Im Chaos der Nachkriegszeit fiel kaum auf, dass eine Gruppe fast völlig fehlte: die Verantwortlichen für das Dritte Reich und das von diesem angerichtete Elend. Die Schreibtischtäter und Massenmörder schienen verschwunden. Zu den ersten, die das bemerkten, gehörte das CIC, die Spionageabwehrtruppe der US-Armee. Die Berichte der Geheimdienstler sind heute eine wichtige Quelle für jeden Forscher, der sich mit der deutschen Nachkriegszeit beschäftigt. So stieß auch Buchautor Heinz Schneppen auf entsprechend wichtige Dokumente. Denen zufolge hatte bereits am 3. Juli 1946
"das Hauptquartier des CIC in Stuttgart in einem Vermerk festgehalten, dass offensichtlich eine "Untergrundorganisation entlassener SS-Gefangener" existiere. [...] In dem Bericht heißt es weiter, dass man über eine Information verfüge, wonach Personen bei Verwendung des Codeworts Odessa beim Roten Kreuz in Augsburg privilegiert Nahrungsmittel zugeteilt bekämen."
Immer wieder verwiesen die CIC-Agenten, auf eine "Organisation ehemaliger SS-Angehöriger", abgekürzt: O.D.E.SS.A.
"Bald stellte man [...] fest, dass es sich bei Odessa nicht um einen lokalen Vorgang handelte. Odessa-Zellen wurden aus Rosenheim, Kempten, Mannheim und Berchtesgaden gemeldet."
Odessa - und das, was dahinter steckt, ist das zentrale Thema von Schneppens Buch.
Schneppen: "Man kann heute sagen, wenn man das Thema irgendwo anspricht, sind die meisten Leute, die davon gehört haben, der Auffassung, das hat es wirklich gegeben, das war eine große, organisierte, mit einer Logistik versehene, hierarchisch gegliederte Unternehmung, die in großem Umfang belastete Nazis nach Übersee gebracht hat."
Vor allem nach Lateinamerika. Etwa nach Argentinien oder Paraguay, wo Schneppen als deutscher Botschafter akkreditiert war. Doch dem promovierten Historiker im diplomatischen Dienst kamen von Anbeginn an Zweifel. In seiner jetzt vorgelegten Untersuchung "Odessa und das Vierte Reich. Mythen der Zeitgeschichte", geht er dem Phänomen Odessa nach. Im Gegensatz zu Schneppen waren andere allerdings davon überzeugt: Odessa ist eine Realität, etwa Simon Wiesenthal. Für ihn war die Existenz brauner Fluchthilfeorganisationen eine Tatsache:
"Es gab mehrere. Die effektivste war die Odessa."
Simon Wiesenthal, selbst ein Überlebender der Schoa, hatte in Wien ein Dokumentationszentrum aufgebaut und sich sein Leben lang auf die Suche nach den verschwundenen KZ-Kommandanten und SS-Wachen konzentriert. Dabei halfen ihm auch Informanten aus der braunen Szene. Gegen Zusicherung der Anonymität erfuhr er von ihnen Details über die Fluchthilfe:
"Die Odessa, die operierte auf der Linie Bremen - Bari, über die Besatzungszonen, und hatte verschiedene Wege, wie sie die Leute nach Italien bringt."
Schneppen ist im Gegensatz zu Wiesenthal davon überzeugt, dass eine umfassende, koordinierende Organisation Odessa nie existierte. Er wirft Wiesenthal vor, seinen Quellen, sprich den Informanten, zu sehr vertraut zu haben. So habe Wiesenthal erst den Mythos Odessa geschaffen. Er habe, so der Vorwurf, viele einzelne, aus der Sicht Schneppens nicht miteinander verbundene Geschehnisse, als das Werk einer alles überragenden Organisation dargestellt. Und das, obwohl auch Schneppen feststellen muss:
"Es ist ja unbestritten, dass in den ersten Nachkriegsjahren bis etwa 1950/1951 eine ganze Reihe von Nazis, die zwischenzeitlich untergetaucht waren, sich nach Süden hin abgesetzt haben."
