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RE: Das Kapital (6/6)
Kooperation als Quelle des Reichtums

Der Journalist und politische Schriftsteller Robert Misik erklärte das Finanzsystem in seinem letzten Buch zum "Kaputtalismus". Er plädiert für eine "Miteinander-Ökonomie". Im letzten Teil der Sendereihe "RE: Das Kapital" beschäftigt er sich ausgehend von Marx mit der Kooperation als Erfolgskonzept.

Von Robert Misik |
    Ein Demonstrant auf einer Friedensdemo hält ein Schild vor sich. Auf dem Schild ist eine Weltkugel abgebildet die von mehreren Händen festgehalten wird. Auf die Kugeln fliegen von der einen Seite Friedenstauben und von der anderen Kampfflugzeuge zu.
    Misik plädiert für Kooperation als Alternative zum Kapitalismus. (imago / IPON)
    Vor 150 Jahren erschien eines der Hauptwerke von dem deutschen Philosophen, Ökonom und Gesellschaftstheoretiker Karl Marx – "Das Kapital". Globalisierung, Automation, Finanzcrash, Klima, Armutsrevolten, Wachstumsschwäche – die multiple Krise der Weltwirtschaft, die wir durchleben, nimmt kein Ende. Warnungen über die explosiv wachsende Ungleichheit und Mutmaßungen über das 
Ende des Kapitalismus werden schon längst nicht mehr nur von stehengebliebenen Sozialisten, sondern unter den Eliten der Weltwirtschaftsgipfel diskutiert.
    Grund genug, "Das Kapital" noch einmal gründlich zu lesen. Sechs Autoren – Soziologen, Publizisten, Politiker, Philosophen – haben das für den Deutschlandfunk getan. Ausgehend von jeweils einem Kapitel des Werkes ziehen sie in "Essay und Diskurs" Linien in die Gegenwart und denken über Aktualität und Grenzen der Marx'schen Theorie nach – nicht marxologisch, nicht akademisch, sondern um ihre Brauchbarkeit zu untersuchen, und das durchaus subjektiv, essayistisch und mit Gegenwartsbeobachtungen durchsetzt. Ihren Blick richten sie auf die politischen Möglichkeiten der Gegenwart, denn darauf, so Marx, kommt es an: Die Welt nicht nur zu interpretieren, sondern sie zu verändern.
    Robert Misik untersucht die Kooperation als Quelle des Reichtums und der Veränderung. Er ist Journalist und politischer Schriftsteller.

    Einführung
    Wir kennen nur eine Wissenschaft - die Wissenschaft von der Geschichte. So lautet einer der programmatischen Sätze, mit denen Marx und Engels ihre Methode beschreiben: die materialistische Geschichtsauffassung. Materialistisch, das heißt: Gesellschaftsformen, politische Systeme und Mentalitäten gründen in der Art und Weise, wie eine Gesellschaft produziert. Und historisch heißt: Wirtschaftspraktiken, Gesellschaftsstrukturen und die Bewußtseinsformen, ja, das Wesen des Menschen sind nichts überzeitliches, sondern in ständigem Wandel begriffen.
    "Eine historische Anthropologie der Arbeit"
    Marxens ökonomisches Werk enthält nicht nur die Kritik des Kapitalismus, sondern, über viele Schriften verteilt, eine historische Anthropologie der Arbeit. Der Mensch, so zitiert Marx Benjamin Franklin, ist das "werkzeugmachende Tier". Deshalb können wir die Epochen der Menschheitsgeschichte danach unterteilen, mit welchen Werkzeugen - darüber belehren uns die Funde der Archäologie - und in welchen Organisationsformen Gesellschaften ihren "Stoffwechsel mit der Natur" organisieren.
    Anders als alle anderen Primaten besitzen Menschen die Gabe der Kooperation. Aber auch die Kooperation hat ihre Geschichte: von den mit der Peitsche angetriebenen Sklavenheeren der Ägypter bis zu den nur mehr über Computernetzwerke verbundenen Spezialisten unserer Tage.
    Im Kommunistischen Manifest können Marx und Engels den Kapitalismus nicht hoch genug preisen, weil er die Produktivkräfte entwickelt. Damit sind nicht nur die Maschinen gemeint, sondern auch die menschlichen Produktivkräfte: die Fertigkeiten der Arbeiter, ihre Fähigkeit zur Kooperation und zur Solidarität. Die Geschichte der Lohnarbeit im Kapitalismus ist also eine der Entfremdung, aber ebenso eine der Formung von gesellschaftlichem und politischem Bewusstsein – und von Menschenbildern und Motivationen.
