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Vor 130 Jahren
Widerstandskämpferin Recha Freier wird geboren

Die 1892 geborene Recha Freier war Lehrerin, Dichterin und überzeugte Zionistin. Schon früh hat sie die Gefahren des Antisemitismus in Deutschland erkannt und die Rettung von mehr als Zehntausend jüdischen Jugendlichen organisiert.

Von Andrea Westhoff |
Ein Davidstern ziert das Eingangstor zum Vorhof der Synagoge. Am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur ist am Mittwoch an der Synagoge Hannover ein Fenster beschädigt worden.
Recha Freier gründete mit der Jugend-Alijah das heute größte jüdische Kinderhilfswerk (picture alliance / dpa / Michael Matthey)
Der Stadtgarten.
Das goldglänzende Gitter.
Geschlossen.
Ein großes weißes Pappschild.
Ein Rahmen aus schwarzem Papier:

"Eintritt für Hunde und Juden verboten."
In ihrem Gedicht "Erdbeben" beschreibt Recha Freier ein Erlebnis aus ihrer Kindheit in Norden, einer kleinen ostfriesischen Stadt, in der sie am 29. Oktober 1892 als Tochter des streng orthodoxen Lehrers und Kantors der jüdischen Gemeinde, Menasse Schweitzer, geboren wurde. Es waren solche immer wiederkehrenden Erfahrungen mit dem Antisemitismus, die sie früh zur leidenschaftlichen Zionistin machten: Sie war überzeugt, dass das jüdische Volk einen eigenen Staat gründen solle, in Palästina, das als „von Gott verheißenes Land“ galt. Anna Staroselski, Präsidentin der Jüdischen Studierenden Union Deutschland:
"Ich glaube, dass man an ihrer Biografie auch sehen kann, was für eine Bedeutung ein jüdischer Staat hat, falls es dazu kommt, dass Jüdinnen und Juden Unterdrückung auf der Welt erfahren, um dort einen sicheren Hafen zu haben, wo sie hingehen können, um dort eine Zukunft aufbauen zu können."

Von Ostfriesland nach Schlesien

Als Recha fünf Jahre alt war, zog die Familie nach Glogau in Schlesien. Hier machte sie Abitur und studierte neue Sprachen an der Universität Breslau, wo sie ihren späteren Mann, den Rabbiner Moritz Freier, kennenlernte. 1925 gingen beide nach Berlin.
Recha Freier bekam vier Kinder, arbeitete als Autorin und Übersetzerin, vor allem aber warb sie unermüdlich für die zionistische Idee. Das war typisch für ihre Mutter, erzählte Rechas Tochter Maayan in einem Interview 2003:

"Immer dachte man, sie ist eine Träumerin. Aber es hat sich herausgestellt, dass die anderen geträumt haben und nicht sie. Sie hat die Wirklichkeit früher schon erkannt."

Gründung der Kinder- und Jugend-Alijah

Am 30. Januar 1933, genau zu Hitlers Machtübernahme, rief sie die „Kinder- und Jugend-Alijah“ ins Leben: eine Organisation, die 14- bis 17-Jährige auswählte und sie in Schulungslagern auf das Leben in Kibbuzim, den landwirtschaftlichen Siedlungen in Palästina, vorbereitete.

Aber der Widerstand der Eltern und der jüdischen Gemeinschaft war groß, fühlten sich viele doch weiterhin als Teil der deutschen Gesellschaft:

"Auch im Ersten Weltkrieg haben ja zahlreiche Juden für Deutschland gekämpft und haben sich niemals vorstellen können, dass der Nationalsozialismus eine industrielle Ermordung in die Wege leiten würde, sondern haben geglaubt, dass sie natürlich eine Chance in der Gesellschaft haben, sich zu behaupten und hier zu bleiben, was sich letzten Endes aber leider doch anders entwickelte."

Jüdische Jugendliche fliehen vor der Verfolgung durch die Nazis

Je schlimmer die Verfolgung wurde, desto mehr Juden sahen in der Kinder- und Jugend-Alijah einen Ausweg, wenn auch schweren Herzens. Oft war es tatsächlich ein Abschied für immer. Denn es wurden zwar bis 1945 mehr als Zehntausend Jugendliche aus Deutschland und Europa gerettet, aber viele der zurückgelassenen Familienangehörigen verloren ihr Leben. Recha Freier selbst blieb mit ihrer kleinen Tochter Maayan in Berlin – so lange es ging:

"Sie hat immer gesagt, sie verlässt Deutschland erst mit dem letzten jüdischen Kind."

1940 muss Recha Freier selbst flüchten

Mit allen Mitteln versuchte sie weiter, Einreisezertifikate nach Palästina zu beschaffen, bis im Juli 1940 dann ihr Pass für ungültig erklärt wurde und sie sich mit ihrer Tochter auf eine abenteuerliche Flucht begab. Im Juni 1941 kamen beide in Jerusalem an.

In Jerusalem engagiert sich Recha Freier weiter

Dort engagierte sich Recha Freier bis zu ihrem Tod 1984 für junge Menschen aus sozial schwierigen Verhältnissen. Und die Jugend-Alijah entwickelte sich zum heute größten jüdischen Kinderhilfswerk.

Würdigung erst in den 1980er-Jahren

Anerkennung für ihr Lebenswerk fand Recha Freier sehr spät. Erst 1981 zum Beispiel erhielt sie den „Israel-Preis“, die höchste Auszeichnung des israelischen Staates. Umso wichtiger sei es, dass sie einen besonderen Platz in der jüdischen Erinnerungskultur bekomme – auch als starke und vor allem kämpferische Frau, meint Anna Staroselski von der Jüdischen Studierenden Union Deutschland:

"Weil sehr häufig, wenn man über die Shoah spricht, man natürlich vor allen Dingen den Blick auf die Opfer richtet. Was auch völlig richtig ist. Aber ich denke, dass es auch wichtig ist, so eine Geschichte des Widerstands und der Selbstbestimmung zu erzählen, und Recha Freier ist natürlich eine Person, die da Erwähnung finden muss."