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Raymond Queneau: "Zazie in der Metro"
Übersetzer Heibert: "Habe versucht, das mit den Mitteln der eigenen Sprache nachzuschaffen"

Frank Heibert hat den französchen Klassiker "Zazie in der Metro" von Raymond Queneau neu übersetzt - und sich dabei einige Freiheiten genommen. Er habe versucht, die Unmittelbarkeit dieses Buches in einer neuen sprachlichen Fassung an die Leserinnen zu bringen, sagte er im Dlf.

Frank Heibert im Gespräch mit Dina Netz |
Buchcover: Raymond Queneau: „Zazie in der Metro“, Foto: Gare d'Austerlitz
Zazie lernt in Raymond Queneaus Roman Paris kennen, allerdings ohne mit der Metro zu fahren (Foto: imago stock&people/Marius Schwarz, Buchcover: Suhrkamp Verlag)
Dina Netz: "Zazie in der Metro" ist bis heute in Frankreich ein Kultbuch. 1959 erschienen, wurde der Roman von Raymond Queneau sofort zum Bestseller und mit der Verfilmung von Louis Malle ein Jahr später auch zur Ikone – das Bild der Titeldarstellerin Catherine Demongeot findet sich bis heute auf vielen französischen Zazie-Ausgaben. Worum geht es in dem Buch? Eigentlich um Sprache und das Spiel damit, aber es gibt auch eine Handlung: Die ungefähr dreizehnjährige Zazie verbringt ein Wochenende bei ihrem Onkel Gabriel in Paris, weil ihre Mutter sich ungestört mit ihrem Liebhaber vergnügen möchte. Zazie will unbedingt mit der Metro fahren, aber die wird leider gerade bestreikt. Dafür erlebt die freche Zazie allerlei anderes, zumal ihr Onkel einen recht bunten Freundeskreis hat. Frank Heibert hat "Zazie in der Metro" jetzt neu ins Deutsche übersetzt und ein Nachwort verfasst. Herr Heibert – die bisher vorliegende Übersetzung stammte von Eugen Helmlé. Warum war jetzt eine neue dran?
Frank Heibert: Es ist so, dass sich das Übersetzen in den dazwischenliegenden 60 Jahren verändert hat. Die Art, wie wir sprechen, hat sich verändert. Es geht ja viel um Mündlichkeit und Dialoge in dem Buch. Außerdem ist die Forschungslage mittlerweile anders. Ich habe dank der ausführlichen Pléiade-Ausgabe mit ihren ganzen Materialien viel mehr Hintergrundinformationen bekommen können, als Helmlé das damals hatte. Dementsprechend gibt es also wirklich verschiedene Gründe, da nochmal zu schauen, dass man die Unmittelbarkeit dieses Buches in einer neuen sprachlichen Fassung an die Leserinnen bringt.
Netz: Dann hören wir in diese neue sprachliche Fassung, bevor wir weiter über das Buch sprechen, doch einfach mal rein. Frank Heibert liest jetzt eine Passage aus der Neuübersetzung von "Zazie in der Metro", und zwar die Eingangsszene, in der Zazie am Bahnhof in Paris ankommt:
Heibert: Gabriel lässt den Blick in die Ferne schweifen; die beiden sind bestimmt ganz hinten, Frauen halt, immer ganz hinten; aber von wegen, taucht da eine Rotznase auf und haut ihn an: "Chbin Zazie, und du bist mein Oheim Gabriel, wetten?" "Ja, der bin ich", erwidert Gabriel und legt ein gewisses Oho in seinen Ton. "Und jetzt fährst du mit deinem Oheim heim." Die Göre lacht sich weg. Gabriel nimmt sie mit höflichem Lächeln in die Arme, hebt sie an seine Lippen, küsst sie, sie küsst ihn, er setzt sie ab. "Du riechst ja sowas von gut", sagt das Kind. "Gorilla von Myves St. Fleurant", erklärt der Tarzan. "Tust du mir davon was hinter die Ohren?" "Das ist ein Herrenparfüm." "Du siehst, womit du es zu tun hast." Endlich schafft sich Jeanne Grossestittes bei. "Du wolltest ja drauf aufpassen, bitte, da hast dus." "Läuft", sagt Gabriel. "Kann ich mich auf dich verlassen? Weil, verstehst du, ich will nicht, dass sich die ganze Familie an ihr vergreift." "Aber Mami, letztes Mal warst du doch grad noch rechtzeitig!" "Wie auch immer", sagt Jeanne Grossestittes, "das kommt mir nicht nochmal vor." "Sei ganz unbesorgt", sagt Gabriel. "Gut. Dann treffen wir uns übermorgen hier, der Zug geht um 18 Uhr 60." "Bahnsteig Abfahrt", sagt Gabriel. "Natürlisch", sagt Jeanne Grossestittes, sie hat die Besatzung hautnah erlebt.
