12. Mai 2024: Die chinesische Raumstation Tiangong-2 zieht über den Südpazifik. In den engen Modulen prüfen zwei Taikonauten am Bildschirm Orientierung und Bahnlage, ein dritter überwacht den Weltraum unterhalb der Station. Plötzlich bemerkt er ein grelles Leuchten: Gebannt verfolgt die Besatzung, wie die Feuerkugel in der Atmosphäre hin und her schlingert. Glühende Fetzen reißen ab und verlöschen. Nach wenigen Minuten ist der Spuk vorbei: Von der Internationalen Raumstation bleibt nur eine lange Rauchspur, die langsam verweht. Der einst stolze Außenposten der USA, Russlands, Europas und Kanadas ist planmäßig im Meer versenkt – die chinesische Station Tiangong aber zieht weiter ungerührt ihre Kreise.
Noch lässt sich über den Zustand der Weltraumfahrt in gut zehn Jahren nur spekulieren. Sicher aber ist, dass den alten Raumfahrtnationen mächtige Konkurrenz erwächst, die sich nicht mehr ignorieren lässt. Die Karten im All werden derzeit neu gemischt – und China sitzt längst nicht mehr am Katzentisch. Jan Wörner, Vorstandschef des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt DLR:
"China ist in der Lage, Taikonauten ins All zu schicken und wieder gesund zurückzubringen. Das können weltweit nur wenige Länder. Das kann Russland, das kann im Moment Amerika nicht. Insofern: Von dieser Fähigkeit der bemannten oder astronautischen Raumfahrt her muss man China tatsächlich sehr hohen Respekt zollen. Sie haben dort wirklich etwas geschafft. Und sie haben auch ein sehr klar strukturiertes, zukunftsorientiertes Raumfahrtprogramm, bis hin zum Aufbau einer eigenen Raumstation. Also: China ist in der Raumfahrt ein sehr ernst zu nehmender Partner."
China verfügt über die äußerst zuverlässigen Raketen vom Typ Langer Marsch, die bereits mehr als 200 Mal ins All gestartet sind. Mit ihren Raketen schicken die Chinesen Satelliten in die Erdumlaufbahn oder Sonden zum Mond, erstellen ein eigenes Netz aus Navigationssatelliten ähnlich dem US-amerikanischen GPS und sie transportieren Menschen zur kleinen Testraumstation. Im Schnitt alle drei Wochen startet eine neue Mission von chinesischem Boden aus. In manchen Jahren hat China sogar die USA bei der Anzahl der Raketenstarts knapp überflügelt – und lag nur noch hinter Russland. Spätestens mit den regelmäßigen Flügen der Taikonauten, wie die chinesischen Raumfahrer im Westen genannt werden, hat China demonstriert, dass es alle Technik beherrscht, über die eine Raumfahrtmacht verfügen muss. Kein Wunder, dass sich bei den Kollegen in aller Welt der Neid breit macht:
"Wenn Sie Neid als spezielle Form der Anerkennung sehen, ja. Denn China kann etwas und macht etwas, was Europa derzeit nicht macht. Nämlich eine eigene astronautische Raumfahrt zu haben."
Hartnäckig hält sich das Gerücht, China kopiere allein die russische Raumfahrttechnik. Tatsächlich gab es in den 50er-Jahren viel sowjetische Hilfe – doch mit dem politischen Zerwürfnis beider Staaten 1960 hörte auch diese Zusammenarbeit auf. Später haben die Chinesen eine Soyuz-Kapsel gekauft, auseinander gebaut – und schließlich eine verbesserte Variante konstruiert. Droht Russland industriell allmählich den Anschluss zu verlieren, so hat China genau hier eine seiner Stärken.
Ein weitläufiges Fabrikgelände am Stadtrand von Beijing: Montagehallen voller modernster Technik: Fertigungsstraßen, Testanlagen, Prüfstände. Ingenieure arbeiten in Schutzanzügen an neuen Raketenteilen, testen Raumkapseln und bauen elektronische Komponenten in Satelliten ein. Die kostbarsten Stücke entstehen in staubfreien Reinräumen, die denen europäischer oder amerikanischer Firmen in nichts nachstehen. Die zumeist jungen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sprechen fließend Englisch – und zeigen Besuchern aus Europa recht offen die neuesten Errungenschaften.
