Beim Gedanken an die Kollegen aus der Kardiologie konnten Psychiater bislang neidisch werden. Ob Infarkt oder Herzrhythmusprobleme - bereits ein einfaches EKG verrät dem Experten, wann der Patient Hilfe braucht. Viel schwerer hat es der Psychiater, sagt Ludger Tebartz van Elst von der Uniklinik Freiburg.
"Heutzutage werden eigentlich alle psychiatrischen Diagnosen rein auf der Grundlage der Befragung von Patienten, vielleicht auch von Angehörigen gestellt. Und es gibt keine objektiven Messmethoden, die mir sagen können, dieser Patient hat eine Depression, eine ADHS, eine Zwangserkrankung, eine Schizophrenie oder was auch immer."
Zumindest beim Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom ADHS könnte sich das bald ändern. In der Fachzeitschrift "PLOS one" berichtete der Psychiater kürzlich zusammen mit seinem Kollegen Emanuel Bubl und Michael Bach von der Freiburger Augenklinik: Auch Zappelphilippe lassen sich womöglich mit einer ganz einfachen Untersuchung erkennen. Emanuel Bubl:
"Was wir gemacht haben, wir haben eine Art EKG vom Auge gemacht. Das EKG untersucht die elektrophysiologische Funktion des Herzens und wir haben entsprechend am Auge die elektrophysiologische Funktion des Auges vor allem der Netzhaut untersucht."
Da die Netzhautzellen im Auge ausgewanderte Verwandte der Nervenzellen im Gehirn sind, kämpfen beide mit einem ähnlichen Problem: Sie ertrinken fast in der Flut der Sinneseindrücke und internen Signale, die auf sie einströmen. Der gesunde Mensch schafft es, die wichtigen Informationen aus dem Rauschen der unwichtigen herauszufiltern. Weil er das eine vom anderen unterscheiden kann, erklärt Tebartz van Elst. ADHS-Kranke dagegen scheitern immer wieder an dieser Herausforderung.
"Für den Betroffenen ist das alles viel verrauschter, also viel kontrastärmer und insofern natürlich auch schwerer, da bestimmte Reize auszusuchen. Oder er wird schneller abgelenkt zu dem nächsten Reiz, weil die Kontrastunterschiede geringer sind."
Unruhe, Konzentrationsschwäche, Reizbarkeit - die Symptome der Patienten lassen sich mit dieser Theorie gut erklären. Und man kann sie auch wissenschaftlich belegen - weil sich die Probleme im Gehirn im Auge der Betroffenen widerspiegeln. Die Methode: Die Patienten werden vor einen Bildschirm gesetzt, auf dem die Felder eines Schachbretts ständig die Farbe wechseln. Gleichzeitig misst eine mit Sensoren gespickte Kontaktlinse die elektrische Aktivität in der Netzhaut. In diesem Augen-EKG, dem sogenannten Elektroretinogramm, zeigte sich bei 20 untersuchten Patienten ein typisches Muster, erklärt Bubl:
"Was wir gefunden haben, ist bei Patienten mit ADHS, dass das Netzhaut-Hintergrundrauschen im Vergleich zur Aktivität des Signals deutlich erhöht ist und Patienten mit ADHS den Unterschied zwischen Signal und Hintergrundrauschen deutlich schwerer hinbekommen."
Diese Entdeckung wollen die Mediziner nun auch praktisch nutzen. Idee Nummer eins:
"Wir hoffen, eine Methode entwickeln zu können, die es uns erlaubt, den Therapieerfolg von psychotherapeutischen oder pharmakologischen Maßnahmen objektivieren, also messen zu können, oder auch die Therapie nach den entsprechenden Ergebnissen planen zu können."
Aber die Vision der Wissenschaftler reicht noch weiter:
"Punkt zwei ist, dass es zumindest denkbar ist, dass wir zukünftig unsere Diagnosen nicht nur auf der Grundlage von Befragungen, Anamnese-Erhebungen - wie wir sagen - stellen können, sondern dass zusätzlich dann ja objektive Befunde aus solchen Sehtests uns helfen können zu sagen, ob die Diagnose richtig ist oder falsch."
Für die Psychiater wäre das eine Sensation: Denn damit stünde ihnen für eine Krankheit erstmals ein unbestechliches, objektives Untersuchungsverfahren zur Verfügung. Gerade beim Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom wäre das besonders wertvoll, weil diese Diagnose immer wieder angezweifelt wird. Erste Folgeuntersuchungen machen Hoffnung. So scheint das ADHS-Medikament Ritalin tatsächlich das Hintergrundrauschen bei den Patienten lindern zu können.