Ein großes Sprachspiel
Netz: Eine Passage aus "Zazie in der Metro" von Raymond Queneau in der Neuübersetzung von Frank Heibert. Herr Heibert, was hier jetzt gleich deutlich wird: Der Roman ist ein ganz großes Sprachspiel, die Königsdisziplin des Übersetzens. Da kann man jetzt vor Ehrfurcht erstarren. Mir scheint eher, Sie sind da mit einer ganz eigenen Unbekümmertheit drangegangen und haben mehr nachgedichtet als übersetzt. Kann man das so sagen?
Heibert: Ich habe so übersetzt, wie man immer übersetzt. Man guckt, was im Original passiert, was der Autor oder die Autorin damit bewirken wollte und versucht, das mit den Mitteln der eigenen Sprache nachzuschaffen. Das ist bei spielerischen Texten schon etwas, wo man einfach ein bisschen origineller werden muss im Deutschen, wo man einfach nicht jedem Satz genau ansehen kann, wie es im Französischen geheißen hat. Das sollte man eigentlich nie können. Dementsprechend könnte man auf die Idee Nachdichten kommen, aber ich bin der Überzeugung, dass Übersetzen eigentlich immer so geht, es fällt nur bei diesem Text besonders auf.
Netz: Das führt in Ihrem Fall zu vielen Freiheiten, um diese verschriftlichte Mündlichkeit, wie Sie es nennen, zu übertragen. Sie haben zum Teil sogar Namen geändert, von Mado Ptitpieds zu Mado Clainefusse. Der sprichwörtlich gewordene Satz des Papageis Laverdure heißt bei Ihnen auch etwas anders als bei Helmlé. Da heißt es bei Ihnen: "Du quatscht und quatscht, sonst hast du nichts zu bieten." War es nötig, so weit zu gehen mit den Freiheiten des Übersetzers?
Heibert: Die Abweichung von der ersten Übersetzung, das ist ja keine übersetzerische Freiheit, das ist einfach meine Interpretation. Und wenn man diesen Satz von Laverdure nimmt, dann kann man gucken, was der im Französischen für einen Rhythmus hat: "Tu parles, tu parles, c'est tout ce que tu sais faire?", "Du quatscht und quatscht, sonst hast du nichts zu bieten?" Das ist rhythmisch ziemlich gleich. Bei Helmlé heißt es, wenn ich mich recht entsinne: "Du quasselst, du quasselst, das ist alles, was du kannst."
"Ich hab es wirklich von mir aus gemacht"
Moderatorin: Genau, ja.
Heibert: Das ist rhythmisch wirklich… also zumindest anders, und das ist so der Punkt. Ich habe mir einfach angeguckt: Was passiert im Original? Ich habe nicht ständig auf Helmlé geschielt, wie er es gemacht hat, sondern es wirklich von mir aus gemacht. Und damit, glaube ich, bin ich absolut da, wo Übersetzer stehen sollten, nämlich zu sagen: Ich interpretiere diesen Text so, dass er im Deutschen hoffentlich eine äquivalente Wirkung zum Original hat.
Netz: Jetzt haben Sie gerade gesagt, inzwischen hat sich das Übersetzen verändert, die Sprache hat sich geändert seit der Übersetzung von Helmlé. Welche Halbwertzeit hat denn Ihre Übersetzung?
