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Rebellische Nachbarn

Die Türkei ist zum Fluchtpunkt syrischer Oppositioneller geworden. Die türkische Regierung hat sich mittlerweile offen gegen das Regime in Damaskus gestellt und lässt die syrische Opposition in ihrem Land gewähren.

Von Gunnar Köhne | 15.10.2011
    Trauerfeier für den ermordeten syrisch-kurdischen Oppositionspolitiker Maschaal Tammo. Ort: der Konferenzsaal eines Istanbuler Hotels. Versammelt ist der gerade erst gegründete Syrische Nationalrat – ein buntes Bündnis der am Bosporus im Exil lebenden syrischen Regimegegner. Vertreten sind Sunniten, Alawiten, Kurden und assyrische Christen.

    Khalid Khoja gehört zum engeren Zirkel der Oppositionsszene. Der Arzt lebt bereits seit 30 Jahren in der Türkei. Als 16-Jähriger musste er aus Damaskus fliehen, sein Vater saß 15 Jahre lang ohne Kontakt zur Außenwelt in Haft. Khoja und die anderen Assad-Gegner sind zuversichtlich: Trotz aller Unterschiede sei eine politische Einigung möglich:

    "Wir wollen eine Verfassung, in der sich alle Volksgruppen und Religionen Syriens wieder finden können: Sunniten, Alawiten, Kurden, Christen. Deren Rechte sollen gesichert sein."

    Doch ob das gelingen wird, ist fraglich. Die assyrischen Christen fürchten den Machtanspruch sunnitischer Islamisten, die Kurden, die seit der Ermordung ihres Politikers Tammo ebenfalls zum Widerstand entschlossen zu sein scheinen, fordern als größte ethnische Minderheit Syriens ausgedehnte Rechte, wie Mohamed Ibrahim, kurdisches Mitglied des Nationalrates betont:

    "Wir sind 3,5 Millionen Kurden in Syrien. Unsere kulturellen Rechte, vor allem unsere Sprache wollen wir geschützt sehen. Darüber wollen wir mit den anderen Mitgliedern des Rates eine Einigung erzielen."

    Nach anfänglichem Zögern hat sich die türkische Regierung offen gegen das Regime in Damaskus gestellt und lässt die syrische Opposition in ihrem Land gewähren. Die Bilder aus Syrien seien "widerwärtig", polterte Erdogan im türkischen Fernsehen, die staatliche Gewalt des Regimes nichts anderes als "Barbarei". Dem syrischen Präsidenten Assad prophezeit er ein ähnliches Ende wie Gaddafi.

    Dass nun auch die Kurden sich immer zahlreicher dem syrischen Widerstand anschließen, wird in Ankara jedoch mit großer Sorge gesehen. Die kurdische Minderheit, könnte, so die türkische Befürchtung, der militanten PKK zur Hilfe kommen, sollte die Staatsordnung in Syrien zusammenbrechen. Schon jetzt sind etliche hohe PKK-Funktionäre syrischer Abstammung. Unvergessen ist in Ankara auch, dass PKK-Chef Öcalan bis 1999 unbehelligt in Damaskus residieren konnte.

    Doch die türkische Regierung fürchtet nicht bloß, dass ein Bürgerkriegs-Syrien wieder zum Rückzugsgebiet für türkisch-kurdische PKK-Kämpfer werden könnte. Der Istanbuler Politikwissenschaftler und ehemalige Diplomat Sinan Ülgen erinnert an die Erfahrungen mit einem anderen Nachbarland:

    "Als Saddam Hussein 1991 die irakischen Kurden zu massakrieren begann, flohen über eine halbe Million Kurden innerhalb weniger Tage über die Grenze on die Türkei. Viele türkische Politiker haben das nicht vergessen. Die Türkei wurde mit den vielen Flüchtlingen allein gelassen. Sollte es erneut eine solche Flüchtlingswelle geben, erwartet die Türkei die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft."

    Derzeit leben etwa 75.000 syrische Flüchtlinge in Zeltlagern im türkisch-syrischen Grenzgebiet. Ankara stellt deren Versorgung sicher lässt der Opposition auch dort freie Hand. Für den syrischen Nationalrat ist das Grenzgebiet angesichts der massiven Überwachung des Telefon- und Internetverkehrs durch das Assad-Regime von großer Bedeutung:

    "In Grenznähe benutzen wir auf beiden Seiten türkische Mobilfunkanbieter. Mit entsprechenden SIM-Karten können wir uns auf die Weise mit den neuesten Informationen von drüben versorgen und uns mit unseren Freunden beraten."

    Der syrische Widerstand in der Türkei sammelt nicht nur Informationen und Geld, sondern – Gerüchten zufolge - zunehmend auch Waffen für den Kampf gegen das Assad-Regime. Belege gibt es dafür zwar bislang nicht. Die neu gegründete "Freie Syrische Armee" soll aber mittlerweile mehrere Hundert desertierte und ins Ausland geflohene Soldaten und Offiziere rekrutiert haben. Ihr Oberkommandierender sitzt in einem türkischen Flüchtlingslager.

    Ministerpräsident Erdogan hat angekündigt, die Grenzregion in den nächsten Tagen besuchen und auch mit syrischen Flüchtlingen sprechen zu wollen. Es wird erwartet, dass Erdogan diese Gelegenheit zu weiteren verbalen Angriffen auf seinen einstigen erklärten Freund Assad nutzen wird. Nach Ausbruch der Unruhen hatte Erdogan zunächst versucht, mäßigend auf Assad einzuwirken. Mitte August versprach der syrische Machthaber gegenüber dem türkischen Außenminister Davutoglu, die Gewalt zu beenden. Ein leeres Versprechen – die brutale Unterdrückung der eigenen Bevölkerung nahm in den Wochen danach noch zu. Erdogan ist aber auch noch aus einem anderen Grund von Assad schwer enttäuscht, wie der Politologe Sinan Ülgen vermutet:

    "Was in Syrien passiert, unterminiert den Erfolg der neuen türkischen Außenpolitik. Immer wieder hat gerade Außenminister Davutoglu die Aussöhnung mit Syrien als Beispiel für die neue Kooperation in der Region dargestellt. Und mit den geheimen Vermittlungsbemühungen zwischen Syrien und Israel wollte Ankara Syrien wieder in die internationale Gemeinschaft zurückführen. Das alles ist nun vorbei. Syrische Verbindungen zu anderen Akteuren im Nahen Osten, wie zum Beispiel zur Hisbullah im Libanon, kann die Türkei nun auch nicht mehr nutzen."

    Inzwischen befürwortet auch Ankara die Sanktionsmaßnahmen gegen Syrien. Das Regime in Damaskus hat im Gegenzug den Import türkischer Waren gestoppt. Vergangene Woche hielt die türkische Armee an der syrischen Grenze ein Manöver ab. Geübt wurde die Sicherung der Grenze bei Bürgerkrieg und Flüchtlingskatastrophe im Nachbarland.