Doch in seinem Eifer, Wiesenthal zu widerlegen, erweckt er stellenweise den Verdacht, er wolle die Bereitschaft, ehemaligen SS-Verbrechern zu helfen, herunterspielen. Vielleicht hätte, um des Werkes willen, ein Lektor ihm einige polemische Spitzen streichen sollen. Sie irritieren und sind zudem höchst überflüssig. Denn Schneppen, und das ist ein Vorzug seines Buches, fasst die Vielfalt, die Fluchtmöglichkeiten für NS-Täter eindrucksvoll zusammen.
"Man setzte sich ab nach Süden, nach Bayern, von dort war es ein Leichtes nach Tirol zu kommen, von Nordtirol war es ein Leichtes nach Südtirol zu gelangen, und jemand, der Deutsch sprach, fiel da nicht weiter auf. Und man konnte sich auf die karitative Hilfe der katholischen Kirche verlassen. Man konnte von einem Pfarrhaus zum anderen gehen oder von einem Kloster zum anderen, man bekam sicher Obdach."
Die katholische Kirche als Fluchthelfer für Massenmörder wie Eichmann, den Organisator der Endlösung, oder den KZ-Arzt Mengele? Nicht weniger als 24 gesuchte NS-Täter tauchten in Ländern wie Argentinien unter. Die sorgfältig recherchierten Kurzgeschichten ihrer Flucht zählen zum spannendsten in Schneppens Buch. Wiederholt wird die Verstrickung der katholische Kirche deutlich. Schneppen zitiert aus den Lebenserinnerungen Adolf Eichmanns:
"Ich erinnere mich in tiefer Dankbarkeit an die Hilfe der katholischen Kirche bei meiner Flucht aus Europa."
Schneppen, der erfahrene Diplomat, ist nun auf die Idee gekommen, als Historiker, und zwar als erster, in Sachen Odessa und katholischer Kirche in den Archiven der Stasi nachzuforschen – und, siehe da, er fand eine spezielle "Akte Odessa":
"Es ging der Stasi darum, die katholische Kirche, die man natürlich als Bollwerk gegen den Kommunismus verstand, in den Augen der Welt und der Gläubigen zu diskreditieren. Man hat auch übernommen, was Wiesenthal schon geschrieben hatte, ohne zu überprüfen. Man hat auch selbst noch Quellen erschlossen, wobei ich nicht weiß, woher sie eigentlich stammen. In den Stasi-Unterlagen zur Akte Odessa finden sich Hinweise darauf, dass der Vatikan-Botschafter von Weizsäcker 1944 mit Pius XII. schon Einzelheiten der späteren Flucht der Nazis nach Übersee ausgearbeitet habe, etwas, was weder belegt ist, noch sehr wahrscheinlich erscheint."
Warum die vorbereitete Desinformationskampagne, trotz des damals herrschenden Kalten Krieges, nicht zum Einsatz kam, ist unbekannt, nicht aber die Auswirkungen der Ost-West-Konfrontation. Simon Wiesenthal vor 20 Jahren im Telefoninterview mit dem Deutschlandfunk:
"Der Kalte Krieg hat keine Gewinner. Ost und West haben verloren. Durch diese zwölf Jahre gab es sozusagen eine Schonzeit. Die einzigen Gewinner sind die, die Verbrechen begangen haben."
Schneppens Arbeit belegt auf solide Weise, bezogen auf die Flucht von NS-Größen vor allem nach Lateinamerika, wie sich diese Schonzeit auswirkte. Zwar schimmert manchmal zuviel Verständnis etwa für die katholische Kirche durch, doch bleibt als Fazit festzustellen: Seine Arbeit ist eine profunde Darstellung des Gesamtkomplexes mit dem Namen Odessa.
