Als Spitzenkandidat der Linken weiß Bodo Ramelow, was seine Wähler hören wollen. Ramelow möchte am 30. August bei den Landtagswahlen in Thüringen Ministerpräsident werden - und dafür greift er in seinen Reden gerne tief in die Kiste mit dem Etikett "Klassenkampf".
Ramelow fordert eine Sonderabgabe für Einkommen über 600.000 Euro: 80 Prozent davon sollen die Besserverdiener beim Finanzamt abliefern - bis zur Enteignung ist es da nur noch ein kleiner Schritt. Und so lautet denn auch ein aktueller Plakatslogan der Linken: "Millionäre zur Kasse!"
Mit seiner Forderung geht Ramelow weiter als seine Partei, die eine Millionärssteuer von mindestens fünf Prozent auf Einkommen und Privatvermögen von mehr als einer Million Euro propagiert. Linken-Parteichef Oskar Lafontaine auf dem Berliner Wahlprogrammparteitag Ende Juni:
"Wir fordern, dass der Spitzensteuersatz auf 53 Prozent angehoben wird. Er gilt ab einem zu versteuerndem Einkommen von 65.000 Euro für Ledige und 130.000 für Verheiratete. Nach unserem Steuerkonzept werden alle Steuerzahlerinnen und Steuerzahler bis zu einem zu versteuernden Einkommen von 70.000 Euro für Ledige und 140.000 Euro für Verheiratete entlastet, man muss hier die Erhöhung des Grundfreibetrages dazurechnen. Das ist ein soziales Steuerkonzept, für das wir werben. Wir wollen ein gerechtes Steuersystem. Zurzeit werden nämlich die Leistungsträger unserer Gesellschaft, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, überproportional durch den Tarif belastet."
Bei einer Partei, die nach Aussage ihres Vorsitzenden Oskar Lafontaine "den Kapitalismus überwinden" möchte, überraschen solche Töne nicht. Doch mittlerweile werden sie auch andernorts salonfähig.
So fordert die SPD in ihrem Wahlprogramm explizit, die heute geltende Reichensteuer zu verschärfen: Bei Einkommen oberhalb von 250.000 Euro für Verheiratete und 125.000 Euro für Singles soll ein Steuersatz von 47 Prozent greifen. Heute zahlen nur diejenigen die Reichensteuer, die mehr als 500.000 beziehungsweise 250.000 verdienen. Und der Steuersatz liegt auch nur bei 45 Prozent. Die geplante Steuererhöhung, so Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier, diene einem guten Zweck:
"Bildung kostet Geld, sagen die meisten. Richtig, sage ich, das kostet Geld. Und ehrlich ist nur der, der sagt, wo es herkommen soll. Aus Steuersenkungen jedenfalls nicht! Nein, wer glaubwürdig sein will, muss sagen, dass wir mehr Geld für Bildung brauchen. Das mag nicht immer populär sein! Aber unser Aufschlag auf den Spitzensteuersatz ist die richtige Antwort. Auch Gutverdienende, die ich treffe, sagen mir inzwischen: 'Wenn ihr sicherstellt, dass das Geld wirklich in die Bildung unserer Kinder geht, zahle ich gern!' Das ist die richtige Antwort. Unser Weg ist der richtige."
Die Grünen lehnen solche Pläne zwar ab, doch schonen wollen sie Gutverdiener auch nicht. Ihre Finanzexpertin Christine Scheel macht sich dafür stark, den Spitzensteuersatzes von derzeit 42 auf 45 Prozent anzuheben - und zwar ab einem zu versteuernden Einkommen von 80.000 Euro.
Die CDU hingegen will vor allem unter dem Druck ihrer bayerischen Schwesterpartei CSU "mehr Netto vom Brutto" durchsetzen:
"Entlastung, Zukunftsinvestition und solide Haushaltsführung gehören für uns zusammen. Das ist der Dreiklang, mit dem wir Wachstum schaffen und aus der Krise herauskommen, stärker als wir hineingegangen sind."
Doch spätestens mit der Forderung von Baden-Württembergs Ministerpräsident Günther Oettinger, den ermäßigten Mehrwertsteuersatz - zum Beispiel für Lebensmittel und Bücher - auf 9,5 Prozent zu erhöhen, ist klar: Auch in der Union ist die Diskussion um Steuererhöhungen voll entbrannt. Es geht um die Frage: Rauf oder runter? Aber ist das überhaupt die richtige Frage?
Für Wirtschaftswissenschafter sind vor allem die Steuersenkungsvorschläge aus den Reihen der Union - so vage sie in ihrer zeitlichen Konkretisierung auch sind - schlichtweg die falsche Debatte zur falschen Zeit. Quer durch die Bank, von rechts bis links, herrscht Zweifel an den Versprechen der Politik, die Steuer zu nutzen, um die Finanz- und Wirtschaftskrise zu bewältigen. Johanna Hey, Direktorin des Instituts für Steuerrecht an der Universität Köln, kommt deshalb zu einer klaren Antwort:
"Die Antwort ist eindeutig: Nein! Ganz im Gegenteil. Wir sehen ja im Moment eine massive Neuverschuldung. Wir haben den zweiten Nachtragshaushalt in 2009 und gleichzeitig gelten ja natürlich auch noch die Maastrichtkriterien. Das heißt, man kann jetzt auch nicht einfach mit geschlossenen Augen in die Staatsverschuldung hineingehen. Man wird sie auch sehr schnell wieder abbauen müssen."
All das, was die Politik zurzeit diskutiere, habe, so Johanna Hey, mit einer soliden Haushaltspolitik nur sehr wenig zu tun.