    Automatisierung als das "Ende der Arbeit"?
    Angesichts der anstehenden Automatisierungswelle stehen wir wieder einmal vor einer Schwelle in der Geschichte der Arbeit. Wieder wird vom "Ende der Arbeit" geredet. Eine Gesellschaft ohne Arbeit, das wäre für Marx undenkbar gewesen: "Die Gesellschaft findet nun einmal nicht ihr Gleichgewicht," so schrieb er einmal, "bis sie sich um die Sonne der Arbeit dreht". Sigmund Freud wäre ihm darin übrigens gefolgt: Nichts, so befand dieser, binde den Einzelnen so fest an die Realität und an die menschliche Gemeinschaft wie die Arbeit.
    "Kooperation", so lautet die denkbar knappe Überschrift über dem 11. Kapitel des "Kapital". Robert Misik hat es noch einmal gelesen, für den sechsten Teil unserer Reihe, die nach der Aktualität des Marxschen Hauptwerkes fragt. Robert Misik ist Journalist und Schriftsteller, er arbeitet für österreichische und deutsche Medien, betreibt einen Videoblog beim Wiener Standard und hat zahlreiche Bücher über Ökonomie, Sozialismus und Globalisierung verfasst. Zuletzt erschien von ihm das Buch "Kaputtalismus. Wird der Kapitalismus sterben und wenn ja, würde uns das glücklich machen?" Sein Essay über das 11. Kapitel des "Kapital" trägt die Überschrift "Miteinander gegeneinander arbeiten".

    Das Manuskript in voller Länge:
    "Das Wirken einer größern Arbeiterzahl zur selben Zeit, in dem selben Raum (oder, wenn man will, auf demselben Arbeitsfeld), zur Produktion derselben Warensorte, unter dem Kommando desselben Kapitalisten, bildet historisch und begrifflich den Ausgangspunkt der kapitalistischen Produktion," so formuliert es Karl Marx in den Eingangspassagen des 11. Kapitels des "Kapital" mit der knappen Überschrift: "Kooperation".
    Ja, klar, mag man jetzt denken: Kooperation, da können wir uns alle etwas vorstellen. Kooperation, das ist etwas Schönes, hat einen freundlichen Beiklang. Keine weiteren Fragen. Aber es ist gar nichts einfach mit der Kooperation.
    Ein Miteinander im Gegeneinander
    Denn der Kapitalismus ist eine eigentümliche Sache. Die Fabrikanten wollen, dass ihre Arbeiter miteinander arbeiten, aber doch nicht so, dass allzu viele Solidaritätsgefühle entstehen. Die Unternehmer selbst konkurrieren miteinander, kommen zugleich aber auch nicht ohne einander aus. Er ist ein Miteinander, das zugleich ein Gegeneinander ist. So gebiert gerade der Kapitalismus auf vielen Ebenen die Kooperation, hemmt sie aber zugleich. Sie ist ambivalent, oder mit dem Begriff, der sich wie ein roter Faden durch Marx' Werk zieht: Sie hat einen Doppelcharakter.
    Im Laufe seiner Entwicklung zwingt der Kapitalismus immer mehr Menschen in den Produktionsprozess. Anders als der vorkapitalistische Handwerker, der sein Produkt von Anfang bis zum Ende formte, oder der Bauer, der sät, ackert, erntet, aufzieht, füttert, schlachtet, wird der Mensch zunächst in der Manufaktur, und dann in der Fabrik ins Räderwerk einer Apparatur gespannt. Der Arbeiter, der in der Nadelfabrik nur den Draht walzt, Tag für Tag, Stunde für Stunde. Der andere Arbeiter, der die Maschine bedient.
    Arbeiter am Fließband bei der Endmontage des Kadett im Opelwerk in Rüsselsheim 1936.
    Arbeiter am Fließband bei der Endmontage des Kadett im Opelwerk in Rüsselsheim 1936. (picture alliance / dpa / Opel_Werksfoto)
    Die Aufspaltung der Arbeit in viele Schritte erhöht die Fähigkeiten der Arbeiterarmee als ganze, steigert die Produktivität ins vorher Ungeahnte, lässt aber zugleich die Fertigkeiten des einzelnen Arbeiters verkümmern. Diese Kooperation ist nicht die von wachen, kreativen Individuen, sondern eine des geistlosen Ineinander befohlener Handgriffe.