"Wir haben die Kapsel Shenzhou und das nächste Tiangong-Modul dort in der Betriebshalle anschauen können. Aber hineinsetzen war leider nicht möglich."
Thomas Reiter, Direktor für bemannte Raumfahrt und Weltraumbetrieb bei der Europäischen Weltraumagentur ESA, reist oft nach China. Was er dort zu sehen bekommt, lässt den erfahrenen Raumfahrer fast schwach werden, Schlips und Kragen doch wieder gegen den Weltraumanzug zu tauschen:
"Jeder Astronaut, klar, würde jede Gelegenheit wahrnehmen, in den Weltraum zu fliegen und dann auch mal die chinesische Technologie kennenzulernen, sowohl die Kapsel als auch die Raumstation. Das wäre eine tolle Sache."
Allein der Gedanke, ein europäischer Astronaut könnte in eine chinesische Kapsel steigen, wäre vor gut zehn Jahren noch völlig absurd gewesen. Doch China erntet nun langsam die Früchte seines klar strukturierten Raumfahrtprogramms. Das genaue Budget ist unbekannt, aber Experten schätzen, dass China pro Jahr umgerechnet auf westliche Verhältnisse grob zehn Milliarden US-Dollar in sein Raumfahrtprogramm investiert. Thomas Reiter:
"Es ist festzustellen, dass China natürlich in der Raumfahrt große Schritte voran macht. Wenn man jetzt die Entwicklung der Chinesen, die sie in der bemannten Raumfahrt gemacht haben, mit der Anfangszeit der Raumfahrt im Westen oder auch in Russland vergleicht, dann ist es so, dass sie da in verhältnismäßig kurzer Zeit auf einen Stand gekommen sind, der in den 60er-Jahren in den USA und Russland länger gedauert hat."
Derzeit entwickeln die Ingenieure verstärkte Versionen der Langer-Marsch-Rakete. Sie sollen für den Start größerer Module ins All oder bei Flügen zum Mond zum Einsatz kommen. Forschung und Industrie im Raumfahrtsektor haben Weltniveau erreicht. Setzt man etwa in Russland noch recht traditionell vor allem auf möglichst viele Testflüge, so arbeiten die chinesischen Experten mit aufwändigen Simulationen – nur dank dieser höchst modernen Technik war China in der Lage, mit gerade einmal fünf bemannten Flügen all das aufzuholen, was die USA und die UdSSR einst bei Dutzenden Missionen mühsam lernen mussten. Keine der bemannten chinesischen Missionen war eine reine Wiederholung der vorhergehenden, staunt Thomas Reiter über die Kollegen in Fernost:
"Es ist natürlich bewundernswert, mit welcher Konsequenz man stetig hier voranschreitet. Ziel ist es ja, bis Ende dieses Jahrzehnts eine chinesische Station aufzubauen. Soweit wir das sehen können, mit den Schritten, die sie bisher gemacht haben, überhaupt erst einmal eine bemannte Kapsel in den Orbit zu bringen, Rendezvous und Docking zu meistern, EVA [extravehikuläre Aktivität, die Redaktion] zu meistern, hat alles bisher wunderbar geklappt."
Irgendwo in der chinesischen Provinz Innere Mongolei, gut 1500 Kilometer nordwestlich von Peking. Eine karge Weite voller Staub, Geröll und Felsen – am Horizont verlieren sich ein paar geschwungene Bergketten. Mitten in dieser trostlosen Gegend ragen Startrampen und riesige Montagehallen in den Himmel. Zahlreiche Laborgebäude, Werkstätten, Treibstofftanks, Satellitenschüsseln, Gleisanschlüsse und Landepisten zeugen von großer Aktivität – in Baikonur oder im Kennedy Space Center der NASA sieht es nicht viel anders aus. Auf der Startrampe steht eine Rakete vom Typ Langer Marsch-3 – vollgetankt, die Treibstoffpumpen rauschen, Kühlmittelventile dampfen. Der Countdown läuft. Kurz nachdem die Sonne die Steppe in goldenes Licht taucht, zünden die Triebwerke. Auf dem Feuerstrahl steigt dröhnend die Shenzhou-Raumkapsel in den Himmel und mit ihr drei Taikonauten.
