Florian Felix Weyh: "Die Unruhe ist kein stofflich fassbares Ding, und es besteht wenig Aussicht, sie auf frischer Tat zu ertappen." Ralf Konersmann, das haben Sie in Ihrer Monografie Die Unruhe der Welt geschrieben, 2015. Ein philosophischer Bestseller, mehr als 10.000 Bücher verkauft. 2017 liegt nun das Wörterbuch der Unruhe vor. Dafür erhielten Sie im Herbst einen berühmten Philosophiebuch-Preis, den "Tractatus". Wenn man die einzelnen Stichworte darin liest - ich werde gleich ein paar nennen -, bekommt man unweigerlich den Eindruck, es ginge nun doch darum, sie auf frischer Tat zu ertappen, die Unruhe.
Ralf Konersmann: Das ist ein durchaus richtiger und zutreffender Eindruck, Herr Weyh, aber Sie merken auch, ich habe 30 Stichworte gebraucht, um die Unruhe einzugrenzen, und im Grunde ist es dann doch wieder die Bestätigung. Die Unruhe zeigt sich in den Gefühlen, die wir aufbringen, in den Erlebnisformen, die wir haben, in den Deutungsmustern, in den Ausdrucksformen unserer Kultur. Aber sie tritt nicht rein als solche, schlicht als Unruhe hervor. Das ist meine Ausgangsthese gewesen. Das heißt, das ist ein Phänomen, das schwer fassbar ist, weil sich Gefühle hineinmischen, Erwartungen, Erfahrungen und vieles andere mehr, sodass man das Phänomen eingrenzen kann, aber mit einer Definition, mit einer förmlichen Definition nicht sehr weit kommt.
Weyh: Dann nenne ich mal ein paar von diesen Stichworten: Arbeit, Coolsein, Faulsein, Flexibilität, Kultur, Mode, Paradies, Sitzen - da stolpere ich. Sitzen ist ja nun genau das Gegenteil von Unruhe. Und dann schreiben Sie da: "Der Stuhl", also das Sitzmöbel, "beginnt seine Karriere als kleine Burg, in deren imaginärer Ummauerung das bürgerliche Individuum heranwächst." Man setzt sich fest?
Immer mehr Menschen, kann man sagen, sitzen
Konersmann: So ist es. Jeder kennt ja nun diese Ermunterungen, um nicht zu sagen, Ermahnungen, nicht so viel herumzusitzen, nicht immobil zu werden, sondern Bewegung zu suchen, sich fit zu halten und so weiter. Da bewegen wir uns dann auf den Gesundheits- und Fitnessdiskurs zu. Aber sozusagen im Fahrwasser solcher Diskurse, die auch erstaunlich alt sind, kommt die Vorstellung auf, dass Sitzen ja eigentlich auch sozusagen eine symbolische Haltung sei, Trägheit, auch bestimmte Arbeitsformen assoziiert, die eben zur Immobilität verurteilen, die großen Verwaltungen und so weiter. Das sind ja auch Berufsfelder, die erst im Laufe der Geschichte aufgekommen und populär geworden sind und sich verbreitet haben, und Zug um Zug, auch natürlich unterstützt durch technische Innovationen, die Handarbeit abgelöst haben. Nicht vollends, aber doch, das Gewicht ist deutlich verschoben. Immer mehr Menschen, kann man sagen, sitzen, sie sitzen auch beim Reisen, sie sitzen auch zu Hause.
Weyh: Und jetzt kommt plötzlich ein neuer Zug rein. Ich habe vor drei Wochen einen neuen Stuhl gekauft, einen neuen Bürostuhl nach 20 Jahren, und war wirklich überrascht, was das für eine Wissenschaft ist. Ich habe eine Dreiviertelstunde in diesem Laden verbracht mit Vermessungen jeder Art, und es kommt dann dabei raus, und so ist jetzt mein neuer Stuhl - ich sitze gar nicht mehr! Ich bewege mich die ganze Zeit. Weil es heißt: Sie dürfen gar nicht sitzen, Sie müssen sich bewegen! Sie sitzen auf dem Stuhl, müssen nach vorn und nach hinten, und der Körper darf gar nicht mehr zur Ruhe kommen. Die Unruhe schafft das Sitzen ab.
