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Reaktionen auf Missbrauchs-Studie
"Die Gläubigen in der Kirche wollen Ergebnisse sehen"

Bei den Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche gebe es ein großes Dunkelfeld, sagte der Trierer Bischof Stephan Ackermann im Dlf. Die Zahlen in der gerade veröffentlichten Studie zu sexuellen Übergriffen seien nur die Spitze des Eisbergs. Die Aufarbeitung müsse noch aktiver betrieben werden.

Stephan Ackermann im Gespräch mit Mario Dobovisek |
    Der Trierer Bischof Stephan Ackermann auf der Pressekonferenz der Deutschen Bischofskonferenz in Fulda zur Vorstellung der Studie über Missbrauch in der Kirche.
    Der Trierer Bischof Stephan Ackermann (dpa / Arne Dedert)
    Mario Dobovisek: Allzu lange sei in der Kirche Missbrauch geleugnet, weggeschaut und vertuscht worden, sagt Kardinal Reinhard Marx, der Vorsitzende der katholischen Bischofskonferenz. Die Opfer des massenhaften sexuellen Missbrauchs unter dem Dach der Kirche bitte er um Entschuldigung. Offene Worte gestern auf der Deutschen Bischofskonferenz in Fulda als Reaktion auf die Ergebnisse der Studie, die den Missbrauch in der Katholischen Kirche seit 1946 untersucht hat.
    Am Telefon begrüße ich Stephan Ackermann, Bischof von Trier und Missbrauchsbeauftragter der Deutschen Bischofskonferenz. Guten Morgen, Bischof Ackermann.
    Stephan Ackermann: Guten Morgen aus Fulda.
    Dobovisek: Von 3677 Opfern geht die Studie aus - mindestens. Der Studienleiter sieht ein großes Dunkelfeld, sagt er, und der Sprecher von Betroffenen, dem sogenannten Eckigen Tisch, sagt, die tatsächliche Zahl der von sexuellem Missbrauch betroffenen Menschen bewege sich in völlig anderen Dimensionen, als es die vorgelegten Zahlen suggerieren. Bloß die Spitze des Eisberges, Herr Bischof?
    Ackermann: Davon müssen wir leider ausgehen. Die Forscher haben ja auch herausgefunden, dass etwa die Hälfte der Fälle, die jetzt in der Studie Eingang gefunden haben, erst durch die Meldungen von Betroffenen seit 2010 zu Tage gekommen sind. Das heißt, wenn wir bloß die Akten durchgeschaut hätten, dann hätten wir nur die Hälfte der Fälle erfahren. Das zeigt ja, dass es wirklich, so bitter das ist, ein großes, großes Dunkelfeld immer noch gibt.
    "Erst jetzt fassen Menschen sich ein Herz"
    Dobovisek: Wie will die Katholische Kirche in Deutschland weiter Missbrauchsfälle aufklären?
    Ackermann: Ja, dass wir, glaube ich, noch aktiver dies betreiben. Wir sind ja seit 2010 aktiv dabei unterwegs. Wir haben ermutigt, haben Anlaufstellen geschaffen, dass Betroffene sich melden können, und das geschieht ja auch weiter. Das erlebe ich ja selber, dass Menschen wirklich auch jetzt, ich sage mal, im achten Jahr, nachdem das wirklich 2010 so stark in die Öffentlichkeit kam, sich ein Herz fassen und sagen, ich sage jetzt, was mir passiert ist. Das ist das eine.
    Das andere ist, glaube ich: das ist die besondere Qualität der Studie. Wir haben gesagt, wir wollen auch sehen, wo systemische Faktoren sind, dass wir nicht nur Betroffene ermutigen, sich zu melden, und das aufnehmen und versuchen, damit gut umzugehen, sondern dass man auch noch mal sagt, wir wollen auch aktiver wissen, wo ist hier auch ein systemisches Versagen, und nicht nur reaktiv Meldungen aufnehmen und dann entsprechend reagieren.
