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"Recht-auf-Stadt"-Initiativen
Gegen die Gentrifizierung

Seit einigen Jahren formieren sich in immer mehr Städten auf der ganzen Welt sogenannte "Recht-auf-Stadt"-Initiativen. In Deutschland zählt das Netzwerk in Hamburg zu den einflussreichsten Bündnissen dieser Art. Niels Boeing gehört zu den Machern: Seine Überlegungen zur freien Stadt der Zukunft hat er jetzt in einem Essay zusammengefasst.

Von Monika Dittrich |
    Das Hamburger Polizeirevier "Davidswache" im Stadtteil St. Pauli, aufgenommen 2002
    Das Hamburger Polizeirevier "Davidswache" im Stadtteil St. Pauli (picture alliance / dpa / Wolfgang Langenstrassen)
    Wenn Niels Boeing vom guten Leben für alle in der freien Stadt der Zukunft spricht, dann denkt er nicht an breitere Fahrradwege, mehr Parks oder schönere Spielplätze. All das wäre für ihn bloß Kosmetik. Es geht ihm es um viel mehr: um ein großes Konzept, eine radikale Utopie und den konsequenten Umbau von Politik und Gesellschaft.
    Zitat Buch: "Die freie Stadt der Zukunft wird nicht zuerst aus der Wut auf die Mächtigen entstehen, sondern aus einer heiter-entschlossenen Selbstermächtigung ihrer Bewohner, die begriffen haben, dass sie ein Ziel eint: ein gutes Leben für alle."
    Niels Boeing: "Das gute Leben ist, wenn alle Menschen an der Stadt teilhaben. Teilhaben in dem Sinne auch, dass sie die Stadt auch selbst machen, dass sie diejenigen sind, die die Stadt verwalten, dass sie aber auch Dinge selbst herstellen können. Und dass sie das alles miteinander im Zusammenspiel machen. Das wird auch nicht konfliktfrei sein. Das gute Leben bedeutet nicht, wir fassen uns alle an der Hand und singen jeden Tag Lieder, und irgendwo kommt das Essen her. Also diese Illusion mache ich mir nicht."
    Niels Boeing, Journalist und studierter Physiker, engagiert sich im Hamburger Netzwerk "Recht auf Stadt". Das ist ein Zusammenschluss von mehr als 60 Initiativen, die gegen Gentrifizierung kämpfen, also gegen den typischen Strukturwandel ehemals ärmerer Stadtbezirke, der dazu führt, dass Mieten und Immobilienpreise explodieren und Menschen, die einst wegen der billigen Mieten hergezogen waren, aus ihren Wohnungen verdrängt werden. Es sind Viertel wie Sankt Pauli in Hamburg oder Prenzlauer Berg in Berlin, wo mit den schicken Bars und Cafés die Investoren und Spekulanten kamen.
    "Die verstädterte Gesellschaft verdichtet sich im Kern und quetscht all diejenigen aus den Zentren, die auf dem Wohnungs- und Immobilienmarkt nicht mithalten können. Die aber die Zentren durch ihre Anwesenheit erst zu dem gemacht haben, was die Immobilienwirtschaft, von urbanem Flair oder Szenelage faselnd, bewirbt."
    Mehr als Gentrifizierungskritik
    Doch in seinen Überlegungen geht Niels Boeing über die bloße Gentrifizierungskritik weit hinaus: Es reiche eben nicht, eine Mietpreisbremse einzuführen und mehr Sozialwohnungen zu bauen.
    Boeing denkt an eine freie Stadt der Zukunft, in der Wohnraum keine Ware mehr ist, sondern vergesellschaftet wird, in der Menschen sich zu einem guten Teil selbst versorgen, indem sie Dinge herstellen und Lebensmittel anbauen. Die freie Stadt der Zukunft schließt niemanden aus – wer dazu gehören will, gehört dazu – und entscheidet auch mit.
    Zitat: "Das ist ein neuer Sound, den die deutschsprachigen Städte bis dahin noch nicht gehört haben. Nicht mehr: gegen Gentrifizierung. Sondern: für das Recht auf Stadt. Recht auf Stadt – das geht nach vorne, weg von der bloßen Rettung dessen, was vielleicht noch zu retten ist. Es klingt wie ein Versprechen auf eine andere, sozialere Stadt."
    Recht-auf-Stadt-Bewegungen wie in Hamburg und anderswo beziehen sich auf ein Konzept, das der französische marxistische Soziologe Henri Lefebvre 1968 in seinem gleichnamigen Buch formulierte. "Le droit à la ville" heißt der Titel, der bislang nicht auf Deutsch erschienen ist und den Boeing in seinem Buch immer wieder zitiert.
