühren.
Traum von der verschmelzenden Zweisamkeit
Drees: Sie schreiben unter anderem: "Das narzisstische Beziehungsideal besteht aus dem Traum von einer verschmelzenden Zweisamkeit: Beide fühlen, denken, erleben und wollen dasselbe. Es ist die völlige Harmonie, die die Partner auf immer zusammenschweißen soll." Die Literatur ist voll von solchen Geschichten. Was ist aber möglicherweise falsch an diesem Ideal?
Wardetzki: Ja, das Ideal ist wirklich nur ein Ideal – und die Personen, die versuchen, dieses Ideal in den Alltag, in die Realität umzusetzen, das heißt, die Beziehung geht so lange gut, wie der Partner Dasselbe denkt und fühlt wie ich. Und in dem Moment, wo der Partner, oder die Partnerin – je nachdem – eine andere Meinung hat, oder eigenständige Entscheidungen trifft, oder mir vielleicht sogar sagt: "Du, das was du fühlst, oder was du denkst, kann ich überhaupt nicht nachempfinden" – in dem Moment wird das ganze Konstrukt auf den Kopf gestellt.
Da wird es sehr schwierig, weil: Dann kommt sowas wie: "Oh, ich werde angegriffen, ich bin nicht gut genug, ich werde kritisiert..." Und aus dieser narzisstischen Kränkung heraus entsteht dann sehr häufig die Wut, und der Angriff auf das Gegenüber – und dann kommen Vorwürfe: "Du hast doch überhaupt gar keine Ahnung, du weißt ja gar nicht..." und so – "ich habe recht". Und dann streiten sie sich darüber, wer recht hat. Und dann ist die Beziehung eigentlich in dem Moment sehr destruktiv.
Drees: Sie haben ein Buch von Frauen für Frauen geschrieben und lassen sich Sätze schon im Vorwort finden wie: In narzisstischen Beziehungen ist in der Regel der Mann der grandios Narzisstische und die Frau das depressiv narzisstische Gegenstück. Weshalb haben Sie "Und das soll Liebe sein?" nicht genderneutral oder -gemischt konzipiert?
Wardetzki: Weil ich eine Geschichte einer Frau interpretiert habe, von Sonja R. – die kam zu mir und hat mir ihre Geschichte erzählt, und dann wollte sie das veröffentlichen, und ich habe das dann aus psychologischer Sicht kommentiert. Das heißt: In dem Buch geht es um eine eher komplementärnarzisstische Frau mit einem grandios narzisstischen Partner. Das kann aber, das schreibe ich auch, das kann genauso umgekehrt auch sein. Es gibt sehr viele Frauen, die auch eine Grandiosität in ihrem Narzissmus haben, und dann den Mann manipulieren und unterdrücken, aber das war eben nicht die Geschichte – und ich glaube, dass es im Moment noch so ist, dass mehr Männer die grandiose Frau besetzen, als die Frauen.
Männer besetzen eher Grandiosität
Drees: Weil Männer nachwievor im Beruf bevorzugt werden, dadurch mehr Geld verdienen? Wir haben im Büchermarkt auch immer wieder Beiträge darüber – Männer werden als Schriftsteller häufiger rezensiert und größer rezensiert. Kann es daran liegen, dass durch die strukturelle Ungleichheit, die es in unserer Gesellschaft durchaus noch gibt, Männer deshalb die eher narzisstisch Grandiosen sind?
Wardetzki: Das kann ich mir gut vorstellen. Also ich glaube wirklich, dass diese Geschichte über die Jahrtausende, dass die Männer immer sehr hochgehoben und idealisiert und überhöht wurden, und die Frauen zum Teil so extrem abgewertet wurden, dass sich das natürlich niederschlägt auch in der persönlichen Struktur. Wir sprechen auch von dem kollektiven Unbewussten. Das ist einfach drin – und unsere gesellschaftlichen Strukturen sind, wie Sie sagen, immer noch sehr auf den Mann ausgerichtet und noch nicht wirklich gleichberechtigt; und deshalb glaube ich, ist es automatisch so, dass diese Männer eher diese Grandiosität besetzen. Aber wie gesagt: Es gibt auch Männer, die es eben nicht haben.
Blind werden für das, was nicht stimmt
Drees: Wie gelangt man denn nun aus einer narzisstischen Beziehung? Sie bieten am Ende des Buchs umfangreiche Hilfestellungen. Welche sind besonders wichtig?
Bärbel Wardetzki: Besonders wichtig ist, auf sich aufmerksam zu sein, und das, was nicht funktioniert in der Beziehung, ernst zu nehmen. Denn die Tendenz ist, alles zu beschönigen und zu sagen: "Das wird schon wieder." Und diese Hoffnung, es wird wieder so schön, wie es am Anfang war, die bindet, und die lässt einen blind werden für das, was nicht stimmt. Das heißt: wenn eine Frau – oder auch ein Mann – wenn die erleben: "Ich leide in dieser Beziehung", dann sollten sie das zu Allererst mal ernstnehmen. Gut ist, wenn man sich auch von außen Hilfe holt, weil der Blick von außen natürlich viel neutraler ist als von den Menschen, die in der Beziehung drin sind. Die sind natürlich getrübter in ihrer Wahrnehmung. Und dann geht es darum, dass man zu Allererst seine ganz basalen Notwendigkeiten bedient.