    Dobovisek: Das systemische Versagen, das wollen wir auch gleich noch mal näher beleuchten. Bleiben wir aber erst mal beim Entstehen der Studie. Die Forscher hatten keinen Zugriff auf Personalakten, oder nur sehr eingeschränkt, oder auch auf Archive, und fanden Hinweise auf Aktenmanipulation und Vernichtung, heißt es. Deshalb zog sich etwa der Kriminologe Christian Pfeiffer aus der Studie gleich zu Beginn zurück. Er sprach von Zensur. Hat die Kirche Angst vor sich selbst?
    Ackermann: Nein. Das ist so: Bei Professor Pfeiffer wäre im Grunde das mit der Aktenanalyse sehr ähnlich gewesen. Da war eher der Konflikt, wie geht es dann um die Veröffentlichung, die Kommunikation der Ergebnisse. Das Schwierige ist, dass wir sagen, die Aktenlage ist an vielen Stellen unsortiert. Es haben Dinge überhaupt keinen Eingang in die Akten gefunden.
    Aber wir haben versucht, für dieses Forschungsprojekt natürlich unter auch Wahrung der Datenschutzvorschriften das Maximum herauszuholen, um die Akten zu durchforsten, und man muss ja offen auch sagen - ich gehe jetzt mal auf mein Bistum -, es werden seit 1946 die Personalakten aller Priester, auch jetzt der lebenden, auch unbescholtener Priester durchgegangen. Da wo es jetzt nicht irgendwo einen Tatverdacht oder einen Anfangsverdacht gibt, bin ich auch als Dienstgeber nicht einfach in der Lage, Akten irgendwo an Fremde auszuliefern.
    Dobovisek: Aber diese Transparenz ist notwendig, sagen die Wissenschaftler, und die Wissenschaftler sind für Sie ja keine Fremden, denn Sie haben als Bischofskonferenz die Wissenschaftler beauftragt.
    Ackermann: Ja, genau. Das heißt, wir haben einen Modus gefunden, dass man sagen kann, mit Hilfe eigener Kräfte.
    "Die Menschen wollen Ergebnisse sehen"
    Dobovisek: Aber den Modus kritisieren ja die Wissenschaftler.
    Ackermann: Die Wissenschaftler haben gestern ganz deutlich gesagt, es gab Grenzen, es gibt Limitationen des Projektes, aber sie haben das sehr genau geprüft und haben gesagt, wenn das für uns wissenschaftlich nicht verantwortbar gewesen wäre, hätten wir uns nie auf dieses Projekt eingelassen. Das heißt, sie sagen, auch aus ihrer Sicht war das eine Methode, mit der man zu wissenschaftlich validen Ergebnissen kommt.
    Dobovisek: Die Wissenschaftler wollen am liebsten auch künftig eigene Daten erheben können. Würden Sie diesen Weg mitgehen?
    Ackermann: Ja, das wäre jetzt noch mal eine Frage für künftige Dinge, dass man sagt, wie finden wir Kooperationen, etwa mit Forschern oder mit staatlichen Stellen, auch mit Unabhängigen. Ich meine, die Wissenschaftler waren auch unabhängig, aber dass noch mal geguckt wird, gibt es Möglichkeiten, wo wir hingehen, wie gesagt unter Wahrung von Persönlichkeitsrechten und Datenschutz, wirklich hier auch noch in einer anderen Form von Transparenz Dinge aufzuarbeiten.
    Dobovisek: Kardinal Marx sagte gestern, er schäme sich für das Vertrauen, das zerstört wurde, und wir haben heute Morgen um 6:35 Uhr hier bei uns im Deutschlandfunk die Morgenandacht gehört wie an jedem Tag, und da sagt auch ein ganz einfacher Priester aus der Fläche, ja, ich schäme mich für diese Kirche, das geht gar nicht. Wie wollen Sie dieses zerstörte Vertrauen wieder zurückgewinnen?