    Nichts ist einfach und simpel in diesem Prozess, sondern gegenläufig. Der Volksmund würde sagen: Die Quadratur des Kreises. Es wäre übertrieben, zu sagen, dass in der kapitalistischen Kooperation nur die Fähigkeiten des Menschen zum Gemeinschaftlichen angestachelt werden. Es wäre aber ebenso übertrieben und ungenau, zu sagen, dass sie nur unterdrückt werden. Es ist ein sowohl als auch. Eine widersprüchliche Gleichzeitigkeit.
    Arbeitsteilung als Siamesischer Zwilling der Kooperation
    Ebenso ist es mit der Arbeitsteilung, dem siamesischen Zwilling der Kooperation: Einerseits werden die Fertigkeiten verfeinert. Erst die Arbeitsteilung lässt so etwas wie ein virtuoses Ineinandergreifen von Akteuren zu, die sich in irgendeinem Teilaspekt der Tätigkeit wirklich spezialisieren, im besten Fall ihre Talente entfalten.
    So entsteht der Facharbeiter, der stolz ist auf seine Fertigkeiten. "Die Arbeit hoch!" wird die frühe Arbeiterbewegung bald sagen, womit die Achtung gemeint war, die dem Arbeiter auch seiner Kompetenzen wegen zusteht. Zugleich ist die Fabrik auch der Geburtsort des ungelernten Arbeiters, der nicht mehr können muss als ein, zwei Handgriff, in die er in ein paar Tagen eingewiesen ist
    "In der Tat", so schreibt Marx etwas gallig, "wandten einige Manufakturen in der Mitte des 18. Jahrhunderts für gewisse einfache Operationen ... mit Vorliebe halbe Idioten an."
    Aufs Ganze gesehen ist die Fortschrittsgeschichte des Kapitalismus eine der immer dichteren Kooperation - Handgriff für Handgriff, Produktionsschritt für Produktionsschritt, auf immer höherer "Stufenleiter der Kooperation", alles exakt ausgetüftelt von Leuten, die eben nicht diese Arbeiter waren. Eine Kooperation, in der die Kooperierenden nichts mitzureden haben, denn, so schreibt Marx, "die Kooperation der Lohnarbeiter ist ... bloße Wirkung des Kapitals, das sie gleichzeitig anwendet. (...) Der Zusammenhang ihrer Arbeiten tritt (den Arbeitern) deshalb ideell als Plan, praktisch als Autorität des Kapitalisten gegenüber, als Macht eines fremden Willens, der ihr Tun seinem Zweck unterwirft". Die Kooperation unter diesen Bedingungen ist "der Form nach despotisch". Die Schlüsselbegriffe sind Planung, Kontrolle, Überwachung. "Ein einzelner Violinspieler dirigiert sich selbst, ein Orchester bedarf des Musikdirektors", so charakterisiert Marx die technische Notwendigkeit der betrieblichen Organisation auf dieser Stufe.
    Unter kapitalistischen Verhältnissen allerdings äußert sich die Kraft, die in diesem überindividuellen, kollektiven Zusammenwirken liegt, in verkehrter Form: als Herrschaft über Individuen: "Die Soziale Macht, die durch das Zusammenwirken entsteht", wird, so schreibt Marx, von den Kooperierenden "nicht als ihre eigene, vereinte Macht, sondern als eine fremde, außer ihnen stehende Gewalt erfahren". Der Musikdirektor ist eben auch der Eigentümer, der an der Musik reich werden will.
    Selbst in diesen frühen Epochen kapitalistischer Produktion gilt aber schon, eine Tatsache, die in späteren Tagen gänzlich unübersehbar wurde, dass die Vorteile dieser Kooperation nicht nur in der effizienten Kombination von Arbeitsschritten auf stetig höherer Stufenleiter liegen, sondern auch im eigensinnigen, wechselseitigen und kreativen Miteinander der Kooperierenden selbst. Mit Marx gesagt: "Abgesehen von der neuen Kraftpotenz, die aus der Verschmelzung vieler Kräfte in eine Gesamtkraft entspringt, erzeugt bei den meisten produktiven Arbeiten der bloße gesellschaftliche Kontakt einen Wetteifer und eine eigne Erregung der Lebensgeister (animal spirits), welche die individuelle Leistungsfähigkeit erhöhen."
