Der Sozialpädagoge Malte Lantzsch arbeitet seit 15 Jahren beim staatlich geförderten "Mobilen Beratungsteam gegen Rechtextremismus und Rassismus" in Kassel. Er gilt in Nordhessen als einer der besten Kenner der gewaltbereiten Neonazi-Szene. Die größten Sorgen bereitet ihm seit Längerem die Gruppe "Combat 18". In der Region Kassel leben einige Mitglieder dieser international agierenden Neonazi-Gruppe:
"Ich halte die Strukturen von Combat 18 für extrem gefährlich. Sie verfolgen rechtsterroristische Ideen. Sie haben führerlosen Widerstand ausgerufen - oder propagieren das als Strategie. Das heißt, dass sich kleine Gruppen bilden, die nicht bundesweit vernetzt sind, sondern selbstständig Aktionen durchführen sollen. Das ist schon so der harte Kern der Neonazi-Szene aus Deutschland, der sich da versammelt."
Altszene, die sich nach dem Mauerfall bildete
Eine der Führungsfiguren von "Combat 18", der nordhessische Neonazi Stanley R., soll schon 2006 mit den Rechtsterroristen vom NSU Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos seinen Geburtstag in Kassel gefeiert haben. Schon seit fast 30 Jahren gibt es eine relativ konstante "Altszene" gewaltbereiter Rechtsextremisten in Nordhessen, so Malte Lantzsch. Sie habe sich nach dem Mauerfall gebildet:
"In einem gesellschaftlichen Klima, wo es auch eine rassistische Zuspitzung gab. Denkt man nur an Mölln, Rostock-Lichtenhagen und ähnliche Pogrome, die es damals gab. Die dann in den 2000er Jahren noch politisch aktiv waren. Dann unauffälliger wurden und nie ausgestiegen sind und weiterhin Kontakt untereinander gehalten haben – die jetzt in dem aktuellen gesellschaftlichen Klima wieder motiviert sind. Ein neues Selbstbewusstsein finden, wieder politisch aktiv zu werden. Und sich genau so radikal wie in den 90er Jahren verhalten und auch gewaltbereit sind."
"Ja, es gibt in Kassel seit Jahrzehnten eine verfestigte Nazi-Szene", sagt auch Adrian Gabriel. Der Politologe ist wissenschaftlicher Referent der Linken-Landtagsfraktion im hessischen Parlament.
"Die handelnden Personen sind oftmals die gleichen. Mit extremen Straftaten, mit einer Bekennung zum Nationalsozialismus, Militanz und einem Riesen-Register an Straf- und Gewalttaten."
Das Umfeld zum NSU-Mord an Halit Yozgat 2006
Adrian Gabriel weist darauf hin, dass einige der gewalttätigen Kasseler Neonazis bereits rings um die 1995 verbotene "Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei" – kurz FAP - aufgefallen waren:
"Aus dem ehemaligen FAP-Umfeld, Blood and Honour, Combat 18, Freier Widerstand Kassel, die Kameradschaft Kassel, der Sturm 18. Verbindungen nach Niedersachsen, nach Thüringen, nach Dortmund. All das ist über Jahre nachgewiesen. Und das ist jetzt auch wieder das Umfeld, aus dem jetzt offensichtlich der Lübcke-Mord begangen wurde."
Es ist womöglich auch das Umfeld, aus dem heraus der Nationalsozialistische Untergrund - kurz NSU - am 6. April 2006 den deutsch-türkischen Internet-Betreiber Halit Yozgat in Kassel ermorden konnte.
Denn im Fall Lübcke sitzt aktuell Markus H. in Untersuchungshaft, der dem Hauptverdächtigen Stephan E. den Kontakt zu einem Waffenhändler verschafft haben soll. Er war der Polizei bereits nach dem Mord an Halit Yozgat aufgefallen. Damals hatte er sich sehr häufig auf einer Homepage der Polizei über den Kasseler NSU-Mord informiert. Man verhörte ihn und verfolgte diese Spur dann nicht weiter.