Heibert: Keine Ahnung, aber sicher wird sie irgendwann auch ablaufen. Irgendwann wird da jemand sitzen und sagen: Typisch Zehner Jahre, das muss man jetzt mal neu machen! Und das ist in Ordnung. Ich meine, es ist ja nicht so, dass Übersetzungen schneller altern würden als Originale. Die altern auch, nur nehmen wir das sozusagen in Kauf, wenn wir das Buch lesen, weil wir wissen: Das ist aus einer anderen Zeit. Wenn aber ein Text sich dazwischenschiebt aus einer anderen Zeit, also ein deutscher Text aus einer anderen Zeit, die weder Original- noch Lesezeit ist, dann stört uns das. Ich finde das völlig normal, und insofern hoffe ich, sie hält ein bisschen. Wenn Sie dafür noch mal ein Beispiel wollen: Es gab ja diesen Satz, wo Gabriel einfach sagt: "Läuft". Da steht im Französischen "Ça ira", und bei Helmlé stand "Es wird schon gehen". Und wenn es um Schnelligkeit, Unmittelbarkeit und Direktheit geht, dann, finde ich, kann man da noch mal ein bisschen Tempo zulegen im Vergleich zu "Es wird schon gehen".
"Sie tritt immer altklug auf"
Netz: Auf jeden Fall ist Ihre Übersetzung schnittig, das kann man, glaube ich, sagen. Kommen wir zu dem Buch überhaupt. Das hat ja eine unglaubliche Erfolgsgeschichte gehabt. Sie vergleichen Zazie in Ihrem Nachwort mit Pippi Langstrumpf. Das stimmt in Sachen Respektlosigkeit ganz sicher. Andererseits ist sie auch eine Heranwachsende, die keine Ahnung hat, was "hormosessuell" bedeutet. Ist es diese Mischung aus Rotzigkeit und Naivität, die die Figur Zazie so interessant macht?
Heibert: Unter anderem ja, ganz klar. Sie weiß von vielem erst mal nix, aber sie tritt immer altklug auf und lässt sich nicht die Butter vom Brot nehmen. Und dieser Kontrast in der Figur ist natürlich für uns lustig. Das ist ja auch ein bisschen süß. Der Unterschied zu Pippi Langstrumpf ist der, dass Pippi Langstrumpf macht, was sie will, weil sie keinen hat, der ihr Vorschriften macht. Und Zazie hat ständig Leute um sich rum, die versuchen, ihr Vorschriften zu machen, und das lässt sie sich nicht gefallen. Das ist also noch ein bisschen frecher und passt auch noch mehr zu Queneau.
Netz: Eigentlich ist ja auch ein weiterer Unterschied, dass die Umgebung von Pippi Langstrumpf ziemlich piefig ist, wohingegen die Umgebung von Zazie genauso schräg und frech ist wie sie selbst. Was ist der Grund dafür, dass das Buch bis heute so beliebt ist? Ist es die Figur Zazie, sind es all diese schillernden Figuren, oder ist es die Stadt, die da beschrieben wird? Was denken Sie?
Heibert: Ich glaube, es ist wirklich der Mix. Wir haben einen Stadtroman, wir haben eine Art von Roadmovie durch Paris mit genau all dem, was ein Roadmovie auszeichnet mit irgendwie absurden Begegnungen und Überraschungen und wo der Plot gelegentlich auch mal vergessen wird, und dann kommt was anderes, und irgendwann geht es dann wieder dahin zurück. Das ist das eine, die Paris-Atmosphäre. Dann natürlich diese originellen Figuren, die in jeder Großstadt vorkommen, aber nicht in jedem Roman darüber. Und dann natürlich der Humor, der in der Sprache liegt, also auch der Genuss, mit dem Queneau selbst zwischen einer ironischen Erzählerinstanz und den sehr direkt und manchmal auch ironischen, umständlich sprechenden Figuren wechselt. Das macht einfach Spaß für jeden, der an Sprache ein bisschen Spaß hat. Und diese Respektlosigkeit ist das, was das alles zusammenhält. Also Autoritäten überzeugen uns nur, wenn sie uns überzeugen. Wenn nicht, tritt man ihnen vor das Schienbein.