China gehört jetzt zu den drei großen Raumfahrtnationen – und nicht alle Staaten wissen schon, wie sie damit umgehen sollen. Entsprechend zwiespältig fallen die Reaktionen aus auf die Vorgänge im großen Weltraumbahnhof Jiuquan. Die Nachbarn Korea, Japan und Indien müssen erkennen, dass der Aufsteiger sie abgehängt hat. Die USA versuchen mit allen Mitteln, Chinas Aufstieg zu stoppen – und Europa freut sich auf einen neuen Partner. Weil Europas Raumfahrtpolitiker kein eigenes bemanntes Raumschiff genehmigen, sind die ESA-Astronauten auf Mitfluggelegenheiten bei ihren Partnern Russland und USA angewiesen. ESA-Direktor Thomas Reiter setzt darauf, dass bald auch China Sitzplätze in seinen Kapseln anbieten könnte.
"Wir arbeiten daraufhin, dass es irgendwann mal, vielleicht Ende dieses oder Anfang des nächsten Jahrzehnts, die Möglichkeit für einen europäischen Astronauten oder eine Astronautin gibt, zusammen mit den Chinesen zu fliegen."
Dies sind keine kühnen Träume mehr. Regelmäßig gibt es Gespräche zwischen den Raumfahrtverantwortlichen – und die ESA schätzt das Verhältnis zu China offenbar bereits als so gut ein, dass sie das Training ihrer Raumfahrer um einen bemerkenswerten Aspekt ergänzt hat:
"Einige Angehörige des europäischen Astronautencorps haben mit Sprachtraining begonnen. Das ist am Anfang natürlich eine der größten Hürden, die zu meistern sind. Ich spreche da aus eigener Erfahrung. Ich musste in relativ kurzer Zeit Russisch lernen. Wenn ich jetzt die chinesische Sprache sehe: Das ist eine tolle Herausforderung…Aber wir haben zwei Kollegen, die dieses Sprachtraining begonnen haben, auch bei den Ausbildern gibt es einen Kollegen, der mit dabei ist."
Zarte Anfänge einer europäisch-chinesischen Zusammenarbeit gibt es schon heute. Im Herbst 2011 hat ein Shenzhou-Raumschiff automatisch an die kleine Test-Raumstation Tiangong-1 angedockt. An Bord waren keine Menschen, dafür aber Fadenwürmer, Bakterien, Pflanzen und menschliche Zellen – untergebracht in der Simbox, einem von Astrium in Deutschland gebauten Experimentierschrank. Erstmals haben die Chinesen zugelassen, dass ausländische Technik in ihren Raumschiffen zum Einsatz kommt. Das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt hat mit diesem kleinen Experiment einen großer Schritt getan, erklärt Jan Wörner:
"Für uns war das ein ganz wichtiger Meilenstein in der Frage der Kooperation mit China. Es zeigt aber auch gleich ein wenig, wie wir in solchen Kooperationen denken. Wir glauben, dass die Kooperation in der Wissenschaft Brücken schlagen kann auch zu Ländern, mit denen wir vielleicht bei anderen Fragen etwas vorsichtiger sind, ob das nun die Rechte sind, die intellectual property rights, oder ob es die Menschenrechte sind."
Während China mit der automatischen Kopplung zweier Raumschiffe demonstrierte, dass es nun auch eine Schlüsseltechnologie zum Bau größerer Stationen beherrscht, freuten sich die deutschen Wissenschaftler über das Angebot, ihre Experimente in ungewohnter Umgebung fliegen zu lassen. Dass die wissenschaftlichen Experimente ein reines Feigenblatt der vom Militär beherrschten chinesischen Raumfahrtmissionen sind, wie manche Kritiker meinen, weist DLR-Chef Jan Wörner zurück:
"Ich hatte nicht das Gefühl, dass Simbox ein Feigenblatt ist. Ganz im Gegenteil. Ich hatte das Gefühl, dass Simbox für die Chinesen eine wesentlich größere Bedeutung noch hatte als für uns. Für uns war Simbox natürlich eine schöne Gelegenheit, mal wieder entsprechende Experimente fliegen zu lassen, die wir sonst vielleicht mit den Russen, Amerikanern oder den Indern geflogen wären. Und man hat von chinesischer Seite erwartet, dass dies jetzt gleich den nächsten Schritt folgen lässt, dass wir deutlicher und mehr auch im technologischen Bereich machen. Da sind wir derzeit noch nicht so weit, dass wir das wollen. Sondern wir wollen es zunächst einmal sehr stark konzentrieren auf den Bereich wissenschaftliche Kooperation."
