Eine streicht sich mit dem Finger immer wieder über die Lippen, als wollte sie sich an dieser empfindlichsten Stelle vergewissern, dass es sie wirklich gibt. Eine andere rollt die Augen und knallt die Lippen auseinander, wenn sie verführt. Einer öffnet und schließt die Hände mit immer gleichen Gebärden, reißt den Kopf unter den Arm, einer krault sich die Nase immer wieder von rechts nach links......’ Das Programmheft lässt offen, ob diese Sätze aus dem Regiebuch Pina Bauschs stammen – aber sie beschreiben auf treffende Weise die hundertfachen Feinheiten, die es in diesem über 40 Jahre alten Stück zu beobachten gibt.
Gefangen in der Dauerschleife
Ein Panorama absurder, phantastischer und sich wiederholender Szenen spielt sich über dreieinhalb Stunden vor unseren Augen ab: die Darsteller schlafen und winden sich, liegen wie hingegossen auf den Sitzmöbeln, stehen ratlos herum oder bewegen sich wie aufgezogene Puppen über die Bühne. In all den Begegnungen, dem sich gegenseitig Tragen, Befragen, mit- und aneinander vorbeireden und - schauen wechseln sich ereignislose Stille und zirkushaftes Chaos ab und manche Szenen wiederholen sich wie in einer Dauerschleife. Die dezentrale Perspektive, der Wechsel zwischen verschiedenen Tempi und atmosphärischen Temperaturen, Musiken und Dynamiken, den Pina Bausch so perfekt beherrschte, erzeugt eine ästhetische Klarheit und Entschiedenheit, die auch heute noch begeistert. Sie entwickelt einen Sog, in dem wir als Zuschauer über die Dauer der Zeit mit und in dem Stück leben.
Der Mörder bleibt inkognito
Rolf Borzik, erster Bühnenbilder und viel zu früh verstorbener Lebensgefährte der Choreografin, hat für das unerklärliche und doch so präzise Geschehen eine geniale Bühne gebaut: einen vernachlässigten roten Salon mit großen Fenstern und allerlei abgestellten Möbeln, wie schief stehenden Sofas und verschlissenen Sesseln, aber auch überraschenden Objekten wie Dusche, Beichtstuhl und Jukebox. Ein roter Gartenschlauch schlängelt sich über die Bühne, jemand hat vergessen, ihn abzustellen und nun rinnt den ganzen Abend über stetig Wasser in eine Senke am vorderen Bühnenrand.
Shakespeares ‚Macbeth’ wird nur in wenigen Momenten direkt zitiert oder paraphrasiert; die Motive des Verrats und des Wahnsinns, der aus dem Verbrechen entsteht, aber liegen über allem – und das die ganze Zeit. ‚Wer ist ein Verräter? Der, der schwört und es nicht hält’ heißt es an einer Stelle. Die Schauspielerin Johanna Wokalek spricht in der Rolle Mechthild Grossmanns auf überdreht-charmante Art über ‚M’ – ohne je den Namen des Königsmörders zu nennen.
Werktreue kann sich lohnen
Auch körpersprachlich wird in sehr genauer Weise der Verstörung Ausdruck gegeben, die das Verbrechen auch im Verbrecher selbst erzeugt. Die Grenze zwischen Erinnerung und Irrsinn, Verzweiflung und Hysterie, Banalität und Dramatik ist fließend – das zeigen uns Pina Bausch – und in diesem Fall die grandiosen Tänzer und Schauspieler verschiedener Generationen – auf unnachahmliche Art. Das Stück zur Stunde, die das Tanztheater Wuppertal gerade erlebt, könnte man meinen.
Aber darüber hinaus weist diese Rekonstruktion noch einmal auf eine andere Facette im Gesamtwerk Pina Bauschs: ‚Er nimmt sie an der Hand, die anderen folgen’ ist radikaler, widerständiger als die Produktionen der späteren Schaffensphase. Und ist darin so modern, dass man meinen könnte, Castorf und Co. hätten sich hier einige Inspirationen für die legendäre Berliner Volksbühne der 90er-Jahre geholt. Alternativlose Werktreue bekommt nicht immer allen Rekonstruktionen – hier aber zeigt sie, was es in der Bühnenkunst nur selten gibt: Zeitlosigkeit.