Dirk-Oliver Heckmann: Am Telefon ist jetzt Jo Leinen von der SPD, er ist Mitglied des Ausschusses für konstitutionelle Fragen des Europaparlaments, jahrelang auch dessen Vorsitzender, außerdem war er Mitglied im EU-Verfassungskonvent, kennt sich also bestens aus. Schönen guten Tag, Herr Leinen!
Jo Leinen: Guten Tag, Herr Heckmann!
Heckmann: Herr Leinen, die "FAZ" spricht von einer Entmachtung der EU-Kommission, die Schäuble da vorschlage. Laufen seine Vorschläge darauf hinaus?
Leinen: Ich halte gar nichts davon. Sicherlich steht an eine Reform der Institutionen, und ich würde eher eine Entlastung der Kommission als eine Entmachtung befürworten. Vielleicht kann man darüber reden, weil die Kommission viel zu viele Aufgaben hat, die vielleicht andere Behörden, nachgeordnete Behörden übernehmen können. Aber eine Entmachtung, das steht gar nicht an, weil wir mehr Europa brauchen und nicht weniger Europa.
Heckmann: Steht nicht an, sagen Sie, aber Schäubles Vorschläge könnten darauf hinauslaufen in letzter Konsequenz aus Ihrer Sicht?
Leinen: Ja, wir werden einen Machtkampf bekommen schon im Herbst nach der Sommerpause, wie es weitergeht mit der EU. Und eine Machtkampflinie wird sein, ob es eine Renationalisierung gibt oder eine weitere Europäisierung. Also ob die Räte gestärkt werden oder die eigentlichen Europainstitutionen, das ist die Kommission und in der demokratischen Kontrolle das Europäische Parlament. Darüber wird ein heftiger Streit entstehen.
"Die Kommission hat wertvolle Arbeit geleistet in den vergangenen Jahren"
Heckmann: Und die Vorschläge von Schäuble sehen Sie schon sozusagen als Auftakt dieses Machtkampfs, der uns bevorsteht?
Leinen: Berlin steht eh im Verdacht, eine Korrektur seiner Europapolitik zu entfachen. Es ist überall in Europa Misstrauen, ob Deutschland noch den Kurs verfolgt, den es in den letzten 60 Jahren immer kontinuierlich über alle Regierungen hinweg verfolgt hat, nämlich die Gemeinschaftspolitik und damit die Gemeinschaftsinstitutionen zu stärken. Die Krise der letzten fünf Jahre war ja sehr verführerisch, dass die Nationalstaaten, also die nationalen Hauptstädte agieren und nicht die Europahauptstadt Brüssel. Das kann aber so nicht weitergehen, weil wir einen Schritt nach vorne brauchen und nicht eine Stagnation oder sogar einen Rückschritt.
Heckmann: Das sehen Teile der Mitgliedsländer natürlich anders, zum Beispiel wenn man nach Großbritannien schaut beispielsweise. Wolfgang Schäuble allerdings, Herr Leinen, sagt ja und begründet seinen Vorstoß damit, dass die EU-Kommission ja nicht gleichzeitig EU-Regierung sein kann und gleichzeitig auch Hüterin der Verträge, da gäbe es Interessenkollisionen. Gehen Sie da zum gewissen Teil mit?
Leinen: Nein. Also, eine nationale Regierung ist Hüterin des nationalen Rechts und zur gleichen Zeit natürlich auch Regierung. Man kann sich das außerordentlich gut auch in Europa vorstellen, die Kommission hat wertvolle Arbeit geleistet in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten, EU-Rechte anzuwenden, umzusetzen, auch Mitgliedsstaaten vor den Europäischen Gerichtshof zu bringen, wenn sie die Regeln nicht einhalten. Also, ich sehe da kein Defizit. Ich meine eher, dass die EU zu binnenmarktlastig ist. Der Binnenmarkt ist ja das Herzstück der europäischen Integration, aber heute haben wir ganz andere Politiken noch zu betreiben und die Kommission ist völlig überladen mit Kartellamtsverfahren, mit Binnenmarktverfahren. Und deshalb meine ich, eine Entlastung, also eine Auslagerung von Verwaltungsarbeit in nachgeordnete Behörden, darüber kann man reden, muss man reden, aber nicht eine Entmachtung. Weil, irgendeiner muss ja letztendlich entscheiden. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass es die Gipfel der 28 Staats- und Regierungschefs sind. Herr Schäuble hat ja selber gesagt, vier Tage Brüssel reichen mir! Also, die können gar nicht das operative Geschäft machen.
"Großbritannien ist ein unzuverlässiger Partner in Europa"
Heckmann: Aber das ist doch genau das, was Wolfgang Schäuble eigentlich vorschlägt, diesen engen, begrenzten Schritt, nämlich die Kompetenzen beim Thema Binnenmarkt und beim Thema Wettbewerb von der EU wegzunehmen und sie zu übertragen auf eine unabhängige Behörde. Das ist in Deutschland ja nun auch der Fall mit dem Bundeskartellamt. Weshalb soll das in Europa nicht funktionieren?