"Das sind relativ isolierte Dinge, die da im Moment versprochen werden. Die Finanzierung ist unklar, der Zeitpunkt ist unklar. Und aus meiner Sicht steckt dahinter ausschließlich der Wahlkampf. Es ist nicht die Zeit für Steuersenkungen!"
Ganz ähnlich sieht dies auch Winfried Fuest, Finanz- und Steuerexperte des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln. Auch ihn beschäftigt die Frage, ob Steuersenkungen im Moment angesichts der Staatsverschuldung und der Wirtschaftskrise überhaupt realistisch sind:
"Die Frage stelle ich mir jeden Tag an meinem Schreibtisch. Und ich bin da auch wie jeder Bürger ein gebranntes Kind. Man erinnere sich an die letzte Bundestagswahl. Dort hieß es noch auf dem Leipziger Parteitag der CDU, dass Herr Merz sich mit seinem Steuerprogramm durchsetzen werde. Ich will auch Herrn Kirchhof erwähnen. Auch da waren massive Steuersenkungen bei gleichzeitiger Verbreiterung der Bemessungsgrundlage geplant. Aber von einer Mehrwertsteuererhöhung hat uns vor der Wahl oder während des Wahlkampfs niemand etwas gesagt - und dann kamen gleich drei Prozentpunkte, sprich: pro Prozentpunkt acht Milliarden Euro, also 24 Milliarden Euro zusätzliche Steuerlasten. Ich will nicht hoffen, dass die zukünftige Bundesregierung und die etablierten Parteien ähnliche Pläne in der Schublade haben, denn dann wäre das Vertrauen der Bürger endgültig zerstört."
So ganz auszuschließen ist das aber nicht. Auch wenn Angela Merkel eine Erhöhung der Mehrwertsteuer kategorisch ausgeschlossen hat. Der Finanzexperte der Unionsfraktion, Otto Bernhard, jedenfalls hat bereits die Anhebung des verminderten Mehrwertsteuersatzes von derzeit sieben Prozent auf 18 Prozent gefordert.
Weitgehend unbeachtet hat der schwedische Finanzminister Andre Borg vor dem Treffen der 27 EU-Regierungschefs am 18. Juni mit bemerkenswerter Offenheit angekündigt, dass allerorten in der EU in den nächsten Jahren an der Steuerschraube gedreht werde. Es gebe nur zwei Wege, um die Schuldenberge nach der Wirtschaftskrise wieder abzubauen: Die öffentlichen Ausgaben zu kürzen - oder eben die Steuern zu erhöhen. Beides, so sagte es Borg der Tageszeitung "Die Welt", sei unumgänglich, deshalb müssten sich die Bürger darauf einstellen. Dem Wort kommt besonderes Gewicht zu; immerhin übernimmt Schweden ab 1. Juli die EU-Ratspräsidentschaft.
"Starke Schultern müssen mehr tragen als schwache" oder "Mehr Netto für alle" - so lauten die griffigen Formeln zur Steuerdebatte. Doch diese Parolen gehen am eigentlichen Problem genauso vorbei wie die steuerpolitische Diskussion, die ganz im Zeichen des Wahlkampfs geführt wird: Das eigentliche Problem ist nicht die Steuer, sondern die hohe Abgabenquote in Deutschland. Zumal: Wer sich die Steuerpolitik der vergangenen Jahre genauer ansieht, wird feststellen, dass die Einkommenssteuer in Deutschland kontinuierlich gesunken ist. Die Steuerexpertin Johanna Hey:
"Wir haben ja eigentlich ein Jahrzehnt von Steuersatzsenkungen hinter uns. Wo sind wir denn gestartet: Wir sind vor der letzten rot-grünen Regierung mit einem Einkommenssteuerspitzensatz von 51, dann 48,5 Prozent, jetzt im Augenblick bei 42 Prozent. Auch der Eingangssteuersatz ist von 19 Prozent auf jetzt 14 Prozentpunkte gesenkt worden. Das heißt, wir haben massive Steuersenkungen hinter uns, und zwar Steuersatzsenkungen hinter uns, die aber immer gegenfinanziert worden sind."
Genau das, die Gegenfinanzierung, ist bei dem, was vor allem die CDU nun vorschlägt, nicht mehr der Fall. Das gilt besonders für die Diskussion um die offensichtlichen Ungerechtigkeiten im Steuersystem wie die "kalte Progression" und den "Mittelstandsbauch". Wegen der "kalten Progression", bei der für viele Arbeitnehmer trotz steigender Bruttolöhne real weniger Netto bleibt, müssen mittlerweile selbst Normalverdiener den Spitzensteuersatz zahlen. Und in der Tat: Hier hat das deutsche Steuerrecht in der Vergangenheit voll zugeschlagen. Zum Vergleich: In den 50er-Jahren griff der Spitzensteuersatz erst beim 17-fachen des Durchschnittseinkommens, 2008 jedoch schon beim 1,3-fachen.
Für einen Wirtschaftsfachmann wie Prof. Johann Eekhoff, Direktor des Instituts für Wirtschaftspolitik an der Universität Köln und ehemaliger beamteter Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium zu Zeiten Jürgen Möllemanns und Günter Rexrodts, ist die "kalte Progression" etwas, dessen sich die Politik unbedingt annehmen muss:
"Wir haben eigentlich eine große Möglichkeit versäumt, nämlich mit dem Konjunkturprogramm die 'kalte Progression' zurückzugeben. Das wäre die Gelegenheit gewesen, um das Steuersystem an dieser Stelle zu korrigieren, denn man muss von Zeit zu Zeit das, was durch schleichende Inflation an höherer Belastung auf die Bürger zu kommt, wieder zurückgeben. Und es ist im Grunde schon ein Volumen von fast 25 Milliarden, worüber wir hier reden. Jetzt ist die Rede davon, etwa 15 Milliarden zurückzugeben. Das ist eigentlich schon zu wenig. Aber man hat die große Gelegenheit leider versäumt."
