"Sicher, ich könnte in die Schweiz fahren. Es würde mich einiges kosten, einige Tausender, und nicht zuletzt Überwindung, denn ich müsste bereit sein, mich in die Hände einer Organisation zu begeben, mich mit professionellen Sterbehelfern einzulassen, und – die schlimmste Vorstellung – mir einen Termin geben zu lassen. Der Termin würde in meinem Kalender stehen. Er würde näher rücken, ich könnte die Tage zählen, und irgendwann wäre klar: nächste Woche, in drei Tagen, morgen. Und wenn morgen kein guter Tag zum Sterben wäre?"
Ein Auszug aus dem Film "Hin und weg" von Christian Zübert. Darin geht es um Hannes. Er hat ALS, eine neurodegenerative, fortschreitende Erkrankung, die nach und nach zu einer kompletten Lähmung aller Muskeln führt und immer tödlich verläuft. Hannes macht am Ende einen Termin und lässt sich die Todesspritze geben. Diese aktive Sterbehilfe, bei unseren Nachbarn in Holland und Belgien erlaubt, ist in Deutschland verboten. Aber seit Februar besteht auch bei uns das höchstrichterliche Recht auf Hilfe zur Selbsttötung. Im Urteil heißt es:
"Der Entschluss zur Selbsttötung betrifft Grundfragen menschlichen Daseins und berührt wie keine andere Entscheidung Identität und Individualität des Menschen.(…) Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben ist nicht auf fremddefinierte Situationen wie schwere oder unheilbare Krankheitszustände oder bestimmte Lebens- und Krankheitsphasen beschränkt. Es besteht in jeder Phase menschlicher Existenz."
Selbstbestimmung statt "Schicksal" oder "göttlicher Wille"
Das Lebensende ist selten schön. Aber es ist unausweichlich. Schicksal oder göttlicher Wille nannten frühere Generationen das Sterben und den Tod. Sie wurden meist hingenommen, wie sie kamen. Doch unsere plurale, moderne Gesellschaft erlaubt und erwartet sogar, dass jeder sein Schicksal selbst in die Hand nimmt - im Leben, wie nun auch im Sterben. Lukas Radbruch, Leitender Palliativmediziner an zwei Kliniken in Bonn und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin:
"Wie weitreichend und was das auch für eine Aussage für unsere Gesellschaft ausmacht, finde ich immer noch ein bisschen erschreckend."
Volker Gerhardt lehrt Praktische Philosophie mit den Schwerpunkten Ethik und Kulturphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin:
"Mich hat weniger die Weite des Urteils überrascht, als mich die Entschiedenheit gefreut hat, mit der auf diesem Prinzip der Selbstbestimmung insistiert worden ist."
Gerhardt war viele Jahre Mitglied des Deutschen Ethikrates, gehörte der Kammer für bioethische Fragen der Evangelischen Kirche an und hat ein Standardwerk über "Selbstbestimmung" als Prinzip der Individualität geschrieben:
"Es ist ein historischer Prozess, der schon sehr früh in den Kulturen des alten Orients und der Antike dazu geführt hat, dass die Individualisierung ein ganz wesentliches Element der gesellschaftlichen Organisation und der Einrichtung des einzelnen Lebens ist. Wir können eine gesetzliche Ordnung einer Gesellschaft nur dann erwarten, wenn wir davon ausgehen, dass die Eigenständigkeit des Einzelnen tatsächlich das Regulativ ist, auf das man sich verlassen kann."
"Moral des kategorischen Imperativs"
Eine liberale Gesellschaft setze das eigenverantwortliche Subjekt voraus, so der Philosoph. Es gehöre quasi zur Lebensfunktion einer organisierten Gesellschaft. Eine arbeitsteilige Gemeinschaft basiere auf der Voraussetzung der Selbstverpflichtung des Einzelnen auf die Allgemeinheit. Das bedeute mit aller Konsequenz: Ich entscheide selbst. Und das habe weniger mit Säkularisierung, also der modernen Verabschiedung von einer Götterwelt zu tun, als vielmehr mit dem Prozess der Individualisierung, meint Volker Gerhardt:
"Insofern ist das ein altes Prinzip, das in der Antike durch den Begriff der Autonomie und der Autarkie des Einzelnen gefasst wurde. Es ist dann in dieser Deutlichkeit tatsächlich erst unter dem Begriff der Selbstbestimmung im 18. Jahrhundert zur Geltung gekommen. Und ist das Grundprinzip einer Moral, auf die sich so gut wie alle, auch kirchliche Vertreter in der biopolitischen Debatte fast ausnahmslos berufen, nämlich der Moral des kategorischen Imperativs."
"Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde." – Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1785. Volker Gerhardt:
"Den muss ich selber verstanden haben, dann kann ich mit dem Prinzip meines Handelns auch die Menschheit in meiner Person berücksichtigen. Das ist das Grundprinzip. Und da sehen sie schon in der Formulierung, wie eng Individualität, Selbstbestimmung und die Perspektive auf das Leben aller zusammengehören."
Sterben, um anderen nicht zur Last zu fallen?
So weit die Theorie. Die Verfassungsrichter entschieden auf der Grundlage des Persönlichkeitsrechts, das vom theoretischen Ideal des souveränen, aufgeklärten Individuums ausgeht, das alle Freiheiten zur Auswahl hat. Die Realität ist eine andere. Jeder von uns steckt in einer Vielzahl verschiedener Bedingungen und Abhängigkeiten, und sie liegen nicht alle in unserer Hand. Sie unterscheiden sich auch von so konkreten Dingen wie Gesundheit, Geld, Status, Familie, Freundeskreis und Bildung. All das kann und wird unsere Entscheidungen auch am Lebensende beeinflussen. Es macht einen Unterschied, ob ich mich in eine Altersresidenz einquartieren kann oder in ein öffentliches Pflegeheim. Die Palliativforschung hat Bewohnerinnen in Pflegeheimen gefragt, wie sie sich fühlen und was sie sich wünschen, sagt Lukas Radbruch. Viele erklärten:
"Sie wollen nicht mehr leben, da sie nicht anderen zur Last fallen wollen. Die Idee, dass die Abhängigkeit von anderen Menschen, die einen pflegen, dass das etwas ganz Schlimmes ist, das finde ich ein sehr negatives Merkmal unserer Gesellschaft. Das ist für alle ein Makel. Man will niemand zur Last fallen. Unsere Gesellschaft hat so ein Bild von aktiv sein, selbständig sein, unabhängig sein, auch Alter ist prima, aber nur gut, wenn man das auch als aktiver, selbstbestimmter Mensch erleben kann. Man vergisst völlig, dass man eigentlich nirgendwo in seinem Leben so frei ist, wie man das fürs Lebensende einfordert."
"Notausgang" für verzweifelte Schwerstkranke
Den schwerkranken Menschen, die beim Verfassungsgericht geklagt haben, ging es allerdings nicht vorrangig um ihre Abhängigkeit in der Pflege. Sie wollten vor allem ihren Leidensweg nicht bis zum Ende durchschreiten müssen. Einer von ihnen ist Harald Meier. Als 27Jähriger erkrankte er an der fortschreitenden Multiplen Sklerose. Seit 2015 kann er zwar noch sprechen, die Gesichtsmuskeln bewegen, atmen und schlucken, aber sein ganzer Körper ist gelähmt. Wenn alles so bliebe, würde er gerne weiterleben, erklärte er im Februar in einem Film des Westdeutschen Rundfunks von Erika Fehse:
"Es geht weiter, was kommt als nächstes? Kann ich nicht mehr schlucken? Kann ich normal Nahrung zu mir nehmen? Da kommt Verzweiflung. Dann ist das Verlangen auch ganz groß, dass ich einen Notausgang brauche."
Hilfe zum Suizid war nie ausdrücklich verboten. Bis 2015 konnten auch Ärzte ihren Patienten beistehen, wenn diese frei verantwortlich und psychisch gesund waren. Dann wurde vor fünf Jahren der Paragraph 217 – das Verbot der geschäftsmäßigen Suizidhilfe – vom Bundestag verabschiedet. Und verunsicherte Ärzte und Patienten.
"Wer in der Absicht, die Selbsttötung eines anderen zu fördern, diesem hierzu geschäftsmäßig die Gelegenheit gewährt, verschafft oder vermittelt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft."