Leinen: Ja sicher, wegnehmen muss man allerdings noch mal genau definieren. Wir haben ein Bundeskartellamt, ich kann mir sehr gut ein europäisches Kartellamt vorstellen, das würde die Behörde in Brüssel entlasten von vielen Verfahren, die sehr aufwändig sind. Aber wir haben in Deutschland dann letztendlich die Ministererlaubnis. Also, der zuständige Minister hat letztendlich die politische Entscheidung zu tragen. Und diese Letztendentscheidung muss auf der europäischen Ebene bei der Kommission bleiben, weil, sie vertritt das europäische Interesse. Das kann gar nicht in einen Rat verlagert werden, das wäre ein echter Rückschritt, eine Renationalisierung, was sich Großbritannien wünscht, das ist richtig, aber Deutschland kann nicht auf Großbritannien bauen. Das ist ein unzuverlässiger Partner in Europa. Wir müssen da nolens volens mit Frankreich gehen und dort sind die Vorstellungen ganz anders, als die hier geäußert wurden.
Heckmann: Dennoch scheint man sich ja in Berlin Unterstützung zu versprechen aus London, wo man ja eben auf ein schlankeres Europa setzt, auf Reformen in die Richtung. Hinzu kommt, dass Jean-Claude Juncker selbst ja sich als explizit politischer Kommissionspräsident definiert und sieht. Wird das aus Ihrer Sicht mit ihm zu machen sein, dass der Kommission da entscheidende Kompetenzen weggenommen werden?
"Kommission braucht neue Aufgaben politischer Führung"
Leinen: Jean-Claude Juncker ist der erste Präsident der Europäischen Kommission, der wirklich aus den Europawahlen, also aus demokratischen Wahlen und der Wahl des Europäischen Parlaments hervorgegangen ist. Er hat also eine große Legitimation, Europapolitik zu betreiben, auch Orientierung für die Europapolitik zu geben, das europäische Interesse im Auge zu behalten. Und das nimmt er wahr. Also, wir haben ja fünf Jahre Sparpolitik gehabt und jetzt gibt es den Juncker-Fonds, ein großes Investitionsprogramm von circa 315 Milliarden Euro. Das war ein erster Wegweiser, wie man wirklich operativ und konstruktiv nach vorne gehen kann. Und da gibt es Eifersüchteleien, natürlich, die nationalen Finanzminister, die nationalen Wirtschaftsminister vielleicht auch sind ziemlich eifersüchtig geworden, weil, der nächste Schritt der europäischen Integration ist die Ergänzung der Währungsunion durch eine Wirtschafts- und Finanzunion. Und das kann man bei 28 Mitgliedsstaaten nicht intergouvernemental machen, das wird nicht funktionieren. Das ist nicht transparent. Und deshalb, glaube ich, führt kein Weg daran vorbei, die Kommission zu entlasten von alten Aufgaben, aber auch zu sehen, dass sie neue Aufgaben politischer Führung bekommen muss.
Heckmann: Auf der anderen Seite gibt es starke Kräfte im Europaparlament selbst, auch in den einzelnen Mitgliedsländern, die eben nicht mehr Europa wollen, sondern weniger Europa. Das Referendum in Großbritannien haben wir eben schon erwähnt. Könnte dieser Vorschlag von Wolfgang Schäuble, der jetzt auf dem Tisch liegt, inoffiziell zumindest, diesen EU-Skeptikern möglicherweise sogar in die Hände spielen?
Leinen: Wir werden sicherlich eine Reform der EU durchführen müssen bis nächstes Jahr, bis das britische Referendum stattfindet, die EU transparenter machen, sie effizienter, also handlungsfähiger machen, das wollen alle. Aber die Gretchenfrage ist: weniger Europa oder mehr Europa? Und da scheiden sich nun mal die Geister. In London vor allen Dingen will man weniger Europa, auf dem Kontinent, in vielen Ländern – man soll sich nichts vormachen – will man tatsächlich mehr Europa. Und Berlin muss sich entscheiden, wo es hin will, Richtung der Europaskepsis oder doch der Europafreundlichkeit mit dem nächsten Schritt der Integration. Und ich glaube, an der Achse Paris-Berlin, Berlin-Paris führt kein Weg vorbei. London, das ist eine Episode auf dem Weg zum Referendum, aber das ist keine stabile Achse für eine zukunftsweisende Europapolitik.
Heckmann: Der SPD-Europapolitiker Jo Leinen war das hier live im Deutschlandfunk. Herr Leinen, schönen Dank für das Gespräch!
Leinen: Auf Wiederhören!
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