Konersmann: Die Unruhe schafft das Sitzen ab, sie stellt es unter Verdacht, so ähnlich wie das Rauchen. Das wird sozusagen die nächste Welle werden, dass wir möglichst ermuntert werden, entweder gar nicht zu sitzen oder im Stehen zu arbeiten. Das machen ja auch viele Kollegen, das ist ja auch eine alte Tradition, sogar auch im Gehen zu denken.
Weyh: Peripatetiker!
Konersmann: Peripatetiker, das ist ein ganz altes Motiv und sozusagen dieses Sinnbild der Immobilität, das Sitzen möglichst zu vermeiden. Und andererseits wissen wir natürlich auch, wie gern wir sitzen, wie schön das sein kann, auf einer Terrasse oder auf einer Piazza zu sitzen. Und es gibt wunderbare Bilder, natürlich auch in der Literatur, die darin schwelgen, wie das ist, wenn man ruhig dasitzt, wenn man seinen Kaffee schlürft und die Welt an sich vorüberziehen sieht. Auch das ist möglich, aber es gibt eben diesen starken Impuls - und nicht nur gesundheitspolitisch, sondern zum Beispiel auch politisch - aufzustehen und etwas zu unternehmen, während eben auf der anderen Seite die Leute, die am Stammtisch hocken, das sind eben die Sturen, das sind die Beschränkten, das sind die eben Stehengebliebenen oder Sitzengebliebenen.
Sitzenbleiben in schicksalhaften Dimension
Weyh: Das ist übrigens ja auch ein schönes Wort. Der Sitzengebliebene ist sozusagen stagniert. Er kommt nicht mehr weiter.
Konersmann: Die Karawane zieht weiter, er bleibt zurück. Und so spürt man dann auch heraus, dass das durchaus eben auch schicksalhafte Dimensionen annehmen kann, dieses Sitzenbleiben, eben nicht mitgenommen zu werden.
Weyh: Also Aufstehen, das Stichwort, das geht in die Richtung der moralischen Unruhe, da reden wir gleich drüber. In der Preisrede oder in der Jury-Verlautbarung steht der schöne Satz drin: "Manche Fragen muss man erst entdecken." Und dann wird gesagt, Sie haben eben eine Frage, die quasi zwar offen da lag, für die Philosophie entdeckt, nämlich die Frage der Unruhe. Ich zitiere Sie jetzt mal: "Wie ist es zugegangen, dass wir, obgleich wir offensichtlich an ihr leiden, zu Enthusiasten der Unruhe geworden sind?" Ja wie?
Konersmann: Das kann man natürlich nicht in einem Satz beantworten, sondern das ist eine Geschichte von Einzelschritten, von Plausibilisierungen, von Überredungen, von Anreizen - eine Umwälzung der westlichen Kultur. Das war übrigens ein Nebenthema, die Frage nämlich, wie stellt eine Kultur es an, ihre Wertetafel umzustellen? Wir dürfen ja nicht vergessen, dass am Anfang der Kultur, unserer Kultur, Bilder der Ruhe stehen - das Paradies. Auch die Antike ist zutiefst davon überzeugt, dass ein glückliches Leben nur ein Leben in Ruhe, Gelassenheit, Zurückgezogenheit, Friedlichkeit sein kann. Und, wenn wir heute uns umschauen, stehen Ruhe und auch Behagen und solche Dinge eigentlich unter Verdacht.
Weyh: Behagen ist ja fast so eine karikatureske Figur, mit dickem Bauch und so was, und Pfeifchen im Mund.
Konersmann: Ja, das geht gar nicht! Das sind Leute, die stundenlang im Biergarten herumsitzen und so weiter und so weiter. Das kann man mal machen, aber das sollte doch bitte nicht die Haupttendenz werden, dieses Behagen. Und mit Leuten, die sich wohlfühlen, die zufrieden sind und die tiefstes Behagen empfinden, kann man auch letztlich nichts anfangen, auch politisch übrigens nichts anfangen und deswegen haben wir das gern, wenn es ein bisschen köchelt. Wir glauben, daraus ableiten zu können, sogar das Unbehagen schüren zu dürfen, Leute unzufrieden machen zu dürfen oder doch zumindest mit unangenehmen Nachrichten konfrontieren zu dürfen, damit sie eben aufwachen. Wir rütteln sie wach, und das heißt, wir konfrontieren sie mit dem Unbehagen. Ältere Zeiten hätten so was womöglich als Frivolität empfunden, wenn man sie mit den unschönen Seiten des Lebens permanent konfrontiert und sie permanent in ihrer Ruhe stört oder sie aufrütteln möchte. Aber heute ist das eine Tat, die sogar honoriert wird.