Und ob diese Gelegenheit jetzt - oder besser: nach der Wahl - wirklich da ist? Schließlich haben die Steuerschätzer im Mai, also vor gerade einmal sechs Wochen, für die nächsten vier Jahre wahre Horrorzahlen gemeldet: Ein Minus von 316 Milliarden Euro an Steuereinnahmen für die kommenden Jahre bis 2013 ist zu erwarten.
Wenn derzeit also nicht die Zeit ist, um über Steuersenkungen zu sprechen - worüber sollte man dann sprechen? Über die Sozialabgaben in Deutschland müsse geredet werden, meint die OECD, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Sie hat vor kurzem eine Studie veröffentlicht, nach der Deutschland im internationalen Vergleich bei den Abgaben besonders für Geringverdiener auf einem Spitzenplatz liegt - aber nicht wegen einer besonders hohen Steuerlast, sondern wegen der sprunghaft angestiegenen Sozialabgaben etwa für die Renten- und Krankenversicherung.
Einem Arbeitnehmer ist es am Ende egal, wie sich die einzelnen Abzüge von seinem Bruttogehalt aufschlüsseln. Es zählt, was netto rauskommt. Und das führt dazu, wie die OECD errechnet hat, dass einem Single mit einem Einkommen von 29.500 Euro pro Jahr - wahrlich kein üppiges Einkommen - bereits 47,3 Prozent an Steuern und Sozialabgaben vom Bruttolohn abgezogen werden. Das ist nach Belgien der zweithöchste Wert in der OECD-Gruppe, der 30 Industrie- und Schwellenländer angehören. Bei einem Jahresverdienst von 36.500 Euro liegt die Quote der Gesamtabzüge bereits bei 50 Prozent.
Der Durchschnittsverdienst der Deutschen liegt bei rund 44.000 Euro pro Jahr - und hier werden für Steuern und Sozialabgaben sogar 53 Prozent fällig. Den Spitzenwert erreichen Singles mit einem Einkommen von 63.000 Euro jährlich: Ihre Abzüge liegen bei satten 53,7 Prozent. Dann aber sinkt die Belastung wieder leicht: Für Alleinstehende mit einem Jahresbrutto von 110.000 Euro liegt sie laut OECD bei 50 Prozent. Das liegt daran, dass für alle über eine bestimmte Grenze - die "Beitragsbemessungsgrenze" - hinausgehenden Einkünfte keine Sozialversicherungsbeiträge mehr anfallen. Auch bei Paaren und Familien unterscheidet sich die Verteilung der Abgabenlast in Deutschland von der anderer OECD-Länder, heißt es in der Studie. Wenn beide Partner arbeiten, liege Deutschland bei der Abgabenlast an der Spitze.
Obwohl die "gefühlte Steuerlast" also für jeden Einzelnen auch hoch sein mag - das Problem hierzulande liegt weniger in einer zu hohen Steuerquote als vielmehr in zu hohen Sozialabgaben. Deshalb ist für einen Wirtschafts- und Steuerexperten, wie Prof. Johann Eekhoff, auch alles Gerede über die Senkung des Eingangssteuersatzes, mit dem die Parteien zu punkten versuchen, reine Augenwischerei. Viel wichtiger als der Eingangssteuersatz sei der Freibetrag, der steuerfrei bleibt, für jeden einzelnen Arbeitnehmer.
"Ob man nun mit zwölf oder 14 Prozent hineingeht macht im Grunde genommen keinen Unterschied, sondern wir reden viel mehr darüber, was viel wichtiger ist: Wann beginnt das? Und diese Diskussion kann man sinnvoll führen. Es soll das steuerfrei bleiben, was ein ALG-II-Empfänger für den Lebensunterhalt zugestanden bekommt. Und dahinter sind wir wieder etwas zurückgefallen. Das muss man anpassen. Und hier gilt das, was für die 'kalte Progression' immer wieder ausgesagt wird: Es ist nicht nur der 'Mittelstandsbauch', sondern es ist der Eingangssteuersatz, der bezogen wird auf ein Mindesteinkommen. Es müssen etwa 10.000 Euro frei bleiben. Wir haben für den Bezieher von ALG-II gut 800 Euro, wenn man das mit zwölf multipliziert, dann sieht man, wo wir etwa stehen, und das ist der Betrag, der in jedem Fall frei bleiben muss. Denn man kann nicht vom Steuerzahler Steuern verlangen für einen Betrag, den er - wenn er nicht arbeitet - vom Staat zurückbekäme. Also an der Stelle geht es eigentlich nur um den Freibetrag und nicht um den Eingangssteuersatz."
Nichtsdestoweniger: Steuer- und Sozialabgaben ergeben für Deutschland eine vergleichsweise hohe Belastungsquote. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt pendelt sie sich seit Jahren beharrlich über der 40-Prozent-Marke ein und ist damit höher als in allen anderen Ländern zwischen Nordkap und Mittelmeer.