    Der Mensch als "ein gesellschaftliches Tier"
    Diese "Erregung der Lebensgeister" ist ja nicht der unwesentlichste Grund dafür, dass zehn Leute, die zusammen arbeiten, mehr weiter bringen werden als zehn Leute, die zeitgleich auf sich alleine gestellt arbeiten. Und zwar nicht nur, weil beispielsweise nur zehn Leute einen Felsen von einer Tonne Gewicht bewegen können, während das ein Einzelner niemals könnte, sondern weil diese zehn Leute vielleicht beim Austüfteln der besten Möglichkeiten, eine solche Aufgabe zu lösen, auf verschiedene Ideen kommen, die sie dann kombinieren, bis die beste Idee gefunden ist, die ein einzelner niemals finden hätte können. "Dies rührt daher", so Marx, "dass der Mensch von Natur, wenn nicht, wie Aristoteles meint, ein politisches, jedenfalls ein gesellschaftliches Tier ist." Und weiter: "Im planmäßigen Zusammenwirken mit anderen streift der Arbeiter seine individuellen Schranken ab und entwickelt sein Gattungsvermögen." Indem er mit anderen gemeinsam tätig ist, erfährt er sich als Teil eines größeren und mächtigeren Ganzen - und gleichzeitig die Grenzen eines bloß individuellen Wirkens und Lebens.
    Kein Unternehmer hat natürlich Arbeiter deswegen engagiert, damit das passiert. Aber wie so oft in der Welt entsteht auch in der Fabrik etwas, was kein Fabrikant so je geplant hat, genauso wie im Kapitalismus überhaupt Prozesse wirksam werden, die aus dem Zusammenspiel verschiedener Aktivitäten entstehen, die aber im strengen Sinne "niemand gewollt" hat, wie Friedrich Engels das einmal nannte, die also weder geplant noch vorausgesehen sind.
    Arbeiter sind nicht nur willenlose Arbeitsgäule - sondern auch Kollegen
    Die in der Fabrik zusammengepferchten Arbeiter erweisen sich eben nicht als bloße willenlose Arbeitsgäule, die anonym nebeneinander ihre Handgriffe erledigen.
    Beispielsweise entwickeln sie Gemeinschaftsgeist. Der Begriff des "Kollegen" entsteht, der uns heute selbstverständlich erscheint. Aber was schwingt in diesem Begriff denn mit? Eine Gemeinsamkeit, auch ein Zusammenhalt, der weit über die bloße Verbundenheit hinausgeht, welche der Tatsache geschuldet ist, dass man zufällig in die gleiche Situation geworfen ist. Man hilft sich, und steht füreinander ein.
    Kollegen des VEB Stahlbau Brandenburg montieren in ca. 60 Meter Höhe das Stahlgerüst für das erste Kraftwerk des Kombinats "Schwarze Pumpe", aufgenommen am 09.06.1958.
    Arbeiter entwickelten Gemeinschaftsgeist. (picture alliance / dpa / Zentralbild)
    Zwar lasen sich die frühen Fabrikordnungen meist wie Verbotslisten, die an Vorschriftenkataloge für Gefängnisinsassen erinnerten. So drohte etwa für "Bummelei" die sofortige Entlassung. Aber es schlichen sich doch bald allseitig respektierte Grauzonen ein. So wurde es üblich, dass kräftigere Arbeiter schwächere unterstützten. Arbeiter konnten sich in einem Eck ausschlafen - etwa jene, die gerade ein Haus für die Familie bauten und entsprechend erschöpft zur Arbeit kamen -, dafür arbeiteten die Kollegen eben einen Zahn schneller. Noch im späteren Akkordsystem fanden sich schnell Möglichkeiten, dass die leistungsstärkeren Arbeiter die gerade schwächeren unterstützten.
    Praktiken dieser Art gingen über das bloße Anekdotische hinaus; aus dieser instinktiven Solidarität unter den Arbeitern wuchs etwas, das später Klassenbewusstsein heißen sollte.
    Die in großer Zahl in der Fabrik konzentrierten Arbeiter entwickelten natürlich auch ein hohes Drohpotenzial, wie Marx erkannte: "Mit der Masse der gleichzeitig beschäftigten Arbeiter wächst ihr Widerstand und damit notwendig der Druck des Kapitals zur Bewältigung dieses Widerstandes." Bewältigung des Widerstandes ... dafür gibt es mannigfaltige Varianten in der Geschichte. Die Kapitalseite hat den Widerstand mit Gewalt gebrochen; sie hat - was in der Praxis häufig geschah - die Arbeiter entlassen oder durch willfährigere ersetzten; sie kann darauf bauen, dass die meisten Arbeiter sich aufgrund ihrer persönlichen Lage Eigensinn oder gar Protest nicht leisten können , weil sie vielleicht schlechter ausgebildet sind und damit weniger Alternativen haben, weil sie ihre Rechte nicht kennen, weil sie kein Selbstvertrauen haben.