"Die Welt ist im Tiefsten nicht in Ordnung und daran muss was geändert werden"
Weyh: Da sind wir bei dieser moralischen Unruhe, die ich fast mit einem Vorwort versehen würde: Der Terror der moralischen Unruhe. So empfinde ich das manchmal. Das ist ein ganz zentraler Punkt in Ihrem Buch jetzt, aber auch schon unterschwellig in dem anderen. Indem immer alles nicht das Ziel ist. Das Ziel gibt es ja nicht mehr, die Ruhe gibt es ja nicht mehr. Das Paradies gibt es nicht, die Utopien gibt es nicht mehr in der Verwirklichungsidee. Muss ich eigentlich immer verändern und sobald jemand sagt, das ist schlecht, muss ich aufstehen und es ändern?
Konersmann: Es steckt eben in den tiefen Schichten unserer Kultur die Überzeugung, dass die Welt nicht so ist, wie sie sein soll. Und da komme ich noch mal zurück auf diese ältesten Erzählungen, auf diese großen Narrative. Man liest ja oft und hört es oft, dass die großen Erzählungen verloren seien. Aber sie existieren ja weiter, bruchstückhaft, in einzelnen Überzeugungen und Gewissheiten, die wir zu haben glauben. Und dazu gehört eben genau diese. Die Welt ist im Tiefsten nicht in Ordnung und daran muss was geändert werden. Man kann das theologisch artikulieren, eben, weil wir ja wissen, der Sündenfall liegt am Anfang von alledem, und so sind wir eben aufgerufen, in einer Welt, die nicht paradiesisch ist, die postparadiesisch ist, uns irgendwie wohnlich einzurichten und den Widrigkeiten, die sich ständig neu aufbauen, zu widerstehen und sozusagen zum Fortschritt verdammt zu sein.
Weyh: Aber wie kann ich mich wohnlich in einer Welt einrichten, die mir keine Ruhe gönnt?
Konersmann: Das ist die Fatalität. Im Laufe der Geschichte erst ist die Erwartung verloren gegangen, dass wir durch eine sagen wir mal konzentrierte Phase den Zustand des Paradieses würden wiederherstellen können. Also sagen wir mal, zu Beginn des 17. Jahrhunderts, der große Philosoph Francis Bacon, der wohl zu den Stammvätern der Aufklärung gezählt werden darf, die großen französischen Aufklärer, die Enzyklopädisten, waren bekennende Anhänger Bacons. Bacon schreibt am Ende seines Hauptwerks, des Novum Organum, 1620, dass er mithilfe der Wissenschaft das Paradies wiederherstellen wolle, und dann natürlich auch die Ruhe wiederfinden will. Das heißt, wir legen so eine Art Zwischenspurt ein. Deswegen sollen und dürfen wir die Unruhe mit dem Segen Gottes, das vergisst Bacon nicht hinzuzusetzen, dürfen wir die Unruhe nutzen. Dahinter steht auch die theologische Überzeugung, dass das Fluchwort Gottes, die Vertreibung aus dem Paradies ja nicht ganz so übel und so schlecht sein kann, denn es ist ja aus dem Mund der Gottheit hervorgegangen, dieses Wort. Also vielleicht steckt ja sogar ein Geschenk darin, nicht nur ein Fluch. Und so wird die Unruhe etwas, was uns allerlei Möglichkeiten eröffnet, und warum nicht die Wiederherstellung des Paradieses. Das ist eine ganz großartige Idee am Beginn des 17. Jahrhunderts.
Weyh: Ist das nicht eine Art Prämarxismus?
Konersmann: Sicher. Der Erwartungshorizont, der hier aufgespannt wird, hat noch ganz viele linke und auch rechte Projekte angespornt. Dass es also möglich sein soll, dem Menschen möglich sein soll, und auch sozusagen eingelassen in die Verfassung dieser Welt. Diese Option, uns dem Paradies wieder anzunähern oder sogar etwas hinzustellen, was dem alten Paradies ebenbürtig sei. Und man versteht jetzt auch, warum wir so viel Aufwand mit der Wissenschaft betreiben, weil dieser Impuls dahinter steht. Also nicht am Anfang, zumindest in dieser Zeit, Anfang des 17. Jahrhunderts, nicht ziellos, gerade nicht ziellos, sondern mit der Option der Wiederherstellung. Das Wort, das Bacon verwendet, ist reparari, also Reparieren. Das Schadensgebiet, das diese Welt ist, dieses postparadiesische Dasein, diese Zumutung und alles, das soll also medizinisch und in jederlei anderer Hinsicht so optimiert werden, dass wir uns dann doch wieder zurücklehnen können und aus eigener Hand erschaffen haben, was wir auch durch eigene Schuld verspielt hatten.