Was sich also hinter der Klage von den "zu hohen Abgaben" verbirgt, ist in Wirklichkeit eine überproportionale Belastung von Vollzeitarbeitsverhältnissen durch Sozialabgaben. Der Bund der Steuerzahler bemängelt denn auch, dass es der Bundesregierung nicht gelungen sei, die Sozialversicherungsbeiträge nachhaltig zu senken. Im Gegenteil: Der Steuerzahlerbund befürchtet vor allem aufgrund der demografischen Risiken für die Zukunft weiter steigende Beitragslasten. Verschiedene Prognosen deuteten darauf hin, dass die Belastung der Bürger und Unternehmen allein mit Sozialversicherungsbeiträgen bis zum Jahr 2050 auf etwa 50 Prozent steigen dürfte.
Das mag noch weit hin sein, aber wenn man Steuern und Abgaben zusammenrechnet, ist schon jetzt die Mittelschicht die Zahlmeisterin der Nation, urteilt Markus Grabka. Der Wirtschaftswissenschaftler am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin arbeitet am Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung mit. Stärker als Reiche müsse die Mittelschicht zum Beispiel für Renten- und Krankenkasse blechen. Will heißen: Ohne den Mammutbeitrag der Mitte wird Bundesfinanzminister Peer Steinbrück das Defizit nie in den Griff bekommen. Deshalb kommt Grabka zu dem Ergebnis, dass die Debatte über Steuersenkungen für die Mittelschicht absurd sei.
So sieht das auch die OECD , die folgerichtig eine Senkung der Sozialabgaben vorrangig für Niedrigverdiener vorschlägt. Wohlgemerkt: Eine Senkung der Sozialabgaben und nicht der Steuern! Dennoch hat der Bundestag erst vor wenigen Tagen - auf Druck des Bundesverfassungsgerichts - das sogenannte "Bürgerentlastungsgesetz" verabschiedet. Dadurch zahlen die Bürger insgesamt knapp 10 Milliarden Euro weniger Steuern pro Jahr. Zum Beispiel, weil künftig Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung verstärkt steuerlich geltend gemacht werden können. Es stellt sich also die Frage: Führen solche Steuersenkungen, führt die Steuersenkungsdebatte der Parteien im anlaufenden Wahlkampf in die falsche Richtung? Müssten wir uns nicht vielmehr statt der Steuerpolitik der Frage zuwenden, wie es uns gelingt, die Sozialabgaben, sprich: die Lohnnebenkosten, zu senken? Winfried Fuest vom Institut der deutschen Wirtschaft:
"Sehr richtig. Und es zeigen auch entsprechende ökonometrische und empirische Untersuchungen, dass eine Senkung der Sozialabgaben die Arbeitskosten tangiert, also reduziert und damit die Wettbewerbsfähigkeit erhöht. Und damit auch die Chancen zur Erhaltung von Arbeitsplätzen verbessert. Und in der Tat liegt die Krux in Deutschland in der Abgabenquote selbst. Sie ist in den letzten Jahren explodiert, weil die Rentenversicherungsbeiträge gestiegen sind, weil man auch in der Pflegeversicherung in Zukunft mit höheren Beiträgen rechnen muss, Krankenversicherung ebenso - also hier ist eine Lawine angelegt."
Das alles sind Themen, die weitaus komplexer sind, als griffige Wahlkampfformeln von einer "Millionärssteuer", der Anhebung der "Reichensteuer" oder der Senkung des "Eingangssteuersatzes" für Geringverdiener. Denn wer sich einmal in die Untiefen des Gesundheitsfonds, den demografischen Risiken der Pflegeversicherung und in die komplexe Beitragsstruktur der Rentenversicherung eingearbeitet hat, weiß, dass hier keine griffigen, schnellen Lösungen zu erhalten sind. Und so lässt sich die Empfehlung der OECD, für weniger Sozialabgaben und eine stärkere Steuerfinanzierung von Sozialleistungen zu sorgen, nur schwer in die Praxis umsetzen.
Wie kompliziert mittlerweile das Geflecht aus Steuer- und Sozialpolitik geworden ist, zeigt Steuerexpertin Johanna Hey von der Universität Köln:
"Wir diskutieren das falsche Thema, wobei beide Themen zusammengehören. Denn man muss auch ganz klar sagen, dass aus dem Bundeshaushalt eben derzeit knapp 80 Milliarden Euro en bloc in die Rentenversicherung gehen - das ist ungefähr ein Drittel des Bundeshaushalts. Und das ist eine Zahl, die natürlich sofort explodiert, sobald die Beiträge einbrechen wegen steigender Arbeitslosigkeit. Das heißt, wir haben ja jetzt schon das Problem, dass wir die Steuern nicht senken können, weil wir die Reformen in den Sozialversicherungssystemen nicht durchführen und wir ja eigentlich die Sozialversicherungsbeiträge künstlich niedrig halten, weil wir steuerlich zuschießen."
Fazit: Der Steuer- und Abgabenstaat ist - forciert durch die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise - an die Grenzen seiner Belastbarkeit gekommen. Und zwar gleich auf zwei Seiten: Einerseits auf Seiten des Steuer- und Beitragszahlers, der nicht zu Unrecht sagt, dass er vom Staat immer weniger Leistung für immer mehr Abgaben aller Art bekommt, während zugleich immer höhere Schuldenberge zulasten kommender Generationen aufgetürmt werden, die erst recht niemand um ihre Einwilligung fragt.
Und andererseits auf Seiten des Staates, der aus einem Bundeshaushalt von 290 Milliarden Euro bereits heute 105 Milliarden an die Sozialkassen überweist, 41 Milliarden Euro für Zinszahlungen aufbringen muss und 28 Milliarden Euro an sein eigenes Personal auszahlt - nicht eingerechnet die zahlreichen "Schattenhaushalte". Wo da der Spielraum für Steuergeschenke nach der Wahl sein soll - das ist die 100.000-Dollar-Frage.