"Massenhaften Hinweisen nicht nachgegangen"
"Wie so viele andere nicht", so Adrian Gabriel. Er hat für die hessische Linksfraktion auch jahrelang die Arbeit im Wiesbadener NSU-Untersuchungsausschuss vorbereitet:
"Wir waren ja immer wieder verwundert, im NSU-Untersuchungsausschuss, um wie viele Akten wir kämpfen mussten, wie viele Geheimhaltungs- und Schwärzungsvorschriften es da gegeben hat. Natürlich haben wir da vieles erfahren, über das wir einfach nicht reden dürfen, weil es der Geheimhaltung unterliegt. Man wusste sehr viel über die Militanz der Szene, man ist hier auch - das konnten wir öffentlich machen – massenhaft Hinweisen auf Waffen, Sprengstoff, auf Untergrundstrukturen, auf rechtsterroristische Strukturen, auf allgemeinen Terrorismus nicht nachgegangen, obwohl die Hinweise alle vorgelegen haben."
Timon Gremmels ist der SPD-Bundestagsabgeordnete für Kassel und Umgebung. Auch er sagt: "In der Tat gibt es klare Hinweise, dass es Querverbindungen zwischen dem NSU und dem jetzigen Mord an Lübcke gibt."
Ein sehr bekannter Neonazi, der schon lange im Dreiländereck Hessen – Thüringen - Südniedersachsen aktiv ist, ist Thorsten Heise, aktuell im Bundesvorstand der NPD. In der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" distanzierte Thorsten Heise sich vor wenigen Tagen von der Kasseler Szene und der Gewalttat an Walter Lübcke. Malte Lantzsch vom "Mobilen Beratungsteam gegen Rechtextremismus und Rassismus" kommentiert:
"Was daran klar wurde, er kennt die entsprechenden Leute. Und dass er jetzt sagt, er habe politisch nicht viel mit denen zu tun, würde ich an seiner Stelle jetzt auch sagen."
Rechte Hooligans auf der Tribüne des Fußballclubs
Malte Lantzsch registriert auch Verbindungen von Thorsten Heise in die Hooliganszene des Kasseler Traditionsfußballclubs KSV Hessen Kassel:
"Dass Alt-Hools, rechte Hools oder Leute aus dem Neonazispektrum, die früher schon im Stadion waren, jetzt vermehrt wieder da sind."
"Wir sind von unserer Satzung her so organisiert, dass wir allen solchen, nicht tolerierbaren Ereignissen entgegentreten. Und als Verein sind wir da auch ganz klar positioniert", wehrt sich Daniel Bettermann, Marketing-Leiter des KSV Hessen Kassel: Natürlich wolle man keine Rechtsradikalen auf der Tribüne.
Klar positionieren will sich die demokratische Stadtgesellschaft in Kassel auch am 20. Juli. Da hat nun die rechtsextreme Klein-Partei "Die Rechte" eine Demo anlässlich des 75. Jahrestages des Stauffenberg-Attentats auf Hitler angemeldet. Die Neonazis wollen auch vor dem Regierungspräsidium demonstrieren, in dem Walter Lübcke gearbeitet hat. Die Stadt will die Demo verbieten lassen. Der SPD-Bundestagsabgeordnete Timon Gremmels:
"Das ist der 75. Jahrestag des gescheiterten Attentats auf Adolf Hitler. Dass genau an diesem Tag die Neonazis vom Hauptbahnhof Richtung Regierungspräsidium marschieren wollen, ist eine Verhöhnung aller Opfer des 20. Juli 1944 genauso wie von Walter Lübcke. Wir müssen als Gesellschaft, als Stadtgesellschaft zeigen: Wir sind mehr. Und ich bin mir sicher, wir werden deutlich mehr sein am 20."