Quies und inquietas
Weyh: Jetzt wird es vielleicht den Hörer ein bisschen wundern, wenn ich gleich zum Stichwort "Mode" komme. Sie hören das Gespräch in "Essay & Diskurs" heute mit dem Kieler Philosophen Ralf Konersmann über die Unruhe. Aber bevor wir über die Mode reden, noch einen ganz kleinen terminologischen Schwenk. Sie haben quasi auch ein neues Wort für die Philosophie erfunden, die "Inquietät". Da ist man als - lang liegt's zurück - Lateiner natürlich geneigt, nachzuschlagen und denkt, was heißt denn Unruhe eigentlich auf Lateinisch, und mein altes Wörterbuch sagt "tumultus". Also dann assoziiere ich ja was ganz anderes als diese Inquietät. Was ist das für ein Wortzauber, den Sie da betreiben?
Konersmann: Quies und inquietas sind durchaus Wörter, die vorkommen. Aber Sie haben recht, auch das erschwert den Zugriff auf die Unruhe: Wir haben so viele Wörter. Das fängt schon im Lateinischen an und zieht sich durch. Und alle diese Begriffsfelder und Begriffe - es ist im Grunde ein Wortfeld, die Unruhe. Es liegt auch daran, weil sie ganz starke sachliche Bezüge hat, es liegt daran, dass sie theologische Implikationen, soziale, politische, ästhetische - und jeweils diese einzelnen Felder haben ihre eigenen Vokabulare hervorgebracht. Und Unruhe ist so gesehen nur der Sammelbegriff für alle diese Phänomene. Und so kommt dann auch die eben von Ihnen angesprochene Mode mit ins Spiel.
Weyh: Kommen wir noch gleich. Ich muss ein bisschen drauf rumhacken auf der Unruhe, weil das Schöne ja ist das "Un" davor. Wir haben das Wort "Ruhe", das ist als Zustand existent, ich kann mich ausruhen, Ruhe. Und dann kommt das "Un" davor, und irgendetwas anderes entsteht. Es gibt so eine Parallelität. Der Schweizer Rechtsphilosoph Peter Noll, schon lange gestorben, hat mal in seinem letzten Buch geschrieben, es dürfte eigentlich gar nicht das Wort "Gerechtigkeit" geben, weil "Ungerechtigkeit" der eigentliche erlebbare Zustand ist, und eigentlich müsste also Gerechtigkeit die "Unungerechtigkeit" sein. Und das brachte mich so zum Nachdenken. Dann dachte ich, wie ist das mit der Ruhe und der Unruhe? Ist es nicht so ähnlich? Was ist das Ursprüngliche, was erfahre ich als Mensch als Ursprüngliches?
Konersmann: Ich glaube, das ist die Leistung einer großen Erzählung, nämlich der jüdisch-christlichen Religion, diese Herangehensweise selbstverständlich gemacht zu haben, indem nämlich das Paradies vorgeschaltet wird. Also, wenn man sich die christlichen Erzählungen mal als eine Geschichtsphilosophie zurechtlegt und geschichtsphilosophisch rekonstruiert und reinterpretiert, dann könnte man ja sagen, das Paradies ist so eine Art Vorgeschichte. Und mit dem Paradies assoziieren wir die Ruhe. Und dann kam die Vertreibung und mit ihr die Unruhe. Das steht auch genau so im Alten Testament. Der Schöpfergott vertreibt Kain genau mit diesen Worten: "Ruhelos und rastlos sollst du sein." Das ist also sogar explizit so formuliert. Und dann könnte man sagen, ja, wenn wir also verstehen wollen unseren Zustand, den Zustand dieser Welt, was unsere Geschicke sind, warum alles so ist, wie es ist, und warum wir nie zufrieden sind und so weiter, das ist ja nicht erst eine Erfahrung unserer Tage. Dann könnte man eben diese Erzählung nehmen und sagen, ja, das war alles schon mal anders. Ihr hattet ja die Ruhe, aber ihr habt euch als unwürdig erwiesen. Und da kommt natürlich die Theologie dann ins Spiel. Sie kann sagen, diese Unruhe ist eine Strafe. Das ist ein Fluch, der euch daran erinnert, was ihr am Anfang getan habt, und sozusagen ein Schuld- und Schuldenkonto aufbaut …
Weyh: Da könnte ich aber gleich wieder mit einem Konersmann, nämlich der Neugierde kommen. Der paradiesische Sündenfall ist ja der der Neugierde. Die Neugierde an sich verkörpert ja die Unruhe.