    Unternehmensleiter wussten schon sehr früh, dass sie nicht alleine auf das Kommando setzen konnten, sie entwickeln zumeist schnell ein Gespür dafür, wie weit sie diesen Bedürfnissen nach Geselligkeit und Zusammengehörigkeit entgegen kommen müssen, wenn aus den Kollegen nicht die "Genossen" einer revoltierenden Vereinigung werden sollen.
    Die scheinbare Despotie des Fabriksystems wurde so durch Eigensinn immer unterlaufen, und die gewohnheitsmäßigen Praxen waren die Ergebnisse von etwas, was man heute "Aushandlungsprozesse" nennt - im einzelnen Betrieb, oder, von Gewerkschaften und Sozialpolitikern durchgesetzt, auf gesellschaftlicher Ebene. Antagonistische Kooperation, so hat das der kluge Sozialdemokrat Peter Glotz genannt.
    Kampf oder Kompromiss?
    Aber damit sind wir auch mitten in einem Thema, das immer implizit im Raum steht: Ist im Kapitalismus alles nur Kampf? Kampf der Arbeiter gegen den Kapitalisten? Oder ist er in der Praxis nicht viel häufiger auch eine Art von Kompromiss geworden?
    Marx und der Marxismus nach ihm hatten ein paar Grundprämissen, die ziemlich unumstößlich schienen: Durch die Entwicklung der Produktivität schaffe der Kapitalismus die Voraussetzungen dafür, das ökonomische Problem, nämlich den Mangel, endgültig zu lösen und durch eine Gesellschaft des Überflusses zu ersetzen, kurzum, durch einen weltlichen Garten Eden, wenn man das etwas romantisch ausdrücken mag. Bloß stünde der Kapitalismus und seine Produktionsverhältnisse, seine Art zu Wirtschaften sowie der damit verbundene organisatorisch-institutionelle Rahmen, diesem Ziel im Wege.
    Marxisten sprechen in diesem Zusammenhang gerne vom Widerspruch von "gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung". Was verbirgt sich hinter der Formel?
    Jeder Reichtum im Kapitalismus ist gesellschaftlich produziert, alle arbeiten hier kooperativ miteinander, weder dem Unternehmer noch dem Kapitalgeber kommt hier grundsätzlich eine privilegierte Funktion zu. Die Kapitalisten tragen etwas bei, aber nichts Außerordentlicheres als etwa der Schuldirektor, der die Schule organisiert, und der Lehrer, der die Schüler unterrichtet, und der Vorarbeiter, der die Lehrmädchen einschult und der Arbeiter, der die Maschine bedient, oder die Buchhalterin, die die Bücher führt, und die Putzfrau, die die Büros wischt. Es ist dieser gesellschaftliche Charakter, dieses kooperative Zusammenwirken, das Reichtümer schafft, das in seiner Komplexität, wie Marx bewundernd schreibt, beeindruckender ist als das Zusammenwirken tausender Arbeiter beim Bau der Pyramiden im alten Ägypten. Und der - unter Gerechtigkeitsaspekten - große Skandal dieser sozialen Ordnung besteht darin, dass der Unternehmer oder Kapitalbesitzer den größeren Teil der Reichtümer als seinen Privaten aneignet.
    Aber für Marx ist die "private Aneignung" des gesellschaftlich Produzierten nicht nur ein Skandal der Ungerechtigkeit, sondern eben auch die Achillesferse des Kapitalismus: Aus verschiedensten Gründen wird diese private Aneignung die Weiterentwicklung der ökonomischen Wohlstandsmaschine behindern, wird der Kapitalismus vom Motor des Fortschritts zur Fessel desselben, weil er kreative Energien nicht mehr freisetzt, sondern sie einkerkert. Weil viele Kräfte, die in der Kooperation liegen, brach liegen bleiben: Man denke nur an den Wildwuchs an Patentrechten, die dazu führen, dass Unternehmen eine von anderen gemachte Entdeckung kaum weiter entwickeln, übernehmen oder mit anderen Entdeckungen zu einem Neuen kombinieren dürfen. Das hemmt den Fortschritt. Besonders wenn einmal marktbeherrschende Stellungen etabliert sind, werden Unternehmen versuchen, neue und effizientere Verfahren zu behindern und vom Markt zu kaufen, als sie zu entwickeln.
