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Rechtsanspruch für Eltern
Pädagogin: Ganztagsschule darf nicht nur Verwahrung sein

Die Ganztagsschule dürfe keine vertane Zeit für die Kinder sein, sagte Eva Reiter vom Ganztagschulverband im Dlf. Es brauche neue pädagogische Konzepte und vor allem eine Verknüpfung von Vor- und Nachmittag. Das erfordere ein Umdenken auch bei den Lehrern - und ausreichend Ausstattung.

Eva Reiter im Gespräch mit Sandra Pfister |
Lernen am Computer: Grundschüler mit Tablet meldet sich (Symbolbild)
Der Ganztag müsse Kindern die Chance bieten, sich zu entwickeln, sagte die Pädagogin Reiter im Dlf (imago / Westend61)
Sandra Pfister: Der Ausbau zu Ganztagsschulen ist vielleicht die größte Reform, die das deutsche Schulsystem in den vergangenen Jahren erlebt hat. Wir haben es gerade gehört, die Bundesfamilienministerin will einen Rechtsanspruch auf Nachmittagsbetreuung geben, allen, die Kinder in der Grundschule haben, und darüber reden wir jetzt mit der Vorsitzenden des Ganztagsschulverbandes, mit Eva Reiter. Guten Tag, Frau Reiter!
Eva Reiter: Schönen guten Tag!
Pfister: Frau Reiter, was halten Sie denn davon?
Reiter: Wenn man bedenkt, dass Ganztagsschulen zu einem höheren Bildungserfolg beitragen und zu einer höheren Bildungsgerechtigkeit, dann finden wir das als Verband natürlich großartig, aber auf jeden Fall nicht um jeden Preis.
Pfister: Um jeden Preis bedeutet, die Qualität darf nicht leiden.
Reiter: Das bedeutet das natürlich, genau. Natürlich, würde ich sagen, leidet die Qualität, wenn man einen flächendeckenden Ganztag einfach so einführt. Die Schulen brauchen Vorlauf. Schulen, die mit Trägern arbeiten, brauchen Vorlauf. Es muss eine Gemeinschaft hergestellt werden. Es muss ein pädagogisches Konzept erstellt werden. Ein guter Ganztag muss wachsen. Es muss eine ganzheitliche Herangehensweise an Organisationen und Pädagogik passieren. Wir brauchen eine Rhythmisierung, also eine Verknüpfung von Vor- und Nachmittag, inhaltlich und personell. Das ist nicht einfach so herzustellen.
"Verknüpfung von Vor- und Nachmittag"
Pfister: Wir dröseln das gerade mal ein bisschen auf. Sie sagen, man braucht eine inhaltliche Verknüpfung von Vor- und Nachmittag, das wäre ein gebundener Ganztag.
Reiter: Ganz genau. Das ist auch tatsächlich vom Ganztagsschulverband her unsere ideale Vorstellung, aber auch eine Verknüpfung von Vor- und Nachmittag kann passieren, wenn man mit einem Träger arbeitet. Das heißt aber, man braucht Organisationszeiten, man braucht Austauschzeiten, und es muss einfach auch möglich sein, finde ich, dass Personal am Vor- und am Nachmittag arbeitet. Ansonsten hat man so einen angedockten Ganztag, vormittags Schule, nachmittags Ganztag, und dann sind wir tatsächlich bei dem Punkt, wo man sich fragen muss, ist das einfach nur Verwahrung und Betreuung?
Pfister: Es gibt ja zwei Punkte da bei der pädagogischen Arbeit der Träger. Zum einen müssen die meisten überhaupt keine pädagogische Qualifikation nachweisen, zumindest die einzelnen Mitarbeiter, und zum anderen ist die Frage, wo kriegen Sie überhaupt die Leute her? Es herrscht ja Mangel an Betreuern im Nachmittag schon jetzt.
Reiter: Ja. Wenn ich jetzt von meiner Schule ausgehe, ich bin ja von Haus aus Lehrerin und Ganztagskoordinatorin, dann ist es tatsächlich so, wir arbeiten ganz bewusst zwar mit ganz vielen Kooperationspartnern zusammen, aber wir machen den Ganztag aus eigener Hand. Ja, es ist schwer, gute Leute zu finden, aber ich habe mir tatsächlich mit der Zeit einen Pool von Leuten, der ist entstanden durch viele Kontakte. Ich spreche Leute an, und ich muss auch ganz ehrlich sagen, ich sehe es per se kritisch, zu sagen, man hat auch Externe im Ganztag, weil ich finde, Schüler und Kinder können profitieren davon, dass man über den Tellerrand schaut, dass man Externe heranholt, externe Experten, die andere Dinge bieten können als die Lehrerinnen und Lehrer, Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen, Erzieherinnen und Erzieher das können. Das heißt aber nicht, dass man das in die Hände nur dieser Menschen geben sollte.
