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Recherche "Cum-ex-Files"
Organisierte Kriminalität in Nadelstreifen

Bei Cum-ex-Geschäften lassen sich Aktionäre vom Staat Steuern rückerstatten, die sie nie gezahlt haben. Viele dachten, diese Praxis sei längst unterbunden. Doch die Geschäfte laufen weiter, in abgewandelter Form, wie internationale Recherchen zeigen. Der Gesamtschaden: mehr als 55 Milliarden Euro.

Von Jennifer Lange | 18.10.2018
    Das Frankfurter Bankenviertel
    "Wir haben aus dem Fenster geguckt und gedacht: Wir sind die Schlausten", sagt einer der Insider, die in den "Cum-Ex-Files" zu Wort kommt (dpa / picture-alliance / Arne Dedert)
    180.000 Seiten Unterlagen. Vertrauliche Unterlagen. Ermittlungsakten. Verdeckte Recherchen. Und ein Top-Anwalt, der jahrelang Cum-Ex-Geschäfte in großem Maßstab aufgezogen hat. Er ist jetzt Kronzeuge im wohl größten steuerstrafrechtlichen Ermittlungsverfahren der deutschen Geschichte. Im Zuge dieser Recherchen spricht er das erste Mal ausführlich über die Abläufe und Strukturen des Netzwerks:
    "Wir, die Berater, die Banker, die Anleger. Wir waren die Jäger, wir waren Füchse, blutrünstige Füchse, die in den Hühnerstall gegangen sind. Der Hühnerstall, das war der Staat, mit seiner Staatskasse. Und die Füchse sind jedes Jahr da reingegangen und haben so viel wie möglich an Hühnern rausgeholt."
    Sich Steuern rückerstatten lassen, ohne sie gezahlt zu haben
    Die Hühner, das sind die Kapitalertragssteuern. Eine Steuer, die Aktienbesitzer auf eine Dividende zahlen müssen. Doch die Füchse, wie auch der geständige Insider, haben sich die Steuern einfach erstatten lassen - ohne sie jemals gezahlt zu haben. Teils sogar mehrfach erstatten lassen.
    Diese Steuer-Geschäfte wie Cum-Ex oder Cum-Cum, dachte man, sind in Deutschland vorbei – spätestens seit einer Gesetzesänderung vor zwei Jahren. Doch die Recherchen zeigen, dass findige Berater und Banker ihre Praxis einfach weiterentwickelt haben und reichen Kunden immer noch ähnliche Geschäfte anbieten – sie locken mit satten Renditen, bis zu 60 Prozent pro Jahr. Alles Steuergelder, und zwar nicht nur in Deutschland, sondern in mindestens zehn weiteren europäischen Ländern. Darunter Frankreich, Spanien, Italien, den Niederlanden und Dänemark.
    Der Gesamtschaden beläuft sich auf mindestens 55 Milliarden Euro. Das ist weit mehr als bislang bekannt. Diese Zahl ergibt sich aus Auskünften von offiziellen Behörden und der Analyse von Marktdaten. 32 Milliarden Euro wurden aus deutschen Steuergeldern an Banken und reiche Investoren ausgezahlt. In Frankreich liegt der Schaden bei mindestens 17 Milliarden, in Italien bei rund fünf Milliarden Euro.
    Wer moralisch wurde, sei ausgetauscht worden
    "Das ist organisierte Kriminalität in Nadelstreifen", sagt der Insider. Er selbst hat gut 50 Millionen Euro mit den Steuer-Deals verdient. Die er jetzt zurückzahlen muss. Seine ehemaligen Kollegen belastet er mit seinen Aussagen schwer.
    "Jeder, der Kredite geliefert hat, der als Aktienhändler mitgewirkt hat, der als Depotbank nur Aktien verwahrt hat – jeder Anleger, der Geld zu Verfügung gestellt hat – wusste im Kern, was da passiert. Dass man hier Rendite aus dem Steuersäckel holt."
    Ein schlechtes Gewissen habe niemand gehabt. Wer die Moralfrage gestellt habe, sei sofort ausgetauscht worden. Und daran hat sich offenbar nichts geändert. Die Politik machte es dem Netzwerk aus Steuerberatern, Bankern und Investoren bislang einfach. Die Bundesregierung versuchte zwar den Steuerbetrug mit mehreren Gesetzesänderungen unmöglich zu machen, aber die Geschäfte gehen weiter, in abgewandelter Form, die Banker wichen zudem einfach in andere europäische Länder aus. Dort waren die Behörden auf diese Art der Steuergeschäfte nicht vorbereitet.
    Deutschland warnte seine Nachbarländer spät
    Erst 2015 erhielten sie eine Warnung aus Deutschland. Dabei hatte die Bundesregierung die ersten Hinweise auf Cum-Ex-Geschäfte bereits 2002, also 13 Jahre vorher. Hätte Deutschland seine europäischen Nachbarn früher informiert, hätte vielleicht Schlimmeres verhindert werden können, sagt Gerhard Schick, finanzpolitischer Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion:
    "Bisher arbeitet da jede Regierung vor sich hin, und das führt dazu, dass die, die uns ausplündern wollen, ein Land nach dem anderen abgrasen konnten, weil die Staaten nicht zusammengearbeitet haben."
    Schick fordert eine bessere Zusammenarbeit der Steuerbehörden, über Ländergrenzen hinweg:
    "Wir können doch nicht warten, bis die nächsten Akteure oder vielleicht sogar dieselben Akteure den nächsten Raubzug planen. Das Steuergeld ist dafür da, öffentliche Dienstleistungen bereitzustellen und nicht, es irgendjemand in den Rachen zu schieben."
    Auf Steuerermittler wartet jetzt viel Arbeit
    Das sieht auch der ehemalige Finanzminister von Nordrhein-Westfalen, Norbert Walter-Borjans, ähnlich. Er ist seit Jahren an der Aufklärung solcher Fälle beteiligt:
    "Das sind alles Geschäfte, die dem Geist der Steuergesetze und der Finanzierung des Gemeinwesens diametral entgegenstehen."
    Denn hier geht es um Steuergeld, das eigentlich für die Reparatur von Straßen und Brücken, die Integration von Flüchtlingen oder den Bau neuer Schulen ausgegeben werden sollte. Stattdessen müssen jetzt erst einmal Ermittler das komplizierte Puzzle zusammen setzen – und das wohl in ganz Europa.