    Ackermann: Indem die Menschen merken, die haben das verstanden - das gilt besonders auch für die Bischöfe, für die Verantwortlichen in den Bistümern -, die gehen konsequent diesen Weg weiter, der auch ein Lernprozess ist. Das sage ich ganz offen. Ich bin seit acht Jahren jetzt mit dem Thema befasst.
    Wir werden kein Vertrauen gewinnen, indem wir einfach darum bitten oder werben, sondern das ist mir schon klar. Die Menschen, gerade auch die Gläubigen in der Kirche wollen auch Ergebnisse sehen, und das ist jetzt hier auch noch mal ganz deutlich geworden.
    Dobovisek: Dazu zählt auch für viele Betroffene, für viele Opfer, dass Verantwortliche benannt werden. Das schließt die Studie ausdrücklich auf Ihren Wunsch aus. Warum?
    "Wir übernehmen Verantwortung"
    Ackermann: Die Studie sollte wirklich die Strukturen anschauen und die systemischen Faktoren. Es ging nicht darum – und das wäre ja auch eine totale Überforderung gewesen -, eine gesamtdeutsche Aufarbeitung zu leisten, sondern da muss man ja hinschauen auf bestimmte Fälle, auf bestimmte Einrichtungen. Aufarbeitung heißt – und das haben wir uns jetzt auch noch mal ganz deutlich sagen lassen -, die Betroffenen müssen viel stärker einbezogen werden, etwa wenn es um einen Versöhnungsprozess geht. Es gibt ja bestimmte Projekte der Aufarbeitung.
    Nehmen wir mal die Regensburger Domspatzen oder etwa Bad Münstereifel. Da gab es ein Internat in der Verantwortung des Erzbistums Köln. Da gibt es wirklich schon Aufarbeitungsprozesse mit unabhängiger Hilfe. Das muss aber auch regional getan werden. Das hätte ein Forschungsprojekt so nie leisten können.
    Dobovisek: Trotzdem bleibt die Frage nach der Verantwortung offen. Meine Kollegin Christiane Florin aus unserer Redaktion "Religion und Gesellschaft" hat gestern berichtet von ihrer Frage am Schluss der Pressekonferenz gestern in Fulda. Auf ihre Frage, ob unter den mehr als 60 versammelten Bischöfen einer oder zwei sagen würden, ich habe so viel persönliche Schuld auf mich geladen, ich kann mein Amt nicht mehr wahrnehmen, gab es eine sehr kurze Antwort. Die hieß: Nein! Niemand übernimmt Verantwortung. – Warum nicht?
    Ackermann: Das kann man ja so nicht sagen. Sie haben recht, genauso war es gestern Nachmittag. Die Frage war ja, sagt jemand, ich habe solche Schuld auf mich geladen, ich kann mein Amt nicht weiter ausführen. Verantwortung übernehmen wir ja auch jetzt für eine nachfolgende Generation von Bischöfen. Da hat es ja jetzt auch einen großen Generationswechsel gegeben in den letzten Jahren. Wir übernehmen Verantwortung. Das andere ist aber, dass jemand sagt, ich bin jetzt wirklich persönlich, habe so verbrecherisch oder grob fahrlässig gehandelt, das kann ich nicht mehr verantworten, im Dienst zu bleiben.
    Ein Metallkreuz mit einer goldenen Christusfigur mit einem dünnen Schleier von Frost
    Ein Metallkreuz mit einer goldenen Christusfigur mit einem dünnen Schleier von Frost (dpa picture alliance/ Felix Kästle)
    Dobovisek: Nun spielt die Moral in der Kirche ja eine übergeordnete Rolle.