Eine Einwilligung in die Unruhe
Konersmann: Ja, so ist es. Aber da kann man sich dann vorstellen, wie schwer das gewesen ist, auf dem Feld der ja mit dem Stigma der Sündhaftigkeit besetzten Unruhe überhaupt die Neugierde zuzulassen, die ja in der Tat so eine Art Zustimmung, eine Einwilligung ist in die Unruhe. Und das hat sich nun ein halbes Jahrtausend hingezogen. Das versteht man, warum eigentlich, wo doch heute die Neugierde als eine Tugend gilt und uns nichts lieber wäre, als wenn die jungen Menschen neugierig wären und etwas wissen und etwas tun und erfahren wollten. Und mühselig sind die pädagogischen Einrichtungen dabei, diese Neugierde zu wecken und lebendig zu halten. Ja, das ist lange Zeit ein tabuisierter Bereich gewesen, die Neugierde, weil man die Vorstellung hatte, dass die Welt so eingerichtet ist - und auch das hat gewisse Vorteile, wenn man das unterstellt -, dass die Welt so eingerichtet ist, dass der Mensch das, was er erfahren soll, auch erfährt mithilfe seines Sinnesapparats und mithilfe seines Verstandes. Und mehr braucht es auch nicht. Mehr braucht es auch nicht. Und noch zur Zeit Goethes - und Goethe selber gehörte auch dazu - herrschte eine große Skepsis gegenüber Brillen und Mikroskopen.
Weyh: Das ist legendär. Er hat sich geweigert, Brillen aufzusetzen. Er sagte, er kann dadurch die Welt nicht so sehen, wie Gott sie geschaffen hat.
Konersmann: So ist es. Weil sie den Horizont, weil diese Sehinstrumente den Horizont verschieben und im Kleinen, Mikroskop, wie im Großen, Fernrohr, uns Dinge vor Augen stellen, die eigentlich unserem Blick entzogen sind. Goethe hat das nicht allzu theologisch aufgezogen, aber Hamann, sein Zeitgenosse, sehr wohl. Also da mischen sich immer noch diese Diskurse, und man staunt, wie lange solche Überzeugungen sich haben halten können.
Weyh: Herr Konersmann, wir könnten jetzt hier stundenlang von einem Topos zum anderen kommen, ganz unruhig. "Belebt" würde man natürlich jetzt sagen, um das Negative des Wortes weg zu bekommen, und würden zu keinem Ende kommen. Jetzt komme ich aber doch auf die Mode, weil die so bezeichnend ist. Die Mode als Stichwort, ist das, wenn wir jetzt diesen Reparaturbetrieb wieder aufgreifen des verlorengegangenen Paradieses, ist eine unentwegte Erneuerungsbewegung, aber sie ist innen leer.
Konersmann: Sie ist innen leer, und die Mode will auch nichts mehr reparieren. Die Mode, ich habe sie die Schule der Unruhe genannt, weil sie so ungemein überzeugend ist. Es hat ja was Demütigendes für schulische Einrichtungen, wenn man sieht, wie selbstverständlich und fraglos modische Erneuerungen selbst in der tiefsten Provinz sofort wahrgenommen, verstanden und als restlos überzeugend angenommen werden, obwohl sie total bizarr sind, obwohl sie jenseits aller Vernunft sind. Aber sie werden peinlich genau zur Kenntnis genommen und eben auch sich zu eigen gemacht. Und das ist ja doch ein Phänomen, wie die Mode das anstellt, überhaupt solche Überzeugungen aufzubauen, und uns auch mobilisiert, dass wir das überhaupt alles mitmachen. Das Ganze ist ja recht grotesk, auch das gehört zur Mode, schon von Anfang an. Der Begriff der Mode kommt aus der Barockzeit, und schon damals waren die Leute eben modeverrückt und haben allerlei Sonderlichkeiten ausprobiert, die Männer ebenso wie die Frauen, wenn wir mal bei der Kleidermode bleiben. Das Feld ist ja viel weiter, das darf man ja nicht vergessen. Mittlerweile unterliegt ja fast - es gibt ja fast keinen Bereich, der nicht der Mode unterliegen würde.