"Ich fühle mich in der Auffassung bestätigt, dass es diese mythische Organisation Odessa nie gegeben hat. Das heißt natürlich nicht, dass nicht, wie alle Mythen, auch dieser Mythos seinen realen Kern hat."
Heinz Schneppen: Odessa und das Vierte Reich. Mythen der Zeitgeschichte
Metropol Verlag, Berlin 2007
279 Seiten, 19 Euro
"das Hauptquartier des CIC in Stuttgart in einem Vermerk festgehalten, dass offensichtlich eine "Untergrundorganisation entlassener SS-Gefangener" existiere. [...] In dem Bericht heißt es weiter, dass man über eine Information verfüge, wonach Personen bei Verwendung des Codeworts Odessa beim Roten Kreuz in Augsburg privilegiert Nahrungsmittel zugeteilt bekämen."
Immer wieder verwiesen die CIC-Agenten, auf eine "Organisation ehemaliger SS-Angehöriger", abgekürzt: O.D.E.SS.A.
"Bald stellte man [...] fest, dass es sich bei Odessa nicht um einen lokalen Vorgang handelte. Odessa-Zellen wurden aus Rosenheim, Kempten, Mannheim und Berchtesgaden gemeldet."
Odessa - und das, was dahinter steckt, ist das zentrale Thema von Schneppens Buch.
Schneppen: "Man kann heute sagen, wenn man das Thema irgendwo anspricht, sind die meisten Leute, die davon gehört haben, der Auffassung, das hat es wirklich gegeben, das war eine große, organisierte, mit einer Logistik versehene, hierarchisch gegliederte Unternehmung, die in großem Umfang belastete Nazis nach Übersee gebracht hat."
Vor allem nach Lateinamerika. Etwa nach Argentinien oder Paraguay, wo Schneppen als deutscher Botschafter akkreditiert war. Doch dem promovierten Historiker im diplomatischen Dienst kamen von Anbeginn an Zweifel. In seiner jetzt vorgelegten Untersuchung "Odessa und das Vierte Reich. Mythen der Zeitgeschichte", geht er dem Phänomen Odessa nach. Im Gegensatz zu Schneppen waren andere allerdings davon überzeugt: Odessa ist eine Realität, etwa Simon Wiesenthal. Für ihn war die Existenz brauner Fluchthilfeorganisationen eine Tatsache:
"Es gab mehrere. Die effektivste war die Odessa."
Simon Wiesenthal, selbst ein Überlebender der Schoa, hatte in Wien ein Dokumentationszentrum aufgebaut und sich sein Leben lang auf die Suche nach den verschwundenen KZ-Kommandanten und SS-Wachen konzentriert. Dabei halfen ihm auch Informanten aus der braunen Szene. Gegen Zusicherung der Anonymität erfuhr er von ihnen Details über die Fluchthilfe:
"Die Odessa, die operierte auf der Linie Bremen - Bari, über die Besatzungszonen, und hatte verschiedene Wege, wie sie die Leute nach Italien bringt."
Schneppen ist im Gegensatz zu Wiesenthal davon überzeugt, dass eine umfassende, koordinierende Organisation Odessa nie existierte. Er wirft Wiesenthal vor, seinen Quellen, sprich den Informanten, zu sehr vertraut zu haben. So habe Wiesenthal erst den Mythos Odessa geschaffen. Er habe, so der Vorwurf, viele einzelne, aus der Sicht Schneppens nicht miteinander verbundene Geschehnisse, als das Werk einer alles überragenden Organisation dargestellt. Und das, obwohl auch Schneppen feststellen muss:
"Es ist ja unbestritten, dass in den ersten Nachkriegsjahren bis etwa 1950/1951 eine ganze Reihe von Nazis, die zwischenzeitlich untergetaucht waren, sich nach Süden hin abgesetzt haben."