    Aber auch in den Unternehmen selbst wird der Eigensinn der Beschäftigten nur in engen Grenzen geduldet oder gar angespornt - bis dann (immer wenn die Umsatzzahlen sinken) McKinsey kommt - und alle Grauzonen und Freiräume ausmerzt und der scharfe Takt noch in die kleinsten Nebensächlichkeiten Einzug hält. Im Namen einer "Effizienzsteigerung", von der viel geredet wird, aber mit der es so ist wie mit dem Yeti: Man hört bisweilen von ihr, aber gesehen hat sie noch niemand.
    Mehrere Kollegen sitzen diskutierend auf einem Fußboden.
    Mehrere Kollegen sitzen diskutierend auf einem Fußboden. (imago / Westend61)
    "Gesellschaftliche Produktion und private Aneignung" - damit wird aber noch ein weiterer Widerspruch bezeichnet: der zwischen dem kooperativen Arbeitsprozess und dem Kampf um Anteile an der gesellschaftlichen Produktion, also Konkurrenz auf dem Markt. Und diese Konkurrenz erzwingt immer rationellere Produktionsverfahren, immer engere Kooperation, immer höhere Produktivität.
    Historisch führt das von der Manufaktur über die Fabrik in die Verbundproduktion, die Vernetzung von Fabriken, Zulieferern, Energiesystemen. Begrifflich führt das von der Zerlegung komplexer handwerklicher Prozesse in Teilprozesse, und deren Maschinisierung und Re-Kombination in der Fließbandproduktion bis zum automatischen System. In ihm ist die Kooperation gewissermaßen in die Maschinerie gewandert - und die Arbeiter werden überflüssig.
    Dieser Schwelle nähern wir uns.
    Auch früher verschwanden durch '"schöpferische Zerstörung" alte und oft schlechte neue Jobs, dafür aber entstanden masssenhaft neue und oft auch bessere. Wenn wir die vergangnen 20 Jahre einigermaßen nüchtern betrachten, müssen wir feststellen, dass es nur noch ein relativ geringes Wirtschaftswachstum gab, eine permanente Quasistagnation mit Miniwachstumsraten, explodierender Ungleichheit, Privatisierung von allem, endemischer Korruption, da realwirtschaftliche Profitmöglichkeiten immer geringer werden - und weiter, mit dem daraus folgenden moralischen Niedergang und Desintegrationsprozessen.
    Wie soll die Gesellschaft von morgen aussehen?
    Angesichts dieser Symptome, die allesamt Indizien für einen chronischen Niedergang sind, tun wir gut daran, die Frage zu stellen, wie die Gesellschaft von Morgen gestaltet werden sollte, wenn die Krisenpropheten Recht haben.
    Womöglich ist ja auch ein langsamer, sukzessiver Übergang vom kapitalistischen Wirtschaftssystem zu einer anderen Wirtschaftsordnung denkbar. Und, ja, vielleicht stecken wir schon in diesem Übergang. Das wäre natürlich die beste Möglichkeit. Indizien dafür gibt es.
    So wie sich in den Fabriken schon immer Kooperation und Kommando ergänzen und ins Wort fallen, Antagonismus und Kooperation, so haben wir seit vielen Jahrzehnten in kapitalistischen Gesellschaften längst eine gemischte Wirtschaft, die grob gesprochen aus drei Sektoren besteht: den privatkapitalistischen Unternehmen, dem staatlichen Sektor und einen dritten Sektor, den wir als kooperativen Sektor beschreiben können. Dieser Sektor umfasst alles Mögliche: Große Genossenschaften, die beinahe wie große Unternehmen funktionieren, nur dass sie nicht profitorientiert arbeiten, Abwasser-Genossenschaften, Wohnbaugenossenschaften, kleinteilige Hausprojekte oder auch Start-ups, bei denen junge Leute sich zusammen tun, mit Gleichgesinnten eine Firma gründen, und sich vielleicht mit anderen Firmen zusammen tun, um bestimmte Kosten gemeinsam zu tragen. Freelancer, die sich mit anderen Freelancern vernetzen und gemeinsam agieren, Hilfsorganisationen, hinzu kommt der gesamte Bereich der solidarischen Ökonomie. Ein ganzes fluides Netz an Miteinander-Ökonomien, deren Ausformungen ganz unterschiedlich sein können, aber die weder wirklich zum privatkapitalistischen Kommerzsektor noch zum staatlichen Sektor zählen. Ökonomie, jenseits von Staat und Markt.