Ramelow fordert eine Sonderabgabe für Einkommen über 600.000 Euro: 80 Prozent davon sollen die Besserverdiener beim Finanzamt abliefern - bis zur Enteignung ist es da nur noch ein kleiner Schritt. Und so lautet denn auch ein aktueller Plakatslogan der Linken: "Millionäre zur Kasse!"
Mit seiner Forderung geht Ramelow weiter als seine Partei, die eine Millionärssteuer von mindestens fünf Prozent auf Einkommen und Privatvermögen von mehr als einer Million Euro propagiert. Linken-Parteichef Oskar Lafontaine auf dem Berliner Wahlprogrammparteitag Ende Juni:
"Wir fordern, dass der Spitzensteuersatz auf 53 Prozent angehoben wird. Er gilt ab einem zu versteuerndem Einkommen von 65.000 Euro für Ledige und 130.000 für Verheiratete. Nach unserem Steuerkonzept werden alle Steuerzahlerinnen und Steuerzahler bis zu einem zu versteuernden Einkommen von 70.000 Euro für Ledige und 140.000 Euro für Verheiratete entlastet, man muss hier die Erhöhung des Grundfreibetrages dazurechnen. Das ist ein soziales Steuerkonzept, für das wir werben. Wir wollen ein gerechtes Steuersystem. Zurzeit werden nämlich die Leistungsträger unserer Gesellschaft, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, überproportional durch den Tarif belastet."
Bei einer Partei, die nach Aussage ihres Vorsitzenden Oskar Lafontaine "den Kapitalismus überwinden" möchte, überraschen solche Töne nicht. Doch mittlerweile werden sie auch andernorts salonfähig.
So fordert die SPD in ihrem Wahlprogramm explizit, die heute geltende Reichensteuer zu verschärfen: Bei Einkommen oberhalb von 250.000 Euro für Verheiratete und 125.000 Euro für Singles soll ein Steuersatz von 47 Prozent greifen. Heute zahlen nur diejenigen die Reichensteuer, die mehr als 500.000 beziehungsweise 250.000 verdienen. Und der Steuersatz liegt auch nur bei 45 Prozent. Die geplante Steuererhöhung, so Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier, diene einem guten Zweck:
"Bildung kostet Geld, sagen die meisten. Richtig, sage ich, das kostet Geld. Und ehrlich ist nur der, der sagt, wo es herkommen soll. Aus Steuersenkungen jedenfalls nicht! Nein, wer glaubwürdig sein will, muss sagen, dass wir mehr Geld für Bildung brauchen. Das mag nicht immer populär sein! Aber unser Aufschlag auf den Spitzensteuersatz ist die richtige Antwort. Auch Gutverdienende, die ich treffe, sagen mir inzwischen: 'Wenn ihr sicherstellt, dass das Geld wirklich in die Bildung unserer Kinder geht, zahle ich gern!' Das ist die richtige Antwort. Unser Weg ist der richtige."
Die Grünen lehnen solche Pläne zwar ab, doch schonen wollen sie Gutverdiener auch nicht. Ihre Finanzexpertin Christine Scheel macht sich dafür stark, den Spitzensteuersatzes von derzeit 42 auf 45 Prozent anzuheben - und zwar ab einem zu versteuernden Einkommen von 80.000 Euro.
Die CDU hingegen will vor allem unter dem Druck ihrer bayerischen Schwesterpartei CSU "mehr Netto vom Brutto" durchsetzen:
"Entlastung, Zukunftsinvestition und solide Haushaltsführung gehören für uns zusammen. Das ist der Dreiklang, mit dem wir Wachstum schaffen und aus der Krise herauskommen, stärker als wir hineingegangen sind."
Doch spätestens mit der Forderung von Baden-Württembergs Ministerpräsident Günther Oettinger, den ermäßigten Mehrwertsteuersatz - zum Beispiel für Lebensmittel und Bücher - auf 9,5 Prozent zu erhöhen, ist klar: Auch in der Union ist die Diskussion um Steuererhöhungen voll entbrannt. Es geht um die Frage: Rauf oder runter? Aber ist das überhaupt die richtige Frage?
Für Wirtschaftswissenschafter sind vor allem die Steuersenkungsvorschläge aus den Reihen der Union - so vage sie in ihrer zeitlichen Konkretisierung auch sind - schlichtweg die falsche Debatte zur falschen Zeit. Quer durch die Bank, von rechts bis links, herrscht Zweifel an den Versprechen der Politik, die Steuer zu nutzen, um die Finanz- und Wirtschaftskrise zu bewältigen. Johanna Hey, Direktorin des Instituts für Steuerrecht an der Universität Köln, kommt deshalb zu einer klaren Antwort:
"Die Antwort ist eindeutig: Nein! Ganz im Gegenteil. Wir sehen ja im Moment eine massive Neuverschuldung. Wir haben den zweiten Nachtragshaushalt in 2009 und gleichzeitig gelten ja natürlich auch noch die Maastrichtkriterien. Das heißt, man kann jetzt auch nicht einfach mit geschlossenen Augen in die Staatsverschuldung hineingehen. Man wird sie auch sehr schnell wieder abbauen müssen."
All das, was die Politik zurzeit diskutiere, habe, so Johanna Hey, mit einer soliden Haushaltspolitik nur sehr wenig zu tun.