Doch in seinem Eifer, Wiesenthal zu widerlegen, erweckt er stellenweise den Verdacht, er wolle die Bereitschaft, ehemaligen SS-Verbrechern zu helfen, herunterspielen. Vielleicht hätte, um des Werkes willen, ein Lektor ihm einige polemische Spitzen streichen sollen. Sie irritieren und sind zudem höchst überflüssig. Denn Schneppen, und das ist ein Vorzug seines Buches, fasst die Vielfalt, die Fluchtmöglichkeiten für NS-Täter eindrucksvoll zusammen.
"Man setzte sich ab nach Süden, nach Bayern, von dort war es ein Leichtes nach Tirol zu kommen, von Nordtirol war es ein Leichtes nach Südtirol zu gelangen, und jemand, der Deutsch sprach, fiel da nicht weiter auf. Und man konnte sich auf die karitative Hilfe der katholischen Kirche verlassen. Man konnte von einem Pfarrhaus zum anderen gehen oder von einem Kloster zum anderen, man bekam sicher Obdach."
Die katholische Kirche als Fluchthelfer für Massenmörder wie Eichmann, den Organisator der Endlösung, oder den KZ-Arzt Mengele? Nicht weniger als 24 gesuchte NS-Täter tauchten in Ländern wie Argentinien unter. Die sorgfältig recherchierten Kurzgeschichten ihrer Flucht zählen zum spannendsten in Schneppens Buch. Wiederholt wird die Verstrickung der katholische Kirche deutlich. Schneppen zitiert aus den Lebenserinnerungen Adolf Eichmanns:
"Ich erinnere mich in tiefer Dankbarkeit an die Hilfe der katholischen Kirche bei meiner Flucht aus Europa."
Schneppen, der erfahrene Diplomat, ist nun auf die Idee gekommen, als Historiker, und zwar als erster, in Sachen Odessa und katholischer Kirche in den Archiven der Stasi nachzuforschen – und, siehe da, er fand eine spezielle "Akte Odessa":
"Es ging der Stasi darum, die katholische Kirche, die man natürlich als Bollwerk gegen den Kommunismus verstand, in den Augen der Welt und der Gläubigen zu diskreditieren. Man hat auch übernommen, was Wiesenthal schon geschrieben hatte, ohne zu überprüfen. Man hat auch selbst noch Quellen erschlossen, wobei ich nicht weiß, woher sie eigentlich stammen. In den Stasi-Unterlagen zur Akte Odessa finden sich Hinweise darauf, dass der Vatikan-Botschafter von Weizsäcker 1944 mit Pius XII. schon Einzelheiten der späteren Flucht der Nazis nach Übersee ausgearbeitet habe, etwas, was weder belegt ist, noch sehr wahrscheinlich erscheint."
Warum die vorbereitete Desinformationskampagne, trotz des damals herrschenden Kalten Krieges, nicht zum Einsatz kam, ist unbekannt, nicht aber die Auswirkungen der Ost-West-Konfrontation. Simon Wiesenthal vor 20 Jahren im Telefoninterview mit dem Deutschlandfunk:
"Der Kalte Krieg hat keine Gewinner. Ost und West haben verloren. Durch diese zwölf Jahre gab es sozusagen eine Schonzeit. Die einzigen Gewinner sind die, die Verbrechen begangen haben."
Schneppens Arbeit belegt auf solide Weise, bezogen auf die Flucht von NS-Größen vor allem nach Lateinamerika, wie sich diese Schonzeit auswirkte. Zwar schimmert manchmal zuviel Verständnis etwa für die katholische Kirche durch, doch bleibt als Fazit festzustellen: Seine Arbeit ist eine profunde Darstellung des Gesamtkomplexes mit dem Namen Odessa.
"Ich fühle mich in der Auffassung bestätigt, dass es diese mythische Organisation Odessa nie gegeben hat. Das heißt natürlich nicht, dass nicht, wie alle Mythen, auch dieser Mythos seinen realen Kern hat."
Heinz Schneppen: Odessa und das Vierte Reich. Mythen der Zeitgeschichte
Metropol Verlag, Berlin 2007
279 Seiten, 19 Euro