Ganztag solle Weg in die Lehrerbildung finden
Pfister: Das, was Sie ansprechen, ist ja, dass die Lehrer sich sehr eng, idealerweise, mit den Nachtmittagsbetreuern verzahnen und da Konzepte anbieten, die aus einer Hand kommen oder zumindest zu Ende gedacht sind. Gibt es die Bereitschaft bei vielen Lehrern?
Reiter: Ich glaube, das ist sehr unterschiedlich. Wir hier in Hamburg sind sehr daran interessiert, dass der Ganztag auch seinen Weg in die Lehrerbildung findet. Das passiert sehr schleppend tatsächlich. Wir haben immer wieder neue Kolleginnen hier, die sehr erstaunt sind, dass sie auch am Nachmittag arbeiten sollen. Es gibt auch ganz andere, die das als eine tolle Chance, eine tolle Möglichkeit empfinden, auch anders zu arbeiten, auch für sich den Tag anders zu rhythmisieren. Ich glaube, dass es noch ein großes Umdenken erfordert, weil in vielen Köpfen immer noch der Lehrer als ein Halbtagsberuf vielleicht angesehen wird. Die Zeiten sind lange vorbei. Ich finde empfinde das als große Bereicherung. Das heißt aber natürlich auch, dass man über Arbeitsplätze für Lehrerinnen und Lehrer oder pädagogisches Personal an Schulen nachdenken muss. Dafür sind ganz häufig die Räume nicht da.
Pfister: Sie skizzieren, wie es idealerweise sein sollte. Faktisch ist es aber so im Moment, dass eine Schule schon als Ganztagsschule zählt, wenn sie an mindestens drei Tagen einfach sieben Stunden geöffnet hat, wenn sie Mittagessen anbietet und wenn die Kinder betreut werden. Da kontrastieren die Realität und der Anspruch doch gewaltig, oder?
Reiter: Ja, auf jeden Fall, aber deshalb setzen wir uns ja auch dafür ein, dass wir möglichst verbindliche Qualitätsstandards entwickeln. Ich hatte Raumkonzepte angesprochen, man redet im Moment sehr viel von einem kostenfreien Mittagessen. In vielen Bundesländern ist es eben nicht so, dass alle Kinder am Mittagessen teilnehmen können. Das ist oft ein riesiges Problem. Man braucht auf jeden Fall ausreichende Ressourcen, um all das umzusetzen, damit es nicht nur eine pure Verwahrung bleibt.
Pfister: Ich sehe Ihren Anspruch, die Qualität hochzuhalten. Wie groß ist denn Ihr Vertrauen, dass wenn möglicherweise ein Rechtsanspruch kommt auf Ganztagsplätze in der Grundschule, dass diese Standards, die Sie beschreiben, dass die hochgehalten werden und nicht eher untergraben?
Reiter: Ich glaube, dass wenn der erste Anspruch ist, dass man flächendeckenden Ganztag umsetzt, dann kann man nicht überall Qualität so hochhalten. Das heißt aber nicht, dass man nicht langfristig danach streben sollte, damit es keine vertane Zeit ist.
Kinder sollten nicht nur verwahrt werden
Pfister: Sie sagen, damit es keine vertane Zeit ist.
Reiter: Ja, es darf keine vertane Zeit für die Schüler sein oder für die Kinder sein. Wenn man nur verwahrt wird, wenn man von Lernangeboten spricht, dann denken viele Leute, man will den ganzen Tag Unterricht machen. Darum geht es mir nicht. Ich kann forschen, ich kann Ausflüge machen, ich kann meine Welt entdecken, ich kann ganz viel lernen über Spielen, aber es muss anregende Angebote geben. Ich muss Zeit haben, mich selber zu entwickeln, ich muss Zeit haben, meine Interessen zu entdecken, Musikschulen, Sportvereine, all das muss seinen Platz im Ganztag finden. Wir kooperieren hier viel mit Vereinen, die dann vielfältige Angebote bei uns im Ganztag machen.
Pfister: Das hört sich wiederum an, als würde es richtig viel kosten. Ist das denn finanzierbar als Rechtsanspruch?
Reiter: Ich bin ja zum Glück nicht die Finanzministerin. Ich muss nicht sagen, ob es finanzierbar ist. Ich finde aber, wenn wir in Bildung investieren wollen, dann müssen wir es auch richtig machen. Wenn wir einen Rechtsanspruch umsetzen, dann müssen wir auch früh genug für Ressource sorgen, und zwar personelle, räumliche und sächliche Ressource.
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