Nach 15 NSU-Untersuchungsausschüssen, zahlreichen Gerichtsprozessen, journalistischen Recherchen und jahrzehntelanger staatlicher Überwachung und zivilgesellschaftlichem Monitoring der rechten Szene sind unzählige Unterlagen zum rechten Terror in der Bundesrepublik verstreut.
Die Bundesregierung plant nun, für Übersicht zu sorgen – und will mit einem öffentlich zugänglichen digitalen Archiv zur Aufklärung rechter Gewalt beitragen.
Was plant die Bundesregierung, um Rechtsterror digital zu archivieren?
In ein Online-Archiv zum Rechtsterrorismus sollen nach Angaben der Bundesregierung alle verfügbaren und rechtlich zulässigen Unterlagen aus staatlicher Hand, den zivilgesellschaftlichen Bewegungen und journalistischer Arbeit eingestellt werden. Das ambitionierte Ziel ist also eine umfassende Dokumentation rechten Terrors. Das geplante Onlineangebot soll dem Themenportal zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts ähneln.
Schon Anfang 2024 könnte das geplante Themenportal starten. Bis 2030 will die Bundesregierung dann etwa 23 Millionen Euro ausgeben, um alle Bestände aus freien Archiven und Landesarchiven zusammenzutragen. Zunächst müssten jedoch die dafür geplanten 17 Stellen im Bundeshaushalt bewilligt werden.
Welches Ziel steht hinter den Plänen der Ampel-Koalition?
Die Bundesregierung will mit einem öffentlich zugänglichen digitalen Archiv zur Aufklärung rechter Gewalt beitragen. Das Archiv könne die Grundlage für neue Erkenntnisse sein, hofft Misbah Khan (Grüne), Mitglied im Innenausschuss des Bundestags. „Man sieht vielleicht plötzlich Muster, die man vorher nicht erkannt hat. Das gibt die Grundlage für ganz viel Forschungsarbeit.“
Die Grünen hatten in ihrem Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2021 versprochen, „nach dem Vorbild der Stasi-Unterlagen-Behörde ein Archiv über rechten Terror“ einzurichten, „in dem auch die Dokumente und Ergebnisse der 13 parlamentarischen Untersuchungsausschüsse zum NSU ausgewertet werden und die langfristig Wissenschaftler*innen, Journalist*innen und der Zivilgesellschaft zugänglich sind“.
„Damit werden die NSU-Morde, werden aber auch die Opfer rechter Gewalt der Nachkriegszeit Teil der deutschen Erinnerungskultur. Sie sind nicht vergessen“, sagt Wolfgang Zimmermann, Leiter der Dokumentationsstelle Rechtsextremismus im Generallandesarchiv Baden-Württemberg. Seine Einrichtung soll für die Umsetzung des geplanten Archivs verantwortlich sein.
Im Koalitionsvertrag schrieb die Ampel dann fest: „Wir treiben auch innerhalb der Bundesregierung die weitere Aufarbeitung des NSU-Komplexes energisch voran und bringen ein Archiv zu Rechtsterrorismus in Zusammenarbeit mit betroffenen Bundesländern auf den Weg.“ Geplant ist laut der zuständigen Bundesbeauftragten für Kultur und Medien, Claudia Roth (Grüne), nun ein Online-Themenportal zu rechter Gewalt, schreibt eine Sprecherin auf Anfrage.
Welche Archive und Dokumentationen zum Rechtsterrorismus gibt es schon?
Oft waren und sind es journalistische Recherchen und Nachforschungen antifaschistischer Aktivisten, die zur Aufklärung und Einordnung rechten Terrors beitragen. So dokumentiert die Amadeu-Antonio-Stiftung die Todesopfer rechter Gewalt – teils im Widerspruch zu den Behörden, die manche Fälle nicht dem Rechtsextremismus zuschreiben.