Verfassungsgericht öffnet Weg weiter als gedacht
Um Patienten wie Harald Meier am Ende zur Seite stehen zu können, hat der Palliativmediziner Benedikt Matenaer aus Bocholt vor dem Verfassungsgericht geklagt:
"Es bestand die Sorge, dass Menschen wie ich, die in seltenen Fällen bereit sind, Hilfe bei der Selbsttötung zu leisten, sich strafbar machen würden. Das war die Motivation zu sagen, das kann nicht sein. Ich bin immer jemand, der versucht, die Menschen im Leben zu halten, aber ich möchte offen in so ein Gespräch gehen können und dann auch mal einen solchen Weg begleiten können."
Wie den meisten der sechs Kläger ging es dem Arzt um einen Notausgang für wenige Einzelfälle. Dafür sollte der Paragraf 217 fallen. Doch das Verfassungsgericht ging einen großen Schritt weiter. Der Notausgang ist nun ein breites Portal für den selbstbestimmten Tod in "jeder Phase der menschlichen Existenz".
"Das ist ein systematisches Problem", erklärt Reiner Anselm, Professor für systematische Theologie:
"Wenn man nicht irgendwelche Stadien menschlichen Lebens klassifizieren möchte, man sagt, die einen sind wertvoller als die anderen, dann hat man eigentlich keine Möglichkeit irgendwo einen Unterschied zu machen. Das Gericht hat sich dann dazu entschieden zu sagen: Dann machen wir eben keinen Unterschied, das gilt in allen Stadien des Lebens, egal wie alt, wie krank oder wie auch immer."
Theologisches Selbstmordverbot kann nicht für alle gelten
Mit welchem Recht könnte man einem Menschen verbieten, seinem Leben ein Ende zu setzen? Dem Argument, dass Leiden nun mal zum Leben dazugehöre? Mit der Heiligkeit des Lebens als Gottes Geschenk? Das könne als individueller Glaube bedeutsam sein, aber nicht als Gebot für alle Menschen gelten, sagt der evangelische Theologe Reiner Anselm:
"Ich würde nicht sagen, wie das jetzt so viele sehen, dass das der Religion den Boden entzieht. Man muss überlegen, das muss gelten für alle Menschen des Gemeinwesens. Da kann ich schon nachvollziehen, dass man eine partikulare Überzeugung nicht zur Grundlage machen kann für das Gemeinwesen. Das hindert ja niemandem aus seiner individuellen Überzeugung heraus zu sagen, nein, das will ich nicht."
Dem Palliativmediziner Lukas Radbruch geht das Urteil deutlich zu weit. Selbstbestimmung sei immer schon ein Leitbild der Palliativmedizin gewesen, erklärt der Präsident der palliativen Gesellschaft. Es gebe viele Möglichkeiten, schweres Leid am Lebensende zu verhindern:
"Die meisten Menschen mit solchen chronischen Erkrankungen haben lebenserhaltende Dinge wie Blutwäsche, Beatmung oder künstliche Ernährung. Und bei all dem haben sie ein Recht darauf, dass man das einstellt. Wir haben vor kurzem auch noch ein Positionspapier gemacht zum Verzicht auf Essen und Trinken. Wenn da Symptome auftreten, kann ich die Patienten davor abschirmen. Alles das funktioniert."
"Töten auf Verlangen" bleibt in Deutschland unzulässig
"Ich würde das gerne human beenden, das wäre mit so einem Medikament. Und keine Quälerei, Atemnot - einfach einschlafen und nimmer aufwachen."
Harald Meier wünscht sich im WDR-Porträt einen sanften Tod. Wie wir alle vermutlich. Laut aktuellen Umfragen wünschen sich über 70 Prozent aller Bundesbürger Sterbehilfe, also das Abschalten lebenserhaltender Maßnahmen und den assistierten Suizid. 67 Prozent sind für die aktive Sterbehilfe, also das Töten auf Verlangen. Letzteres hat das Verfassungsurteil allerdings klar ausgeschlossen. Das tödliche Medikament muss jeder selbst schlucken.
Aber wie stabil ist ein Tötungswunsch überhaupt? Vor allem amerikanische Studien zeigten, dass zu gesunden Zeiten schriftlich verfügte Patientenwünsche oft angesichts einer schweren Erkrankung und am Lebensende noch einmal geändert würden. Lukas Radbruch:
"Ich erlebe in meiner Erfahrung, dass das sehr schwankend ist. Dass Patienten auch wirklich diesen klassischen Satz sagen, nen Hund würden sie einschläfern, warum machen sie das nicht bei mir? Und im gleichen Gespräch auch Hoffnung äußern und gerne noch Therapien fortsetzen möchten. Also das ist nie so schwarz-weiß, sondern das ist immer grau."
