Manfred Götzke: Heute Nacht, spätestens morgen früh wissen wir also, ob es was werden könnte mit der ersten Jamaika-Koalition auf Bundesebene. Unsere Hauptstadtkorrespondenten, die schätzen jedenfalls die Chancen auf fifty-fifty, schließlich ist die Liste der Differenzen deutlich länger als die der Dinge, auf die man sich geeinigt hat. Einer der wenigen Punkte dabei heißt Ganztagsschule - kommt Jamaika kommt ein Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in der Grundschule. Aber ist ein solcher Rechtsanspruch momentan überhaupt sinnvoll und umsetzbar? Darüber möchte ich jetzt mit Dirk Zorn sprechen. Er ist Bildungsexperte der Bertelsmann Stiftung und hat kürzlich eine Studie zur Ganztagsbetreuung veröffentlicht. Hallo, Herr Zorn!
Dirk Zorn: Ich grüße Sie, Herr Götzke!
Götzke: Ist denn ein solcher Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung zurzeit überhaupt umsetzbar?
Zorn: Das fängt schon bei den Begrifflichkeiten an. Ich würde sagen, es geht um einen Rechtsanspruch auf Ganztagsschule, denn Ganztag gut gemacht ist vor allem eine pädagogische Chance. Es geht hier um weit mehr als um Betreuung. Wir halten den Rechtsanspruch, die Einführung eines solchen für richtig, ist pädagogisch geboten. Eltern wollen Ganztagsschulen, und es ist auch finanziell machbar.
Götzke: Sie haben ja in Ihrer Studie vor einem Monat mal durchgerechnet, wie viele Plätze man bräuchte, um eine Ganztagsabdeckung von 80 Prozent bis 2025 zu realisieren. Wie viele Plätze müssten da noch geschaffen werden?
2025 "extrem ambitionierte Zielmarke"
Zorn: Mit Blick auf die Grundschule, also erste bis vierte Klasse, sind das 1,6 Millionen Plätze, die fehlen, um auch bei steigenden Schülerzahlen im Jahr 2025 80 Prozent aller Schüler einen solchen Platz anzubieten.
Götzke: 2025, das sind ja noch ein paar Jahre. Also wäre das realistisch, in Kürze so eine Ganztagsschule, nicht Ganztagsbetreuung, also in der auch wirklich Schule und Unterricht stattfindet, wäre das möglich, das in nächster Zeit umzusetzen?
Zorn: Es ist eine extrem ambitionierte Zielmarke. Wir haben in der Studie zunächst mal ausgerechnet, was es heißt, wenn man die Politik hier beim Wort nimmt. Umfragen bei Eltern lassen erwarten, dass die elterliche Nachfrage im Jahr 2025 ungefähr bei 80 Prozent liegen dürfte. Jetzt hat man mit unserer Studie erstmals eine Grundlage, um die Implikationen dieses politischen Versprechens sich genauer anschauen zu können.
"Bisherige Einigung klammert entscheidende Fragen aus"
Götzke: Wir hatten oder haben einen solchen Rechtsanspruch ja auch bei der Kita-Betreuung. Da wurden dann massiv Plätze ausgebaut - auf Kosten der Qualität, haben viele gesagt. Würde ein solcher Rechtsanspruch auf Ganztag letztlich bedeuten, es findet irgendeine Form von Betreuung in der Schule statt, die dann mit Bildung wenig zu tun hat?
Zorn: Das ist zumindest die große Gefahr, denn die Einigung oder diese vorläufige Einigung, die jetzt im Zuge der Sondierungsgespräche erzielt wurde, klammert ja die entscheidenden Fragen bislang aus, also zum Beispiel die Frage, wie genau dieser Rechtsanspruch realisiert werden soll - als eine kommunale Aufgabe über das Sozialgesetzbuch acht oder als eine Aufgabe, die auch die Kultusminister betrifft und dann primär als eine schulische Angelegenheit verstanden wird.
"Das kindliche Wohlbefinden muss zentrale Rolle spielen"
Götzke: So wie ich Sie verstehe, müsste man also erst mal mit den Kultusministern reden, weil Sie sagen, okay, es muss Schule dort stattfinden und nicht nur irgendeine Form von Aufbewahrung der Kinder oder Betreuung der Kinder.
Zorn: Wir sollten nicht den gleichen Fehler machen wie bei dem Ausbau der Krippen- und Kita-Plätze, wo zunächst ausschließlich auf Plätze und Quantität geachtet wurde und erst sehr viel später qualitative Fragen in den Blick genommen wurden. Wir brauchen gute Ganztagsschulen, denn es geht vor allem um die Interessen der Kinder, die hier im Mittelpunkt stehen sollten, also die Chance auf ein besseres Lernen, auf individuelle Förderung und auch das kindliche Wohlbefinden muss eine zentrale Rolle spielen.
Götzke: Sie haben es ja gesagt, beim Ganztag sind sich die Sondierer noch nicht über die Details einig. Die FDP, die will zum Beispiel den Rechtsanspruch von der Abschaffung des Kooperationsverbotes abhängig machen und an einen Finanzierungsvorbehalt knüpfen. Ist das sinnvoll aus Ihrer Sicht?
Zorn: Ich glaube, man muss eine Ganztagsoffensive nicht zwingend koppeln an eine Abschaffung des Kooperationsverbots. Es gibt durchaus Alternativen, um als Bund auch den Ländern mehr Geld zukommen zu lassen. Man kann zum Beispiel über eine Neuverteilung des Aufkommens bei der Umsatzsteuer sprechen. Ich halte das für einen Irrweg, alles hier auf diese Karte zu setzen, Kooperationsverbot ja oder nein. Was sich aber dahinter verbirgt, ist die von mir eben schon angesprochene Frage, geht es hier um eine rein kommunale Angelegenheit, also um Schulkindbetreuung, zu der Kommunen ohnehin schon nach SGB 8 bislang auch verpflichtet sind, oder geht es im Kern um eine Erweiterung der Schule zu einer echten Ganztagsschule.
"Sorge muss uns der Fachkräftemangel machen"
Götzke: So oder so, sagen Sie, man müsste sehr viel Geld dafür in die Hand nehmen.
Zorn: Man muss sehr viel Geld dafür in die Hand nehmen, wobei die fehlenden Finanzen diesmal offenbar nicht das zentrale Problem zu sein scheinen. Es gibt ja finanziellen Spielraum, und, wie eine andere Studie aus unserem Haus kürzlich zeigte, versprechen Investitionen in gute Bildungseinrichtungen sogar eine fiskalische Rendite langfristig betrachtet. Mehr Sorge muss uns tatsächlich der dann zu erwartende Fachkräftemangel machen.
Götzke: Die Jamaika-Sondierer haben sich auf einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung geeinigt. Wie das Ganze umgesetzt werden könnte, hat uns der Bertelsmann-Bildungsexperte Dirk Zorn erklärt. Vielen Dank!
Zorn: Ich danke Ihnen!
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