"Das sind relativ isolierte Dinge, die da im Moment versprochen werden. Die Finanzierung ist unklar, der Zeitpunkt ist unklar. Und aus meiner Sicht steckt dahinter ausschließlich der Wahlkampf. Es ist nicht die Zeit für Steuersenkungen!"
Ganz ähnlich sieht dies auch Winfried Fuest, Finanz- und Steuerexperte des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln. Auch ihn beschäftigt die Frage, ob Steuersenkungen im Moment angesichts der Staatsverschuldung und der Wirtschaftskrise überhaupt realistisch sind:
"Die Frage stelle ich mir jeden Tag an meinem Schreibtisch. Und ich bin da auch wie jeder Bürger ein gebranntes Kind. Man erinnere sich an die letzte Bundestagswahl. Dort hieß es noch auf dem Leipziger Parteitag der CDU, dass Herr Merz sich mit seinem Steuerprogramm durchsetzen werde. Ich will auch Herrn Kirchhof erwähnen. Auch da waren massive Steuersenkungen bei gleichzeitiger Verbreiterung der Bemessungsgrundlage geplant. Aber von einer Mehrwertsteuererhöhung hat uns vor der Wahl oder während des Wahlkampfs niemand etwas gesagt - und dann kamen gleich drei Prozentpunkte, sprich: pro Prozentpunkt acht Milliarden Euro, also 24 Milliarden Euro zusätzliche Steuerlasten. Ich will nicht hoffen, dass die zukünftige Bundesregierung und die etablierten Parteien ähnliche Pläne in der Schublade haben, denn dann wäre das Vertrauen der Bürger endgültig zerstört."
So ganz auszuschließen ist das aber nicht. Auch wenn Angela Merkel eine Erhöhung der Mehrwertsteuer kategorisch ausgeschlossen hat. Der Finanzexperte der Unionsfraktion, Otto Bernhard, jedenfalls hat bereits die Anhebung des verminderten Mehrwertsteuersatzes von derzeit sieben Prozent auf 18 Prozent gefordert.
Weitgehend unbeachtet hat der schwedische Finanzminister Andre Borg vor dem Treffen der 27 EU-Regierungschefs am 18. Juni mit bemerkenswerter Offenheit angekündigt, dass allerorten in der EU in den nächsten Jahren an der Steuerschraube gedreht werde. Es gebe nur zwei Wege, um die Schuldenberge nach der Wirtschaftskrise wieder abzubauen: Die öffentlichen Ausgaben zu kürzen - oder eben die Steuern zu erhöhen. Beides, so sagte es Borg der Tageszeitung "Die Welt", sei unumgänglich, deshalb müssten sich die Bürger darauf einstellen. Dem Wort kommt besonderes Gewicht zu; immerhin übernimmt Schweden ab 1. Juli die EU-Ratspräsidentschaft.
"Starke Schultern müssen mehr tragen als schwache" oder "Mehr Netto für alle" - so lauten die griffigen Formeln zur Steuerdebatte. Doch diese Parolen gehen am eigentlichen Problem genauso vorbei wie die steuerpolitische Diskussion, die ganz im Zeichen des Wahlkampfs geführt wird: Das eigentliche Problem ist nicht die Steuer, sondern die hohe Abgabenquote in Deutschland. Zumal: Wer sich die Steuerpolitik der vergangenen Jahre genauer ansieht, wird feststellen, dass die Einkommenssteuer in Deutschland kontinuierlich gesunken ist. Die Steuerexpertin Johanna Hey:
"Wir haben ja eigentlich ein Jahrzehnt von Steuersatzsenkungen hinter uns. Wo sind wir denn gestartet: Wir sind vor der letzten rot-grünen Regierung mit einem Einkommenssteuerspitzensatz von 51, dann 48,5 Prozent, jetzt im Augenblick bei 42 Prozent. Auch der Eingangssteuersatz ist von 19 Prozent auf jetzt 14 Prozentpunkte gesenkt worden. Das heißt, wir haben massive Steuersenkungen hinter uns, und zwar Steuersatzsenkungen hinter uns, die aber immer gegenfinanziert worden sind."
Genau das, die Gegenfinanzierung, ist bei dem, was vor allem die CDU nun vorschlägt, nicht mehr der Fall. Das gilt besonders für die Diskussion um die offensichtlichen Ungerechtigkeiten im Steuersystem wie die "kalte Progression" und den "Mittelstandsbauch". Wegen der "kalten Progression", bei der für viele Arbeitnehmer trotz steigender Bruttolöhne real weniger Netto bleibt, müssen mittlerweile selbst Normalverdiener den Spitzensteuersatz zahlen. Und in der Tat: Hier hat das deutsche Steuerrecht in der Vergangenheit voll zugeschlagen. Zum Vergleich: In den 50er-Jahren griff der Spitzensteuersatz erst beim 17-fachen des Durchschnittseinkommens, 2008 jedoch schon beim 1,3-fachen.
Für einen Wirtschaftsfachmann wie Prof. Johann Eekhoff, Direktor des Instituts für Wirtschaftspolitik an der Universität Köln und ehemaliger beamteter Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium zu Zeiten Jürgen Möllemanns und Günter Rexrodts, ist die "kalte Progression" etwas, dessen sich die Politik unbedingt annehmen muss:
"Wir haben eigentlich eine große Möglichkeit versäumt, nämlich mit dem Konjunkturprogramm die 'kalte Progression' zurückzugeben. Das wäre die Gelegenheit gewesen, um das Steuersystem an dieser Stelle zu korrigieren, denn man muss von Zeit zu Zeit das, was durch schleichende Inflation an höherer Belastung auf die Bürger zu kommt, wieder zurückgeben. Und es ist im Grunde schon ein Volumen von fast 25 Milliarden, worüber wir hier reden. Jetzt ist die Rede davon, etwa 15 Milliarden zurückzugeben. Das ist eigentlich schon zu wenig. Aber man hat die große Gelegenheit leider versäumt."