Weyh: Das wollte ich gerade sagen. Ich würde sagen, ich bin niemand, der sich mit Kleidermode groß befasst und kann dem wirklich völlig die kalte Schulter zeigen. Aber wenn ich mein Verhalten - sagen wir bei Smartphones und Computern -anschaue, ist der technische Zugewinn und der Funktionszugewinn mittlerweile gleich null, trotzdem müssen die Geräte ausgetauscht werden.
"Wir dürfen uns verändern, ohne ein anderer zu werden"
Konersmann: Genau. Und das gilt für Kleidung ja auch. Die ist ja mittlerweile auch so stabil und komfortabel, könnte ja über mehrere Saisons halten. Aber nein, wir lassen uns immer wieder verführen, wir lassen uns ansprechen, und die Mode spielt sozusagen ein Spiel mit uns, macht uns ein Angebot, und das besteht im Wesentlichen darin, dass wir uns verändern dürfen, ohne ein anderer zu werden. Das heißt, das hat dieses spielerische Element, und das ist ausgesprochen reizvoll. Wir können uns mit der Veränderung treiben lassen, wir können immer wieder etwas Neues ausprobieren, wissend, dass dieses Neue schon auf Sicht durch andere Neuigkeiten abgelöst werden wird. Das heißt, es wird ständig für Unterhaltung gesorgt sein. Auch das Angebot, sich einerseits in der Masse zu bewegen, weil alle dieses neue Modediktat befolgen werden, andererseits uns aber von denen, die in anderen Mustern sich nach wie vor bewegen, dass wir uns von denen absetzen können. Das bedient doch offenbar Bedürfnisse, dieser modische Wechsel, der dafür sorgt, dass die Mode immer weitergeht.
Weyh: Aber es ist doch eine Art Spirale, in der ich mich da befinde. Ich weiß sozusagen von Frühjahr zu Herbst, von Herbst zu Frühjahr ... wir können jetzt auch unseren eigenen Betrieb dazu nehmen, den Literaturbetrieb. Frühjahrsmesse, Herbstmesse, das Buch ist nach drei Monaten durch, dann kommt das nächste, dann kommt das nächste. Das ist ja doch so, dass ich das nach fünf bis zehn Saisons durchschaut haben müsste, auch emotional als Mensch, und davon nicht mehr fasziniert oder überhaupt angesprochen werde?
Konersmann: Ich vermute, dass dahinter eine Ironie steht. Also auch das Wissen. Im Grunde ist das auch ein relativ intelligentes Spiel. Sehr viele fingierte Elemente stecken in der Mode. Es sind ja Dinge, die wir nur ausprobieren. Wir wissen ja, das gilt jetzt nur für einige Monate. Wir lassen uns darauf ein, auch mit einer Begeisterung, die durchaus echt sein kann, aber wissen schon, du musst das jetzt nicht lange durchhalten, sondern demnächst kommt ein neuer Reiz, und dann kannst du dich wieder mit neuer Begeisterung für etwas ganz anderes begeistern. Und dieser Vorbehalt, dieses Spielerische, ich glaube, das gehört auch zum Amüsement dazu.
Weyh: Kommen wir von der Mode, dem eher, ein bisschen, arrogant gesagt, leeren Begriff, zu einem ganz vollen Begriff, der Kultur. Ich weiß, Sie haben in Münster studiert. Ich weiß nicht, haben Sie bei Herrn Blumenberg noch studiert?
Konersmann: Auch das, ja.
Weyh: Ein wunderbares Zitat, das ich sehr liebe, aus Die Sorge geht über den Fluss von 1987. Eine Definition von Kultur: "Kultur besteht in der Auffindung und Anlage, der Beschreibung und Empfehlung, der Aufwertung und Prämierung der Umwege." Ähnlich haben Sie das auch formuliert in Ihrem Buch.