Längst hat China einstige Mitbewerber hinter sich gelassen. Indien oder Japan etwa, die jeweils nur Satelliten starten können – aber noch Jahrzehnte von eigenen bemannten Flügen entfernt sind. Doch so verlockend die chinesischen Fähigkeiten auch sein mögen, so politisch heikel bleibt die Zusammenarbeit. Die größte Hürde ist sicher nicht die Frage der Menschenrechte. Kritisch sind vor allem Fragen des Patentschutzes sowie der Umgang mit militärisch nutzbarer Technologie. Thomas Reiter bleibt daher bei aller Bewunderung des chinesischen Programms vorsichtig:
"Wir müssen uns natürlich darüber im Klaren sein, dass die Motivation auf chinesischer Seite für dieses Raumfahrtprogramm insgesamt nicht nur die reine Wissenschaft ist, dass es da natürlich auch kommerzielle und auch sicherheitspolitische Interessen gibt. Insofern darf man da nicht den Fehler machen, blauäugig in eine Kooperation einzutreten. Aber das tun wir auch nicht.
Die ESA liefert bis auf weiteres keine Hochtechnologie an China. Jede Kooperation muss sie sich von den Mitgliedsstaaten genehmigen lassen. Reiter:
"Natürlich bemerken wir auch ein bisschen, es gibt großes Interesse von chinesischer Seite in den Bereichen, die sie technologisch noch nicht ganz gemeistert haben."
Europas Raumfahrer müssen froh sein, dass sich China noch nicht alle Fähigkeiten angeeignet hat. Gerade im Bereich der wissenschaftlichen Nutzung des Weltraums, beim Bau gut ausgestatteter bemannter Module oder der Erfahrung, wie sich Menschen viele Monate im All aufhalten können, hat der alte Kontinent die Nase noch vorn. Dieser Schatz ist die Eintrittskarte für die Kooperation, die beiden Seiten technisch wie wissenschaftlich dient. Allerdings lavieren die Europäer etwas, schließlich wollen sie ihren wichtigsten Raumfahrtpartner nicht vergrätzen – die USA. Die Vereinigten Staaten lehnen jede Zusammenarbeit mit China ab. Die Strategie lautet Abblocken, Isolieren, Behindern – so soll China das Schmuddelkind im Weltall bleiben. Der aktuelle NASA-Chef Charles Bolden, einst selbst als Astronaut mehrfach in den US-Raumfähren unterwegs, bemüht sich gar nicht erst, seine Frustration über diese Haltung zu verbergen:
"Soweit ich weiß, haben alle unsere internationalen Partner zu einem gewissen Grad Kontakte mit den Chinesen. Die NASA macht das nicht – weil uns gesetzlich verboten ist, mit China gemeinsame Weltraumaktivitäten zu beginnen. So einfach ist das."
Bolden lässt keinen Zweifel, dass zwar die NASA selbst den chinesischen Kollegen gegenüber gern eine andere Haltung einnähme, ihr aber die Hände gebunden sind:
"Dies entscheidet nicht die NASA – das ist eine Festlegung des US-Kongresses."
Auch mit ihren ITAR genannten Exportbeschränkungen für Hochtechnologie versuchen die Vereinigten Staaten verzweifelt, China auf Abstand zu halten. In der Tat behindern diese Regeln China, seine Raketen kommerziell besser zu vermarkten. Forschungs- oder Kommunikationssatelliten, die Komponenten enthalten, deren Export verboten ist, dürfen nicht mit den Langer-Marsch-Raketen starten. Von dieser Regelung profitiert auch Europa – denn so muss sich die Ariane beim Werben um Startaufträge kaum gegen chinesische Raketen durchsetzen. Allerdings würde die ESA den Mitbewerber aus Fernost auch keineswegs fürchten, betont Thomas Reiter:
"Natürlich gibt es auch Konkurrenz. Wir wissen, die Raumfahrtindustrie ist an der Grenze des technisch Machbaren, was den Bau von Satelliten angeht. Und gerade im kommerziellen Bereich gibt es da auch eine gewisse Konkurrenz, aber die ist gut fürs Geschäft."
Wie lange sich China kommerziell noch auf Abstand halten lässt, bleibt abzuwarten. Die Märkte reagieren schon heute auf ihre Weise. So hat die französische Industrie inzwischen eine Satellitenplattform entwickelt, die nicht unter die ITAR-Beschränkungen fällt und damit auch für Starts in China genutzt werden kann. Die USA sind gerade dabei, mit ihrer starren Haltung die chinesische Raumfahrt ungewollt zu stärken – und damit einen alten schweren Fehler zu wiederholen.