Auch die Dokumentationsstelle gegen Rechtsextremismus des Landesarchivs Baden-Württemberg basiert auf dem umfangreichen Privatarchiv des Journalisten Anton Maegerle. Neben dem Archiv führt die Dokumentationsstelle das Monitoring von Zeitungen aus der militanten Neonaziszene in Baden-Württemberg fort, sagt Leiter Wolfgang Zimmermann.
Deswegen ist neben den staatlichen Institutionen auch das Archiv für alternatives Schrifttum aus Duisburg in die Planung eingebunden. Es ist das größte freie Archiv, das beständig wächst, zum Beispiel indem es Bestände anderer freier Archive übernimmt, wenn diese nicht mehr weiterbetrieben werden.
Andere, insbesondere antifaschistische Archive seien bislang nicht in die Planung eingebunden, sagt Ulli Jentsch. Er ist Mitarbeiter des Antifaschistischen Pressearchivs und Bildungszentrums Apabiz und dokumentiert mit der Initiative NSU-Watch Gerichtsverfahren und die Sitzungen der NSU-Untersuchungsausschüsse.
Warum gibt es Kritik an einem staatlichen Archiv zu rechtem Terror?
Eine bloße Zentralisierung vorhandener Akten dürfte keinen Mehrwert bringen, sagt die Vizechefin der Unionsfraktion im Bundestag, Andrea Lindholz (CSU). Ein Archiv dürfe sich nicht ausschließlich mit rechtem Terror befassen, sondern müsse zum Beispiel auch islamistischen und linken Terror in den Blick nehmen.
Martina Renner, Linken-Bundestagsabgeordnete und Rechtsextremismus-Expertin, ist aus anderen Gründen skeptisch. Denn was die Ermittlungsbehörden nicht herausgeben, dürfte auch im Archiv ein blinder Fleck bleiben. Bis heute werde beispielsweise juristisch um Bereitstellung der Akten der Verfassungsschutzbehörden im Zuge des Oktoberfestattentats 1980 gestritten.
Zur Aufklärung gehöre auch, die Verbindungen zum Beispiel zwischen Geheimdiensten und rechter Szene zu beleuchten, sagt Ulli Jentsch von Apabiz. Dass die staatlichen Behörden im Rahmen eines Archivs daran mitwirken, indem sie Unterlagen an die jeweiligen Landesarchive übergeben, glaubt Jentsch nach der Erfahrung in Untersuchungsausschüssen aber nicht.
Was sind Probleme beim Aufbau des Archivs?
Viele der Dokumente werden online zunächst nicht einsehbar sein. Dazu Wolfgang Zimmermann: „Der Anspruch muss schon sein, dass wir ein umfassendes Nachweissystem zum Themenkomplex Rechtsterrorismus aufbauen. Aber es wird gerade jetzt aktuell nicht möglich sein, überall bereits Digitalisate dieser Akten zur Verfügung zu stellen. Aber wir können die Unterlagen nachweisen und damit transparent zeigen, wo zu diesem Thema geforscht wurde, untersucht wurde und welche Unterlagen an verschiedenen Orten, in Archiven oder an Orten der Zivilgesellschaft vorhanden sind.“
Dazu kommt, dass viele der bereits an die Landesarchive abgegebenen Akten noch sogenannten Schutz- und Sperrfristen unterliegen. Solange diese Fristen gelten, bleiben die Unterlagen verschlossen, um zum Beispiel die Persönlichkeitsrechte der Menschen zu schützen, um die es in den Akten geht. Allgemein gilt dafür auf Bundesebene eine Frist von 30 Jahren. So lange dürfen die Akten nur unter bestimmten Bedingungen zum Beispiel von Forscherinnen und Forschern benutzt werden. Außerdem können Behörden viele Unterlagen als sogenannte „Verschlusssachen“ einstufen. Im NSU-Komplex waren Akten auch gelöscht und geschreddert worden.
Timo Stukenberg, tei