Ralf Krauter: Was hat die Forscher an Pluto so überrascht?
Dirk Lorenzen: Plutos Oberfläche ist erstaunlich bunt und vielfältig. Es gibt Bergketten, die rund drei Kilometer aufragen, aber nicht aus Gestein bestehen, sondern aus steinhart gefrorenem Wassereis. Es gibt Bereiche mit vielen Kratern, die bis zu 260 Kilometern Durchmesser haben, zum Teil aber deutliche Erosionsspuren zeigen. In anderen Bereichen ist die Oberfläche perfekt glatt ohne jeden Krater, es sieht zum Teil aus als seien dort geradezu Gletscher geflossen, als seien Eismassen von unten aufgestiegen, die Atmosphäre verfügt über verschiedene Schichten von Dunst und so weiter. Man hatte einen mehr oder weniger komplett im Eis erstarrten Körper erwartet. Doch Pluto ist offenbar noch heute geologisch aktiv.
Krauter: Lässt sich diese Aktivität dort draußen am Rand des Sonnensystems erklären?
Lorenzen: Nein. Was genau diese Aktivität antreibt, ist unklar. Offenbar gibt es eine Art innere Wärmequelle - und das noch viereinhalb Milliarden Jahre nach der Entstehung! Manche Monde von Jupiter und Saturn zeigen Aktivität, weil ihr Planet sie regelrecht durchknetet. Diese Gezeitenreibung scheidet bei Pluto aber aus, denn Pluto und sein Mond Charon kreisen so umeinander, dass sie sich dabei immer dieselbe Seite zuweisen - da wirken diese Kräfte nicht mehr. Man wusste, dass Pluto im sonnennächsten Bereich seiner Bahn, den er vor rund 20 Jahren passiert hat, eine dünne Atmosphäre ausbildet, die dann im Laufe der Zeit wohl wieder ausfriert. Das könnte manche dünnen Eisschichten aus Stickstoff, Methan und Kohlenmonoxid an der Oberfläche erklären – aber natürlich nicht die gletscherartigen Bereiche.
Krauter: Zeigen die Forscher in ihrem "Science"-Artikel ganz neue Fotos?
Lorenzen: Manche Fotos sind schon länger bekannt. Die NASA veröffentlicht Woche für Woche neue Bilder der New-Horizons-Sonde. Da ist man - anders als es oft in Europa geschieht - sehr offen und lässt die interessierte Öffentlichkeit sofort teilhaben. Hier gibt es einige Detailbilder, die noch nicht veröffentlicht waren. Und auch ein schönes neues Farbfoto des ganzen Zwergplaneten: Am Äquator gibt es eher dunkle, rötliche Bereiche, in Richtung der Pole ist die Oberfläche eher heller und bläulich gefärbt. Die Farben zeigen, dass die Oberfläche je nach Region eine andere chemische Zusammensetzung aufweist.
Krauter: Was heißt das jetzt für unser Wissen über Pluto?
Lorenzen: Der Vorbeiflug wirft mehr Fragen auf, als er beantwortet hat. Es ist völlig unklar, wie genau Pluto, sein großer Mond Charon und die kleinen Trümmermonde entstanden sind. Es ist ein Rätsel, was genau auf der Oberfläche geschieht. Es werde sehr lange dauern, Pluto und seine Geschichte zu verstehen, sagt Alan Stern, der Chefwissenschaftler von New Horizons. Die kleinen, eisigen, vermeintlich langweiligen Objekte im Sonnensystem erweisen sich jetzt als so aufregend wie die Riesenplaneten Jupiter und Saturn. Die NASA-Sonde Dawn erforscht gerade den Asteroiden Ceres, Europas Rosetta-Sonde erkundet den Kometen Tschurjumow-Gerasimenko und New Horizons war am Pluto - und alle Missionen zeigen, dass die kleinen Körper ganz anders sind als bisher gedacht. Das Sonnensystem ist eine unglaublich vielseitige und dynamische Gegend.
Krauter: Ist der Pluto-Vorbeiflug für die Forscher nun abgehakt?
Lorenzen: Nein, die Mission dauert noch lange an, im doppelten Sinne. Zum einen sind noch längst nicht alle Daten zur Erde gefunkt - das wird bis zum Herbst des nächsten Jahres dauern! Zum anderen wird es viele Jahre dauern, alle Informationen zu einem großen Bild zu vereinen. Der Vorbeiflug der Sonde ist seit drei Monaten Geschichte, aber Pluto wird die Forscher noch lange beschäftigen.