Ein früher Morgen im September 1955: In den Dunstschwaden vor Hongkong taucht der Passagierdampfer "President Cleveland" auf. Das aus Los Angeles kommende Schiff navigiert durch das Gewirr von Dschunken, Fischerbooten und Lastkähnen und macht schließlich am Kai fest. Unter den Passagieren ist Qian Xuesen: etwas schmächtig – über der hohen Stirn schwarze, kurze Haare. In den freundlichen Gesichtszügen des 44 Jahre alten Mannes spiegeln sich gleichermaßen Frustration und Vorfreude. Nach der erzwungenen Abreise aus den USA hat er nur ein Ziel: das China Mao Zedongs zur Raumfahrtnation zu machen.
Der Mann, der da an einem schwülen Septembertag in Hongkong von Bord geht, hat eine bemerkenswerte Karriere hinter sich: 1935 war er von Shanghai in die USA ausgewandert und hat schnell exzellente Abschlüsse an den Eliteuniversitäten MIT und Caltech vorzuweisen. Qian Xuesen gehört danach zu den führenden Köpfen am Jet Propulsion Lab, der Keimzelle der US-Raumfahrt. 1945 befragt er in Deutschland das Team um Wernher von Braun und sorgt mit dafür, dass viele Raketenpioniere des Dritten Reiches in die USA gelangen. Doch nur wenige Jahre später – in der von hysterischer Angst vor kommunistischer Unterwanderung geprägten McCarthy-Ära – gilt Qian Xuesen plötzlich als gefährlich. Binnen Wochen verliert er seine Anstellung und steht jahrelang unter Hausarrest. Seine Kollegen sind fassungslos. Vergeblich versucht Dan Kimball, ehemaliger Marineminister der USA, die Ausweisung des brillanten Raumfahrtingenieurs zu verhindern. Jahrzehnte später blickt er resigniert zurück:
"Es war das dümmste, was dieses Land je tun konnte. Qian Xuesen war nicht mehr Kommunist als ich es war – und wir haben ihn gezwungen, das Land zu verlassen."
Aufgrund von Misswirtschaft und dem Zerwürfnis mit der Sowjetunion Nikita Chruschtschows dauert es allerdings fünfzehn Jahre, bis das Reich der Mitte wirklich zur Raumfahrtnation wird.
1970 startet endlich Chinas erster Satellit, Dong Fang Hong. Unaufhörlich piepst er "Der Osten ist rot" zur Erde, ein Loblied auf Machthaber Mao Zedong. Bald sind die ersten Astronautenkandidaten ausgewählt – der bemannte Flug ins All scheint nur eine Frage der Zeit zu sein. Doch auch China steht sich mit der im Partei- und Staatsapparat verwurzelten Angst vor Umstürzen selbst im Wege. Immer wieder werden die Arbeitsgruppen zerschlagen, wichtige Persönlichkeiten versetzt oder gar hingerichtet. Nach der Kulturrevolution gilt Raumfahrt dann plötzlich als dekadent und irrelevant für die Menschen am Boden – die Programme werden für lange Zeit eingestellt. Erst 2003 schickt China mit Yang Liwei seinen ersten Astronauten ins All – und katapultiert sich so auf die große Bühne der Weltraumfahrt. Der Flug war das Meisterstück – seitdem gehören die Chinesen zum Club der führenden Raumfahrtnationen. Der nächste logische Schritt wäre eine Beteiligung Chinas an der Internationalen Raumstation – doch damit ist aufgrund der starren Haltung der USA zunächst nicht zu rechnen. Jan Wörner, Chef des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt:
"Ich fände es schöner, wenn auch in diesem Punkt der internationale Verbund funktionieren würde, dass wir also wirklich die Kräfte bündeln. Die Mittel sind überall begrenzt. Meine Auffassung ist nach wie vor, dass Kooperation in der Wissenschaft sehr hilfreich ist. Wenn man zurückblickt: 1975, das war noch zu Zeiten des Kalten Krieges zwischen dem Ostblock und dem Westen, trotzdem gab es ein Koppelmanöver zwischen Apollo und Soyuz. Das ist für mich weiterhin ein Zeichen, dass man eine Kooperation eben auch über politische Grenzen hinweg machen sollte. Aber das entscheiden andere, nicht der DLR-Chef."