Gerade weil es niemand genau wissen könne, sei der eigene Wille der einzige Gradmesser, meint der Philosoph Volker Gerhardt:
"Er weiß es in der Regel wahrscheinlich auch nicht genau. Aber es ist dann immerhin sein Wille und den sollte man ihm gerade bei dieser letzten Entscheidung lassen. Das würde ich mir bei einer Umsetzung wünschen."
Geschäftsmäßige Suizidhilfe grundsätzlich wieder zulässig
Das Verbot von 2015, Suizidhilfe als Dienstleistung anzubieten, behindere diesen freien Willen, argumentierten auch die Verfassungsrichter. Denn ohne die geschäftsmäßigen Angebote der Suizidhilfe seien die Patienten auf die individuelle Bereitschaft der einzelnen Ärzte angewiesen. Von denen bislang aber nur wenige dazu bereit seien und auch künftig nicht gezwungen werden könnten. Der Schmerztherapeut Benedikt Matenaer findet allerdings, dass das allein eine Aufgabe für die vertrauensvolle und gewachsene Beziehung zwischen Arzt und Patient sei und nicht in die Hände von kommerziellen Organisationen gehöre:
"Ich denke schon, dass es Situationen gibt, in denen es durchaus auch ärztliche Aufgabe sein kann, Menschen beim Suizid zu helfen. Dieses Urteil lässt zu, dass Sterbehilfevereine ihre Arbeit wieder aufnehmen. Da ist der Gesetzgeber schon gefordert, diese Arbeit zu reglementieren."
Die Sterbehilfevereine haben sich unmittelbar nach dem Urteil zurückgemeldet, mit einem Beratungsportal unter dem klaren Namen: Schluss.PUNKT. Doch das letzte Wort hat der Gesetzgeber. Die Verfassungsrichter haben ihm den Ball zugeworfen, den freien Willen dort einzufangen, wo er möglicherweise unter sozialen Druck geraten könnte.
Suizid nicht als als normales Lebensende etablieren
"Nachvollziehbar" finden die höchsten Richterinnen und Richter nämlich Bedenken, "dass geschäftsmäßige Suizidhilfe zu einer gesellschaftlichen Normalisierung der Suizidhilfe führen kann (und sich) der assistierte Suizid als normale Form der Lebensbeendigung insbesondere für alte und kranke Menschen etablieren könne."
Gesundheitsminister Jens Spahn sammelt deshalb zur Zeit Vorschläge für ein "legislatives Schutzkonzept" zur Regulierung der Suizidassistenz. Lukas Radbruch:
"Ich muss sagen, die Idee, dass damit praktisch staatlich zertifizierte Sterbehilfeorganisationen entstehen würden, mich auch eher mit Grausen erfüllt - und den Gesetzgeber fürchte ich mal auch."
Etwa 10.000 Menschen sterben jährlich in Deutschland an einem Suizid, weit über 100.000 Suizidversuche werden im gleichen Zeitraum geschätzt, erklärt die Gesellschaft der Fachärzte für psychische Gesundheit. Laut aktueller Suizidforschung stehen 90 Prozent aller Suizide in unmittelbarem Zusammenhang mit Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen. Die Verfassungsrichter haben im Namen der Selbstbestimmung das Tor für alle Lebensmüden weit geöffnet: Das Recht auf Sterbehilfe gilt "in jeder Phase menschlicher Existenz." Damit dieses Urteil nicht eine Aufforderung zum sanften Sterben werde, sei jeder von uns gefragt, ins Leben einzuladen, sagt der Philosoph der Selbstbestimmung, Volker Gerhardt.
"Die Selbstbestimmung schließt ja doch die Anteilnahme am Schicksal des anderen überhaupt nicht aus. Im Gegenteil. Gerade unter den Bedingungen des Verfassungsurteils ist es ein wichtiger Punkt, dass jetzt die Eigenverantwortlichkeit der Mitmenschen viel stärker herausgefordert ist. Wenn wir sehen, dass jemand vielleicht aus Verzweiflung kurzfristiger Art oder aus einer irrtümlichen Einschätzung der Situation oder in der Erwartung, dass die Behandlung unerträglich ist, ihm zu zeigen, dass es sich lohnt, weiter zu leben."