Das heißt: ich brauche Geld und ich brauche eine Wohnung – ohne Wohnung und Geld, oder: Beruf und Wohnung und Geld brauche ich gar nicht anzufangen, mich trennen zu wollen, denn: wo soll ich hingehen, wenn ich nichts habe? Das heißt, das muss man erstmal vorbereiten, und das dauert natürlich auch ein Weilchen, bis man diese Basis für sich geschaffen hat; aber die ist auf jeden Fall nötig – und darauf kann man dann aufbauen, und kann dann sozusagen seine ganze Kraft zusammennehmen, und kann schauen, dass man sich aus dieser Beziehung befreit; aber das sollte man dann auch wirklich ganz gut machen, und nicht noch Kisten beim Partner stehen haben, der dann die in die neue Wohnung reinkommt, oder seine Handynummer oder Adresse dem Anderen geben, sondern dann sollte man wirklich einen Schnitt machen und sagen: "Ich will jetzt keinen Kontakt, zumindest in der nächsten Zeit, und deshalb werde ich mich jetzt ausklinken. Das ist natürlich schwierig, wenn es Kinder gibt, wenn es kleine Kinder gibt, um die man sich beidseit kümmert, dann muss man natürlich anders vorgehen.
Du spinnst ja völlig
Drees: Es wird bei narzisstischen Beziehung immer wieder auch der Begriff des Missbrauchs verwendet. Gaslighting ist eine Variante des so genannten psychischen Missbrauchs. Sie haben sich damit sehr, sehr früh beschäftigt. Was passiert bei Gaslighting? Wie muss man diesen Begriff verwenden?
Wardetzki: Gaslighting ist eine Manipulationstechnik, die gezielt eingesetzt wird, um das Gegenüber zu verunsichern, und dem Gegenüber die eigene Wahrnehmung wegzunehmen. Gehen wir jetzt mal davon aus, das macht ein Mann zu einer Frau. Das ist dann einfacher zu sprechen. Wenn jetzt der Mann versucht, diese Frau so zu irritieren, dass sie gar nicht mehr selber sich traut, wahrzunehmen: was stimmt denn jetzt? Also wenn sie zum Beispiel sagt: "Die Wand ist grün", und er sagt: "Die Wand ist rot", und er macht das in einer Art und Weise, dass sie irgendwann sagt: "Ja, ja, die Wand ist rot", obwohl sie weiß, dass sie grün ist. Das heißt, es geht eigentlich darum, den Anderen zutiefst zu verunsichern, sein Selbstwertgefühl zu untergraben, und ihn so zu verwirren, dass diese Person nicht mehr eigenständig entscheidet, und eigenständig fühlt und denkt.
Die andere Person wird vor allem abgewertet
Drees: Aber wenn jemand sagt: "Die Wand hat eine andere Farbe, als die, die ich sehe, wird er mich doch niemals davon überzeugen können."
Wardetzki: Naja, das passiert ja nicht nur einmal, sondern das passiert sehr häufig. Und das passiert vor allen Dingen in einer Form, wo die andere Person abgewertet wird. Der wird nicht sagen: "Die Wand ist grün", sondern der wird sagen: "Du spinnst ja völlig. Du bist wohl farbenblind. Das ist doch klar, dass diese Wand grün ist!"
"Ich gehe davon aus, dass es eine gezielte Technik ist"
Drees: Sie sagen, dass das gezielt eingesetzt wird. Das klingt nach einer Strategie – und dieses Gaslighting, wenn man sich anfänglich damit beschäftigt wirkt wie eine Manipulationsform, die man richtig erlernen muss, die man kennen muss, um sie anwenden zu können. Ist das wirklich gezielt; oder kann das auch unterbewusst aufgrund von narzisstischen Schemata stattfinden?
Wardetzki: Also ich gehe davon aus, dass es eine gezielte Technik ist, weil sie wirklich darauf aus ist, den Anderen ganz gezielt zu unterdrücken. Und es gibt natürlich sehr viele Manipulationstechniken, auch im Zusammenhang mit Narzissmus, aber die werden oftmals gar nicht gezielt angewendet, sondern das ist etwas, was jemand in seiner ganzen Entwicklung gelernt hat: dass ich nur überlebe, wenn ich den Anderen manipuliere. Und das passiert automatisch, und die merken das oftmals überhaupt nicht, wie sie ihre Umwelt manipulieren.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassung wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Bärbel Wardetzki, Sonja R.: "Und das soll Liebe sein – Wie man sich aus einer narzisstischen Beziehung befreit", dtv Premium München, 224 Seiten, 16,90 Euro