Die aktuelle chinesische Raumstation Tiangong-1 dient nur der technischen Erprobung. Menschen sind allenfalls einige Wochen pro Jahr an Bord. Aber bis zum Jahr 2020 soll der dauerhaft besetzte Nachfolger im All sein – dann könnte es die absurde Situation geben, dass zwei Raumstationen um die Erde kreisen: Die völlig überdimensionierte Internationale Raumstation und die nur etwa ein Zehntel so große chinesische Tiangong-2. Thomas Reiter hofft, dass sich dies noch verhindern lässt:
"Die Ideallösung aus meiner Sicht wäre, dass man das kombinieren könnte. Da gibt es einige politische Hürden zu nehmen. Aber von europäischer Seite aus kann ich sagen, dass natürlich China ein willkommener Partner wäre. Und ich denke, auch einige andere am ISS-Programm beteiligte Nationen sehen das ähnlich."
Die politische Führung in Peking betont stets, man sei offen für Zusammenarbeit, sofern es "gegenseitigen Nutzen gäbe, es um eine friedliche Nutzung des Alls gehe und man Projekte gemeinsam entwickeln" könne. Zudem denkt die chinesische Raumfahrtindustrie schon voraus: Der Kopplungsmechanismus gleicht dem russischen System – Chinas Raumschiffe könnten praktisch sofort an der ISS andocken. In die Kapseln und Module passen die austauschbaren Standardschränke, wie sie Europäer, Amerikaner und Japaner nutzen. Die Chinesen wissen um ihr Potential – und wollen es nutzen. Reiter:
"Es steht außer Frage heute, dass China eine der großen Raumfahrtnationen auf diesem Planeten ist – mit den Trägersystemen, die sie haben, mit dem Spektrum an Missionen, die sie machen, auf nationaler Ebene. China hat gerade, was die Erkundung des Mondes angeht, sehr interessante Pläne."
Sinus Iridum, eine der markantesten Formationen auf dem Mond. Ein Gebirge umschließt im Halbkreis eine weite Basaltebene. Über die im gleißenden Sonnenlicht liegende Mondlandschaft wölbt sich das pechschwarze Firmament, an dem die Sichel der Erde leuchtet. Plötzlich taucht im Sternengewimmel ein weiterer Lichtpunkt auf, wird bald heller und größer. Einem riesigen Insekt gleich setzt ein Raumschiff vom Format eines Kleinbusses auf seinem Feuerstrahl zur Landung an. Staubschwaden wirbeln auf, bis die Landebeine einige Zentimeter tief in den Mondboden einsinken und das Triebwerk abschaltet. Eine Rampe klappt auf – und ein kleines Fahrzeug rollt in den Mondstaub.
Geht alles nach Plan, spielt sich diese Szene in wenigen Wochen auf dem Mond ab. Chang'e-3 soll gezielt auf unserem Trabanten landen – es wäre das erste solche Manöver seit der letzten sowjetischen Luna-Mission vor fast vierzig Jahren. Die beiden Vorgängersonden Chang'e-1 und 2 haben den Mond nur aus der Umlaufbahn erkundet – mit Chang'e-3 und 4, die in gut einem Jahr folgen soll, gehen die Chinesen jetzt einen entscheidenden Schritt weiter, erklärt Ralf Jaumann vom DLR-Institut für Planetenforschung in Berlin-Adlershof:
"Die zwei Missionen, die da kommen, werden den Versuch unternehmen, jetzt einmal robotisch auf dem Mond etwas zu tun, in Vorbereitung wiederum auf die nächste Mission, Chang'e 5, wo man nicht nur vor Ort den Mond untersuchen will, sondern auch Proben zurückbringen will. Dann verliert sich das Programm ein kleines bisschen im Nebulösen. Aber es wird durchaus gesagt, dass man Mitte bis Ende des nächsten Jahrzehnts auch über bemannte chinesische Mondmissionen nachdenkt."
Die Sonde Chang'e-3 kommt in ihrer Größe der Landefähre des Apollo-Programms schon recht nahe. Menschen hat sie nicht an Bord – aber fast scheint es, als wäre Platz für die Kabine. Tatsächlich geht China bei dieser Mission ganz auf Nummer sicher – und so erwarten die Mondforscher keine Wunder.