Konersmann: Ja. Blumenberg sagt auch sehr schön einmal: Kultur hat was mit Atemholen, das ist das Angebot an uns, dass wir Atem holen können. Und sowohl diese Umwegmetapher als auch das Bild des Atemholens zeigt, dass die Kultur ihre Schwierigkeiten hat mit der Unruhe. Auf der einen Seite ist sie der Inbegriff der Unruhe, weil sie der Versuch ist des Menschen, sich die Welt wohnlich einzurichten und einer unwirtlichen Welt etwas abzuringen. Und der Verdacht, schon bei Platon und dann in der Nachfolge, es zieht sich durch die ganze Scholastik, der Verdacht ist, dass die Menschen dazu gar nicht in der Lage sind, ohne den Beistand einer göttlichen Übermacht eine Eigenwelt zu errichten. Das wäre ja eine Konkurrenzwelt zur Schöpfung, so wird das jedenfalls wahrgenommen. Und erst, als diese Konkurrenz nicht mehr so krass wahrgenommen wird und man Gott lässt, was das Seine ist, und den Menschen eben auch das Ihre zugesteht, also in der Zeit der Aufklärung, wird überhaupt der Begriff der Kultur populär. Vorher ist die Kultur immer - es gibt noch nicht mal das Wort! -, ist die Menschenwelt, müsste man sagen.
Wie es dazu kam, dass die Kultur ein eigenes Feld wurde
Weyh: Im Mittelalter, schreiben Sie, gab es keine Kultur.
Konersmann: Im Mittelalter gab es keine Kultur, sondern es gab natürlich Gottesdienst. Wenn wir heute hingehen und Matthias Grünewald bewundern, dann müssen wir schon deutlich sehen, das ist kein Künstler gewesen im heutigen Sinn, sondern es ist natürlich ein großer Maler gewesen. Aber seine Arbeit fällt nicht ins Feld der Kunst, sondern ins Feld der Gottesverehrung, in die Frömmigkeit, die Theologie eigentlich. Da verwischen sich ein wenig die Begriffe. Und da muss man dann aber sehr sauber bleiben, weil man nur so diese Schnitte, diese Trennlinien überhaupt wahrnimmt, die uns dann schließlich verstehen lassen, wie es dazu kam, dass die Kultur ein eigenes Feld wurde, und eben ein Feld, sehr vieldeutig, auf der einen Seite mit Technik und anderen Errungenschaften die Unruhe verstärkt, übrigens auch mit den Umwegen, weil Umwege gepflegt werden müssen, weil sie ausgebaut werden müssen, während die Gerade, die Direttissima, keine Pflege braucht und auch vor allen Dingen keine Diskussion. Die Direttissima ist die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten und damit hat es sich. Darüber lässt sich nicht reden. Über einen Umweg kann man unendlich lange reden.
Weyh: Das ist das Schöne. Das ist der Diskurs eigentlich, der Diskurs entsteht über die Umwege.
Konersmann: Und das ist dann eine andere Form von Ruhe. Wir haben unendlich viele Umwege, und daraus, also sozusagen auf der zweiten Ebene, entsteht dann ...
Weyh: Schwingen wir, wir schwingen mit ...
Konersmann: ... wir schwingen, es entsteht eine Gelassenheit, eine Ruhe. Wir haben immer noch andere Möglichkeiten. Und aus diesem Wissen heraus entsteht sozusagen auf einer anderen Ebene eine neue Form von Ruhe und Zurückgenommenheit. Und das ist die Ruhe der Kultur.
"Gelassenheit ist der Versuch, unter extremen Bedingungen zur Ruhe zu kommen"
Weyh: Sie haben mir gerade das Stichwort schon genannt, das ich als nächstes nehmen wollte, nämlich die Gelassenheit. Ich lese bei Ihnen das noch als mittelhochdeutsches Wort, fast als "gelazenheit" bei Meister Eckhart. Ein altes Wort, ein wunderschönes deutsches Wort übrigens. Aber was meint das, was ist Gelassenheit?