    Orthodoxe Marxisten würden all das als Tropfen auf dem heißen Stein charakterisieren, als Inseln im kapitalistischen Ozean, die nichts als Nischen sind, letztendlich unbedeutend.
    Übergang zu einem neuen Kooperativsystem?
    Marx selbst sah in den ersten Kooperationsfabriken seiner Zeit den praktischen Beweis dafür - so schreibt er 1867 an die Delegierten der Internationalen Arbeiterassoziation - "dass der Kapitalist ebenso überflüssig geworden ist, wie er selbst den Großgrundbesitzer überflüssig fand". Diese Fabriken waren für ihn, ebenso wie die großen Aktiengesellschaften "Übergangsformen aus der kapitalistischen Produktionsweise in die assoziierte", sie seien "das erste Durchbrechen der alten Form", der "Übergangspunkt zu einer neuen Produktionsform", sie zeigten, "dass das bestehende despotische und Armut hervorbringende System der Unterjochung der Arbeit unter das Kapital verdrängt werden kann durch das republikanische und segensreiche System der Assoziation von freien und gleichen Produzenten". Freilich, so fügt Marx an, sei das Kooperativsystem allein "niemals imstande, die kapitalistische Gesellschaft umzugestelten ", dazu bedürfe es der "Veränderungen der allgemeinen Bedingungen der Gesellschaft " durch eine Staatsmacht, die nicht in den Händen der Kapitalisten und Grundbesitzer sei.
    Und heute? Heute schreibt der britische Wirtschaftsautor Paul Mason: "Ich glaube, dass diese Projekte uns eine Rettungsgasse bieten - aber nur, wenn diese Projekte des Micro-Levels gehätschelt werden, wenn wir sie bewerben und wenn sie geschützt werden, indem die Regierungen anders handeln. Aber wir sollten uns und anderen auch sagen: Das sind nicht nur Überlebensprojekte, kleine Befestigungsanlagen in der bösen neoliberalen Welt, sondern sie sind wohl eher neue Lebensformen in einem Veränderungsprozess (...) Ein neuer Pfad öffnet sich, der, der kooperativen Produktion."
    Ob das geschieht, und wie, auch das hat etwas mit der Geschichte der Kooperation unter dem Kapitalismus zu tun. Und deshalb ist es jetzt Zeit, ein weiteres, vielleicht noch komplizierteres Problem anzusprechen - eines der Psychen und der Mentalitäten:
    Der Doppelcharakter der Kooperation, den Marx beschrieb, heißt ja auch: Einerseits haben die Fabrik und später auch das Büro in einer Art Kommandodiktatur die Geselligkeit und den Eigensinn der Menschen in den Dienst der kapitalistischen Produktion gezwungen. Andererseits haben sich die Menschen in der Geschichte dieser Kooperation auch verändert, haben in dieser Arbeit ihre Fähigkeit zur Kooperation und zur Solidarität allererst gelernt und verfeinert.
    Von Epoche zu Epoche entstanden so neue Einstellungen zur Arbeit, neue gesellschaftliche Leitbilder, man könnte diese auch Wertvorstellungen nennen, etwa die Wertvorstellung, dass man aus seinen Leben etwas machen soll, dass es darum ginge, seine Talente zu entwickeln, sich selbst zu verwirklichen, kreativ zu sein. Dieser Wert der Kreativität wird heute ganz generell hoch gehalten, und die bloße Ausführung kommandierter Arbeitsschritte gilt nicht als etwas, was uns befriedigt. Daraus folgt nicht unbedingt, dass Kommando und Disziplinierung deswegen heute an Bedeutung verloren haben, sondern es entsteht ein neuer Subjekttyp, der die Aufsicht, die früher externalisiert war, gleichsam internalisiert: Das sich selbst disziplinierende, sich durch "Technologien des Selbst" beaufsichtigende Individuum, wie Michel Foucault das nannte.