"Für China ist es ein Technologieexperiment. Chang'e-3 und 4 sind jetzt nicht etwas, wo man sagt, wir wollen die Mondforschung revolutionieren. Da geht es wirklich darum, dass die chinesische Raumfahrt die Dinge ausprobiert, nämlich weich auf dem Mond zu landen und sich dort zu bewegen. Das ist reine Technologie. Deswegen hat man sich, vermute ich – aber das vermute nur ich –, ein sehr einfaches Landegebiet ausgesucht."
Die wissenschaftlichen Daten werden wohl auch dieses Mal kaum ausländischen Forschern zur Verfügung stehen. Alle Raumfahrtprojekte sind in China Sache des Militärs – da gerät schnell auch das Foto eines Mondfelsens zur Verschlusssache. Doch das Thema Mond elektrisiert westliche Raumfahrer und Wissenschaftler viel zu sehr, um einfach zuzusehen, wie sich China zum Begleiter der Erde aufmacht. Die ESA hat, betont Thomas Reiter, bei der chinesischen Mondmission zumindest den Fuß in der Tür.
"Bei Chang'e-3 haben wir eine kleine, aber feine Rolle gerade hier am Europäischen Satellitenkontrollzentrum in Darmstadt. Wir werden also für die Chang'e-3-Mission die Bahnverfolgung mitmachen und da die chinesischen Kollegen unterstützen. Und es wird sicher auch, wie es in der Vergangenheit war, möglich sein, dann darauf aufzubauen. Es würde mich nicht wundern, wenn im nächsten Jahrzehnt auch in der bemannten Raumfahrt ein Schritt käme, man möchte mit Menschen auf dem Mond landen, also dann natürlich eine chinesische Mission."
China hat seit zwanzig Jahren seine Raumfahrtpläne konsequent umgesetzt. Daher gehen viele Beobachter davon aus, dass die neue Weltraummacht in einigen Jahren auch über die Technik verfügt, mit Menschen zum Mond zu fliegen – und sie auch einsetzen wird.
NASA-Chef Charles Bolden jedenfalls hätte kein Problem damit, wenn der 13. Mensch dort oben – also der erste, der nach den zwölf Apollo-Astronauten seinen Fuß in den Mondstaub setzt – chinesischer Nationalität wäre. Nach einem neuerlichen Wettlauf zum Mond steht ihm nicht der Sinn:
"Wenn wir von den Mondmissionen sprechen: Die USA waren bereits dort und sie waren die ersten. Vom Standpunkt der gesamte Menschheit aus betrachtet ist klar, dass der Erfolg jedes einzelnen auch allen anderen zu Gute kommt. Deshalb sage ich, dass die Vereinigten Staaten nicht ständig die führende Rolle einnehmen müssen. Der Mond wird für die US-Raumfahrt immer wichtig sein – aber derzeit gehört er nicht zu unseren bedeutendsten Zielen."
So weit hat es China also bereits gebracht: Die NASA tritt den Mond kampflos wieder ab. Sie hat nicht mehr die technischen Fähigkeiten, auf unserem Begleiter zu landen. China kann es ebenfalls nicht – noch nicht. Doch dies muss keine Wachablösung sein. Reine Prestige- und Machtprojekte im Weltraum kann sich auf Dauer heute kein Land allein mehr leisten – auch China nicht. Dafür sind die Finanzmittel überall zu sehr umkämpft. Zu den ganz großen Zielen dürfen auch die Chinesen derzeit nicht. Und die Amerikaner wollen es nicht – noch nicht. ESA-Direktor Thomas Reiter blickt ganz gelassen auf die aktuelle Lage. Der mit allen Wassern gewaschene Astronaut weiß, dass der nächste Riesensprung der Menschheit – wenn überhaupt – nur mit- und nicht gegeneinander zu schaffen ist.
"Wenn wir jetzt mal den Blick in das nächste Jahrzehnt nehmen, in das ultimative Ziel der bemannten Exploration, vielleicht in 20 oder 30 Jahren mal Menschen zu unserem Nachbarplaneten Mars zu schicken, dann steht es für mich außer Frage, dass alle, die hier dazu was beitragen können und gerade natürlich auch China, die jetzt demonstriert haben, dass sie ihre Fähigkeiten insgesamt und insbesondere in der bemannten Raumfahrt entwickeln, mit von der Partie sein werden."