    Ackermann: Das gehört für mich zu moralischer Verantwortung dazu, die aber natürlich zu differenzieren weiß zu sagen, gibt es hier wirklich ein Versagen, das der Art ist, dass jemand sagt, ich muss persönlich hier die Konsequenzen ziehen, oder schauen wir auch auf ein Versagen von Verantwortlichen auch in der Vergangenheit, aber für das wir natürlich auch heute mit unseren Mitteln geradezustehen haben.
    Dobovisek: Sie haben vorhin Strukturen angesprochen, Strukturveränderungen, die nötig sind, weg von der Rolle des übermächtigen Klerikers, die in der Vergangenheit auch zum Machtmissbrauch führte. Wie wichtig sind Ihnen solche Veränderungen?
    Ackermann: Ja, die sind sehr wichtig. Ich sehe im Grunde zwei Ebenen von dem, was die Forscher uns jetzt ins Stammbuch geschrieben haben. Das eine ist die Ebene der konkreten Maßnahmen in der Intervention, in der Prävention von sexuellem Missbrauch. Da haben wir eine ganze Reihe von Dingen ja auch eingerichtet seit 2010. Das muss aber auch noch mal auf den Prüfstand. Das ist auch völlig richtig. Da sagen die, das ist gut, aber es ist noch nicht konsequent genug und auch nicht abgestimmt genug zwischen den Bistümern. Das ist das eine.
    Das zweite ist: Das muss eingebettet sein in eine Kultur des achtsamen Miteinanders und auch in entsprechende Strukturen insgesamt, damit das greift, und dazu gehört es auch, klerikale Macht, die dazu verführt zu missbrauchen, das einzudämmen. Das ist klar, das ist ein größerer Horizont. An den müssen wir auch drangehen.
    Dobovisek: Den Opfern geht es auch um Gerechtigkeit. Das hat Kardinal gestern auch zugestanden. Gerechtigkeit soll es geben. Für viele Opfer bedeutet das aber auch, dass Täter bestraft werden, ganz normal wie auch in der Welt da draußen. Missbrauch führt zu Strafe. Warum passiert das in der Kirche nicht?
    Eine einfache Versetzung reicht nicht mehr
    Ackermann: Täter werden bestraft. Selbstverständlich! Es ist ja auch so, dass viele der Taten - und das ist ja auch das Schlimme - ans Licht kommen, wo staatlicherseits die Taten verjährt sind, wo etwa eine Staatsanwaltschaft sagt, da werden wir nicht ermitteln, das ist nach unserer Gesetzgebung verjährt. Die Kirche, wir haben ja die Möglichkeit, mit Hilfe von Rom Verjährungsfristen aufzuheben. Das wird vielfach auch getan. Und dann gibt es auch Strafen. Wenn man jetzt auf die Studie schaut, dann muss man natürlich schon sagen, wie ist das mit dem Strafmaß, ist das konsequent genug gewesen bisher.
    Dobovisek: Die einfache Versetzung eines Priesters zum Beispiel.
    Ackermann: Bitte?
    Dobovisek: Zum Beispiel die einfache Versetzung eines Priesters.
    Ackermann: Natürlich!
    Dobovisek: Das reicht vielen Opfern nicht aus.
    Ackermann: Absolut! Das ist vollkommen richtig.
    Dobovisek: Wie wollen Sie das ändern?
    Ackermann: Das haben wir ja schon geändert mit den Leitlinien spätestens seit 2010, wo völlig klar ist, es kann jemand, der sich an Kindern oder Jugendlichen vergangen hat, in der normalen Pastorale auf keinen Fall wieder eingesetzt werden.
    Und jeder, der Täter geworden ist, muss sich einer forensischen Begutachtung unterziehen, um dann auch zum Beispiel das Risiko abschätzen zu können. Da hat es ja schon einen starken Kulturwechsel jetzt seit 2010 gegeben. Wir stehen nicht am Nullpunkt. Aber noch mal, das sage ich: Wir müssen noch genauer hinschauen, um alles zu tun, um Missbrauch zu verhindern.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.