    Auch der Mensch ist produziert, formatiert, montiert
    "Die Produktion produziert ... nicht nur einen Gegenstand für das Subjekt, sondern auch ein Subjekt für den Gegenstand", hatte Marx in den "Grundrissen", seiner monumentalen, dann beiseite gelegten Vorstudie zum "Kapital" geschrieben. Das heißt, das Wesen des Menschen ist nichts Essentielles, Vorgängiges, etwas was immer schon da ist, jenseits seiner konkreten gesellschaftlichen Gemachtheit. Auch der kooperierende Mensch ist also, zumindest bis zu einem hohen Grade, gemacht, von Geschichte und Gesellschaft gewissermaßen produziert, formatiert, montiert. In einer Gesellschaft, in der wir eng mit anderen zusammen leben und arbeiten, entsteht eben sowohl die Idee der Individualität als auch die Idee der Kooperation. Einerseits will man sinnvolle Tätigkeiten ausüben, sich selbst verwirklichen, andererseits braucht man die Aufgehobenheit und die Anerkennung in der Gruppe.
    Und wenn der Wert der Kreativität und der Selbstverwirklichung heute weit höher eingestuft wird als noch vor hundert Jahren, als man dafür wahrscheinlich nicht einmal noch ein Wort hatte, dann heißt das auch: Umso kränkender ist dann eine Existenzweise, ein Leben, das diesen Ansprüchen in den eigenen Augen nicht genügen kann.
    Kooperation - so zitierten wir am Anfang des 11. Kapitels des Kapital - Kooperation ist "das Wirken einer größeren Arbeiterzahl zur selben Zeit, in demselben Raum (oder, wenn man will, auf demselben Arbeitsfeld)".
    Im selben Raum oder auf demselben Arbeitsfeld, da steckt das große Problem der näheren Zukunft: Das Arbeitsfeld der Kooperierenden hat sich im Laufe der kapitalistischen Jahrhunderte sehr verändert, vor allem aber sehr erweitert. Durch die Globalisierung kooperieren Arbeiter, die weit auseinander tätig sind, oft durch Ozeane getrennt. Und das Feld der Kooperation erweitert sich grad noch einmal durch die Informationstechnologie, die eine neue Dichte der Kooperation möglich macht, aber auch neue Formen der Ausbeutung, etwa durch Crowd-Working. Wie die solchermaßen kooperierenden, aber voneinander Getrennten noch so etwas wie Solidarität oder Verhandlungsmacht entwickeln könnten - das steht in den Sternen.
    Ein Plakat mit der Aufschrift "peace, justice, ecology" ist am 03.06.2015 in München (Bayern) beim internationalen "Gipfel der Alternativen" zu sehen. Die Teilnehmer des Alternativgipfels werfen den großen Wirtschaftsnationen des G7-Gipfels eine Mitverantwortung an den globalen Krisen und dem sozialen und ökologischen Ungleichgewicht auf der Welt vor
    Die Teilnehmer des Alternativgipfels werfen den großen Wirtschaftsnationen des G7-Gipfels eine Mitverantwortung an den globalen Krisen und dem sozialen und ökologischen Ungleichgewicht auf der Welt vor. (picture alliance/ dpa/ Sven Hoppe)
    Aber die Initiativen, NGOs, Firmen und Kooperative, die in unserer Zeit entstehen, sind ja nicht nur Formen, die Krise zu überleben oder zu unterlaufen. In dem Netzwerk, das sie miteinander bilden, könnte man ja auch einen Nukleus eines Sozialismus neuer Art sehen. Eine Form von Gemeinwirtschaft, von Miteinander-Ökonomie, die völlig dezentral organisiert ist – einen Sozialismus, der nichts mehr mit dem bürokratischen Moloch früherer Staatswirtschaften gemein hat.
    Vielleicht müssen wir nur lernen, die Dinge richtig zu betrachten. Wie bei diesen berühmten Vexierbildern, bei denen man, wenn man sie von der einen Seite betrachtet, etwas völlig Chaotisches, Undefinierbares sieht, und erst, wenn man richtig hinschaut, ein Bild entsteht?
    Womöglich ist das mit unserer Wirtschaft nicht anders: Wir glauben, wir leben in einer Ökonomie, in der sich alles nur um Kommerz, Profit, materiellen Reichtum und den daraus resultierenden Status dreht. Alle anderen Formen von Wirtschaften erscheinen uns daher als irgendwie außerökonomisch, als Aktivität irgendwelcher Irrer mit komischen Spleens, als Beschäftigungstherapie für Gutmenschen. Seien es Selbsthilfegruppen, Tauschringe, Kooperativen oder altruistische Hilfsprojekte. Aber vielleicht sehen wir unsere Welt damit ja völlig falsch, in dieser Zwischenzeit, in der wir leben - in der das Alte nicht mehr geht, und das Neue noch nicht da ist.