Eine viel queneauschere Idee
Netz: Jetzt haben Sie sich erlaubt, etwas auf Deutsch zugänglich zu machen, was es bisher noch gar nicht auf Deutsch zu lesen gab, nämlich zwei Passagen aus einer früheren Manuskriptfassung von Queneau, in denen Zazie dann letztlich doch mit der Metro fährt. Die hatte Raymond Queneau rausgenommen, bevor er das Buch im Original veröffentlicht hat. Warum haben Sie diese Passagen jetzt noch mit dazu genommen?
Heibert: Queneau hat in den 40er-Jahren angefangen, das Buch zu schreiben. Da war die Idee, wie man mittlerweile aus Materialien weiß, dass eine Göre aus der Provinz in die Großstadt kommt, da die Metro entdeckt und ganz begeistert ist. Dann hat er das Buch zur Seite gelegt aus biografischen Gründen und hat dann gegen die zweite Hälfte der 50er es wieder vorgenommen und dann, wie man in diesen Materialien lesen kann, gedacht: Die Metro hat sich doch ziemlich verändert, das kann ich eigentlich alles gar nicht mehr so schreiben. Offenbar hatte er dann keine Lust, diese Kapitel neu zu schreiben, sondern hatte eine ganz andere und viel queneauschere Idee, zu sagen: Ich mache hier eine Antiklimax: Ich nenne das Ding "Zazie in der Metro", und sie kommt überhaupt nicht in die Metro rein bis auf den Schluss, wo sie im Erschöpfungskoma nach Hause gebracht wird, als die Metro nicht mehr bestreikt wird.
Netz: Wo sie es nicht mehr mitbekommt, dass sie Metro fährt.
Heibert: Genau. Nun ist es so, dass in der Pléiade-Ausgabe seines Gesamtwerkes - Pléiade ist sozusagen der Verlagsolymp in Frankreich. Jeder, der einen großen Namen hat, kriegt irgendwann eine Gesamtausgabe bei der Pléiade. Darin sind diese Vorstudien und Materialien und auch diese beiden Kapitel in der Metro abgedruckt. Die waren noch gar nicht zugänglich, als Helmlé damals übersetzt hat. Ich habe dann mit Suhrkamp - wir haben darüber diskutiert: Was machen wir da? Das wäre doch irgendwie lustig, wenn man das anbietet. Und so gibt es also zwei Kapitel, das vierte und das zehnte, von denen man aus dem Text raus praktisch umsteigen kann in den Anhang und umsteigen kann in die Metro, denn die sind fast ersatzweise zu lesen. Und dann kann man hinterher wieder in die Handlung vorne zurück, einfach damit man sieht: So wäre es gewesen, wenn Queneau die Kleine doch durch die Metro geschickt hätte.
Netz: Wäre aber ein bisschen schlapper gewesen, habe ich den Eindruck gehabt, oder?
Heibert: Na ja, erste Fassung halt, frühere Fassung. Man merkt schon den Queneau, und es passiert da sprachlich auch schon einiges, aber klar: Alles, was funktioniert, hat weniger Komikpotenzial als das, was nicht funktioniert. Man kann sie ja am Schluss lesen, um diese Abzweigung, die "alternative reality" sozusagen, sich noch mal anzugucken. Aber es ist ja nicht so, dass die jetzt tatsächlich im Text selbst als Ersatz von Kapitel vier und zehn stünden, und die gäbe es dann nicht. Insofern, weil wir einen Klassiker vor uns haben, der 60 Jahre alt ist, ist es eher auch das Bemühen, ein bisschen um den herum was zu liefern, damit man es noch mal besser verstehen kann. Das ist ja auch der Sinn zum Beispiel von dem Nachwort und von den Anmerkungen, damit man einfach ein bisschen Zusatzinformationen kriegt. Das ist bei Klassikern, auch modernen Klassikern, glaube ich, eine gute Idee.
Raymond Queneau: "Zazie in der Metro"
Aus dem Französischen von Frank Heibert
Suhrkamp Verlag, Berlin. 240 Seiten, 22 Euro.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.