Und ob diese Gelegenheit jetzt - oder besser: nach der Wahl - wirklich da ist? Schließlich haben die Steuerschätzer im Mai, also vor gerade einmal sechs Wochen, für die nächsten vier Jahre wahre Horrorzahlen gemeldet: Ein Minus von 316 Milliarden Euro an Steuereinnahmen für die kommenden Jahre bis 2013 ist zu erwarten.
Wenn derzeit also nicht die Zeit ist, um über Steuersenkungen zu sprechen - worüber sollte man dann sprechen? Über die Sozialabgaben in Deutschland müsse geredet werden, meint die OECD, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Sie hat vor kurzem eine Studie veröffentlicht, nach der Deutschland im internationalen Vergleich bei den Abgaben besonders für Geringverdiener auf einem Spitzenplatz liegt - aber nicht wegen einer besonders hohen Steuerlast, sondern wegen der sprunghaft angestiegenen Sozialabgaben etwa für die Renten- und Krankenversicherung.
Einem Arbeitnehmer ist es am Ende egal, wie sich die einzelnen Abzüge von seinem Bruttogehalt aufschlüsseln. Es zählt, was netto rauskommt. Und das führt dazu, wie die OECD errechnet hat, dass einem Single mit einem Einkommen von 29.500 Euro pro Jahr - wahrlich kein üppiges Einkommen - bereits 47,3 Prozent an Steuern und Sozialabgaben vom Bruttolohn abgezogen werden. Das ist nach Belgien der zweithöchste Wert in der OECD-Gruppe, der 30 Industrie- und Schwellenländer angehören. Bei einem Jahresverdienst von 36.500 Euro liegt die Quote der Gesamtabzüge bereits bei 50 Prozent.
Der Durchschnittsverdienst der Deutschen liegt bei rund 44.000 Euro pro Jahr - und hier werden für Steuern und Sozialabgaben sogar 53 Prozent fällig. Den Spitzenwert erreichen Singles mit einem Einkommen von 63.000 Euro jährlich: Ihre Abzüge liegen bei satten 53,7 Prozent. Dann aber sinkt die Belastung wieder leicht: Für Alleinstehende mit einem Jahresbrutto von 110.000 Euro liegt sie laut OECD bei 50 Prozent. Das liegt daran, dass für alle über eine bestimmte Grenze - die "Beitragsbemessungsgrenze" - hinausgehenden Einkünfte keine Sozialversicherungsbeiträge mehr anfallen. Auch bei Paaren und Familien unterscheidet sich die Verteilung der Abgabenlast in Deutschland von der anderer OECD-Länder, heißt es in der Studie. Wenn beide Partner arbeiten, liege Deutschland bei der Abgabenlast an der Spitze.
Obwohl die "gefühlte Steuerlast" also für jeden Einzelnen auch hoch sein mag - das Problem hierzulande liegt weniger in einer zu hohen Steuerquote als vielmehr in zu hohen Sozialabgaben. Deshalb ist für einen Wirtschafts- und Steuerexperten, wie Prof. Johann Eekhoff, auch alles Gerede über die Senkung des Eingangssteuersatzes, mit dem die Parteien zu punkten versuchen, reine Augenwischerei. Viel wichtiger als der Eingangssteuersatz sei der Freibetrag, der steuerfrei bleibt, für jeden einzelnen Arbeitnehmer.
"Ob man nun mit zwölf oder 14 Prozent hineingeht macht im Grunde genommen keinen Unterschied, sondern wir reden viel mehr darüber, was viel wichtiger ist: Wann beginnt das? Und diese Diskussion kann man sinnvoll führen. Es soll das steuerfrei bleiben, was ein ALG-II-Empfänger für den Lebensunterhalt zugestanden bekommt. Und dahinter sind wir wieder etwas zurückgefallen. Das muss man anpassen. Und hier gilt das, was für die 'kalte Progression' immer wieder ausgesagt wird: Es ist nicht nur der 'Mittelstandsbauch', sondern es ist der Eingangssteuersatz, der bezogen wird auf ein Mindesteinkommen. Es müssen etwa 10.000 Euro frei bleiben. Wir haben für den Bezieher von ALG-II gut 800 Euro, wenn man das mit zwölf multipliziert, dann sieht man, wo wir etwa stehen, und das ist der Betrag, der in jedem Fall frei bleiben muss. Denn man kann nicht vom Steuerzahler Steuern verlangen für einen Betrag, den er - wenn er nicht arbeitet - vom Staat zurückbekäme. Also an der Stelle geht es eigentlich nur um den Freibetrag und nicht um den Eingangssteuersatz."
Nichtsdestoweniger: Steuer- und Sozialabgaben ergeben für Deutschland eine vergleichsweise hohe Belastungsquote. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt pendelt sie sich seit Jahren beharrlich über der 40-Prozent-Marke ein und ist damit höher als in allen anderen Ländern zwischen Nordkap und Mittelmeer.