Konersmann: Gelassenheit ist der Versuch, unter extremen Bedingungen zur Ruhe zu kommen, und zwar nicht dadurch, dass man, wie wir das heute normalerweise tun - Urlaub machen oder irgendwelche Anstrengungen unternehmen, um in die Ruhe zu kommen -, sondern genau das Gegenteil, indem wir alles lassen. Die Herkunft dieses Wortes, die Etymologie, ist in diesem Fall ausgesprochen aufschlussreich. Und bei Meister Eckhart, der ein Mystiker war, geht diese Gelassenheit so weit, dass er uns empfiehlt, uns selbst zu lassen. Das ist sogar der Anfang von allem, dass wir lernen, uns selbst zu lassen. Und als Mystiker war er auch christlicher Theologe. Wir können uns dieses Seinlassen und Selbstlassen, dieses er sagt sogar auch "Entwerden", wir können uns das alles leisten im Vertrauen, dass die göttliche Übermacht uns hält, auffängt. Das heißt, das ist auch ein Vertrauensbeweis. Wir lassen uns und wissen, dass da jemand ist, der da sozusagen seine Hand unter diese Welt und unter unsere Existenz hält und uns stützt.
Eine subjektkritische Philosophie
Weyh: Jetzt kommt aber der zeitgenössische Diskurs und sagt ein ganz anderes, böses Wort und sagt "Passivität". Du bist zu passiv! Das ist ja nun das Allerletzte.
Konersmann: Ja, so ist es aber auch bei Meister Eckhart, das muss man sagen, nicht gemeint, sondern diese Entwerdung oder Entselbstung zielt darauf, dass ich möglichst ohne Beimischung persönlicher Interessen ein gottgefälliges Leben führen kann. Er entwickelt diese Gedanken vor Novizen, also vor jungen Männern, die Mönche und Theologen werden wollen, und gibt ihnen das mit auf den Weg: Achte darauf, dass nicht zu viele persönliche Interessen, Eitelkeiten oder sonst was sich einmischen, und dass du dein Leben wirklich Gott weist. Das ist die Idee, die dahintersteckt. Und wenn man das rekonstruiert, merkt man, wie anspruchsvoll dieses Konzept ist. Es verlangt Demut, es verlangt einen tiefen und festen Glauben, und wir gehen ein wenig sorglos mit dem Begriff der Gelassenheit um, ich schließe mich da gar nicht aus. Und wir müssen aber sehen, dass dieses ein Modell ist, das darauf baut, dass wir uns als Subjekte nicht besonders ernst nehmen. Interessanterweise taucht das Wort dann bei Heidegger wieder auf, der eine Philosophie entwickelt hat, die ausgesprochen subjektkritisch ist. Und das passt dann auch. Insofern musste er dieses Wort irgendwann bringen, weil es diese Analogie hat, sich selbst herausnehmen und anderen Mächten die Verantwortung übertragen.
Weyh: Jetzt haben wir viel über Theologie geredet mit einem Kulturphilosophen, der natürlich einen anderen Blick hat als ein Theologe. Gehen wir doch noch mal ganz, was wir ja nur gestreift haben, was auch gut ist, in den sozusagen alltäglichen politischen Diskurs hinein. Einerseits, die Unruhe ist der Antrieb für Reformen, Passivität und Gelassenheit ist vielleicht auch gleichzeitig die Formung von willenlosen Untertanen. Sie stehen natürlich über dem politischen Diskurs, aber wie empfinden Sie das? Man wird nach zwei Büchern aus Ihrer Hand, die unglaublich gelehrt sind, trotzdem nie so ganz schlau draus, wie die Wertung der Unruhe stattzufinden hat.
Konersmann: Ich will das auch eine Weile so fortsetzen, weil sie eben ein wirklich enorm ambivalentes Phänomen ist, übrigens auch gerade auf dem politischen Feld, auch gerade gefährlich für politische Bewegungen, die sich als progressiv verstehen, und die auf die Unruhe oder, wie vorhin schon angedeutet, auf das Unbehagen setzen und im Grunde genommen skeptisch sein müssten, weil die Unruhe und das Unbehagen richtungslos sind. Das heißt, was man davon erwarten kann, ist der permanente Wandel, der Tumult, aber ein richtungsloser Wandel. Sie haben vorhin auch Marx schon angesprochen -, der klassische Traum der politischen Linken sieht ja vor, dass wir uns in einer Richtung bewegen, die wir als Verbesserung begreifen können, um nicht zu sagen, um auch Ernst Bloch noch zu nennen, in Richtung Utopie. Und da ist mit der Unruhe nicht viel anzufangen. Die Unruhe lässt sich nicht disziplinieren, ihr lässt sich auch sozusagen kein Programm auf den Leib schreiben, sondern sie ist die Unruhe. Nietzsche sagte einmal: Entwicklung will Entwicklung und sonst gar nichts. Und das gilt auch für die Unruhe.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.