    Boeing: "Unsere Aufgabe ist eigentlich, den guten alten Henri Lefebvre nicht als Propheten hinzustellen, sondern zu sagen: Okay, lasst uns diese Spuren wahrnehmen und ihnen nachgehen und überlegen, was das heute, fast ein halbes Jahrhundert später, bedeutet."
    Bezug auf Henri Lefebvre
    Boeing nimmt Lefebvres Thesen auf und entwickelt sie weiter, etwa, wenn er die Idee einer konsequenten außerparlamentarischen Selbstverwaltung in der Stadt formuliert. Die Menschen sollen selbst entscheiden und bestimmen, was mit ihren Häusern, Straßen, Plätzen passiert, fordert Boeing. Die Stadtparlamente seien nicht in der Lage, richtige und den Menschen zuträgliche Entscheidungen zu treffen - die parlamentarische Demokratie habe in den Städten, und wohl nicht nur dort, längst versagt:
    Zitat: "Sie hat nichts mit Demokratie zu tun. Vielmehr ist sie Ausdruck eines Herrschaftssystems, in dem die bürgerliche, oder besser durch und durch verbürgerlichte Gesellschaft sich alle vier oder fünf Jahre eine Oligarchie wählt, die daraufhin regiert. Die deutsche Sprache bezeichnet das, was bei der Wahl einer solchen Oligarchie auf Zeit geschieht, ganz präzise: Wir geben unsere Stimme ab. Anstatt sich gemeinsam über ihre Anliegen zu beraten, geben die Menschen ihre Stimme ab."
    Eine Alternative sieht der Autor etwa in einem Rätesystem mit imperativem Mandat: Gewählte Delegierte sollen ausschließlich nach den Vorstellungen und gemeinsamen Vorgaben der Stadtbewohner entscheiden. Boeing weiß, dass er mit solchen Vorschlägen auf reichlich Skepsis stößt.
    Boeing: "Wenn die Leute hier Rätedemokratie hören, dann zucken sie alle zusammen und denken, oh mein Gott: Lenin! Reloaded! Das hält viele davon ab, diesen Verdruss, den sie zwar schon haben, wenn über die politische Klasse geschimpft wird, in eine produktive Richtung zu lenken und zu sagen: Na, dann lasst uns anfangen und wir machen es selber und wir stellen uns gegen diese politische Klasse und organisieren uns."
    Radikale, linke und utopische Argumentation
    Was Boeing schreibt, mag manch einem zu radikal sein, zu links, zu utopisch. Und tatsächlich klingen einige Argumente wie aus der Zeit gefallen. Obendrein sind seine Begründungen manchmal einseitig. So führt er etwa an, dass die Wohnkosten 1963 nur rund 15 Prozent des Haushaltseinkommens ausmachten im Vergleich zu derzeit etwa 35 Prozent. Das stimmt zwar, ist aber nur die halbe Wahrheit, denn Boeing erwähnt leider nicht, dass sich die durchschnittliche Wohnfläche in der Bundesrepublik sogar verdreifacht hat: Von 15 Quadratmetern pro Person im Jahr 1950 auf heute sage und schreibe 45 Quadratmeter.
    Trotzdem hat der Autor ein wichtiges Buch geschrieben, denn er legt den Finger in eine viel zu wenig beachtete Wunde: Wem nämlich gehören unsere Städte?
    Zitat: "Die Zukunft des Kapitalismus entscheidet sich in der Stadt. Seit dem Crash von 2008 rennen immer mehr Menschen gegen die Zumutungen einer Stadt als Anlageobjekt an, die die urbanen Räume vollends in Profit- und Sicherheitsmaschinen verwandeln."
    Tatsächlich nehmen Investoren, Immobilienfirmen und Shoppingcenter-Magnaten den Kommunalpolitikern immer häufiger das Heft aus der Hand. Sie locken mit dem Argument, dass sie heruntergekommene Quartiere entwickeln und pflegen, für Sicherheit und Sauberkeit sorgen. Doch zugleich verschlingen sie den öffentlichen Raum, wo Bürger flanieren, protestieren oder einfach nur herumlungern können. Stattdessen gilt privates Hausrecht, Fußgänger sind vor allem als Konsumenten erwünscht.
    Dieser Wandel macht ausgerechnet das Urbane zunichte: Denn Städte leben ja gerade von der Verdichtung und Vermischung, von der Gleichzeitigkeit und Überlappung von Arbeiten, Wohnen, Leben, Kultur, Alt und Jung. Stadtbewohnern und Stadtliebhabern, Politikern und Architekten sei dieses Buch deshalb dringend ans Herz gelegt.
    Buchinfos:
    Niels Boeing: "Von Wegen. Überlegungen zur freien Stadt der Zukunft", Nautilus Flugschrift, 160 Seiten, Preis: 14,90 Euro