Was sich also hinter der Klage von den "zu hohen Abgaben" verbirgt, ist in Wirklichkeit eine überproportionale Belastung von Vollzeitarbeitsverhältnissen durch Sozialabgaben. Der Bund der Steuerzahler bemängelt denn auch, dass es der Bundesregierung nicht gelungen sei, die Sozialversicherungsbeiträge nachhaltig zu senken. Im Gegenteil: Der Steuerzahlerbund befürchtet vor allem aufgrund der demografischen Risiken für die Zukunft weiter steigende Beitragslasten. Verschiedene Prognosen deuteten darauf hin, dass die Belastung der Bürger und Unternehmen allein mit Sozialversicherungsbeiträgen bis zum Jahr 2050 auf etwa 50 Prozent steigen dürfte.
Das mag noch weit hin sein, aber wenn man Steuern und Abgaben zusammenrechnet, ist schon jetzt die Mittelschicht die Zahlmeisterin der Nation, urteilt Markus Grabka. Der Wirtschaftswissenschaftler am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin arbeitet am Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung mit. Stärker als Reiche müsse die Mittelschicht zum Beispiel für Renten- und Krankenkasse blechen. Will heißen: Ohne den Mammutbeitrag der Mitte wird Bundesfinanzminister Peer Steinbrück das Defizit nie in den Griff bekommen. Deshalb kommt Grabka zu dem Ergebnis, dass die Debatte über Steuersenkungen für die Mittelschicht absurd sei.
So sieht das auch die OECD , die folgerichtig eine Senkung der Sozialabgaben vorrangig für Niedrigverdiener vorschlägt. Wohlgemerkt: Eine Senkung der Sozialabgaben und nicht der Steuern! Dennoch hat der Bundestag erst vor wenigen Tagen - auf Druck des Bundesverfassungsgerichts - das sogenannte "Bürgerentlastungsgesetz" verabschiedet. Dadurch zahlen die Bürger insgesamt knapp 10 Milliarden Euro weniger Steuern pro Jahr. Zum Beispiel, weil künftig Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung verstärkt steuerlich geltend gemacht werden können. Es stellt sich also die Frage: Führen solche Steuersenkungen, führt die Steuersenkungsdebatte der Parteien im anlaufenden Wahlkampf in die falsche Richtung? Müssten wir uns nicht vielmehr statt der Steuerpolitik der Frage zuwenden, wie es uns gelingt, die Sozialabgaben, sprich: die Lohnnebenkosten, zu senken? Winfried Fuest vom Institut der deutschen Wirtschaft:
"Sehr richtig. Und es zeigen auch entsprechende ökonometrische und empirische Untersuchungen, dass eine Senkung der Sozialabgaben die Arbeitskosten tangiert, also reduziert und damit die Wettbewerbsfähigkeit erhöht. Und damit auch die Chancen zur Erhaltung von Arbeitsplätzen verbessert. Und in der Tat liegt die Krux in Deutschland in der Abgabenquote selbst. Sie ist in den letzten Jahren explodiert, weil die Rentenversicherungsbeiträge gestiegen sind, weil man auch in der Pflegeversicherung in Zukunft mit höheren Beiträgen rechnen muss, Krankenversicherung ebenso - also hier ist eine Lawine angelegt."
Das alles sind Themen, die weitaus komplexer sind, als griffige Wahlkampfformeln von einer "Millionärssteuer", der Anhebung der "Reichensteuer" oder der Senkung des "Eingangssteuersatzes" für Geringverdiener. Denn wer sich einmal in die Untiefen des Gesundheitsfonds, den demografischen Risiken der Pflegeversicherung und in die komplexe Beitragsstruktur der Rentenversicherung eingearbeitet hat, weiß, dass hier keine griffigen, schnellen Lösungen zu erhalten sind. Und so lässt sich die Empfehlung der OECD, für weniger Sozialabgaben und eine stärkere Steuerfinanzierung von Sozialleistungen zu sorgen, nur schwer in die Praxis umsetzen.
Wie kompliziert mittlerweile das Geflecht aus Steuer- und Sozialpolitik geworden ist, zeigt Steuerexpertin Johanna Hey von der Universität Köln:
"Wir diskutieren das falsche Thema, wobei beide Themen zusammengehören. Denn man muss auch ganz klar sagen, dass aus dem Bundeshaushalt eben derzeit knapp 80 Milliarden Euro en bloc in die Rentenversicherung gehen - das ist ungefähr ein Drittel des Bundeshaushalts. Und das ist eine Zahl, die natürlich sofort explodiert, sobald die Beiträge einbrechen wegen steigender Arbeitslosigkeit. Das heißt, wir haben ja jetzt schon das Problem, dass wir die Steuern nicht senken können, weil wir die Reformen in den Sozialversicherungssystemen nicht durchführen und wir ja eigentlich die Sozialversicherungsbeiträge künstlich niedrig halten, weil wir steuerlich zuschießen."
Fazit: Der Steuer- und Abgabenstaat ist - forciert durch die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise - an die Grenzen seiner Belastbarkeit gekommen. Und zwar gleich auf zwei Seiten: Einerseits auf Seiten des Steuer- und Beitragszahlers, der nicht zu Unrecht sagt, dass er vom Staat immer weniger Leistung für immer mehr Abgaben aller Art bekommt, während zugleich immer höhere Schuldenberge zulasten kommender Generationen aufgetürmt werden, die erst recht niemand um ihre Einwilligung fragt.
Und andererseits auf Seiten des Staates, der aus einem Bundeshaushalt von 290 Milliarden Euro bereits heute 105 Milliarden an die Sozialkassen überweist, 41 Milliarden Euro für Zinszahlungen aufbringen muss und 28 Milliarden Euro an sein eigenes Personal auszahlt - nicht eingerechnet die zahlreichen "Schattenhaushalte". Wo da der Spielraum für Steuergeschenke nach der Wahl sein soll - das ist die 100.000-Dollar-Frage.