Nachdem der Verfassungsschutz seinen Lagebericht zu Rechtsextremismus in Polizei und Bundeswehr vorgestellt hat, hat Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) einer Studie eine weitere Absage erteilt. Seehofer sprach von "einer geringen Fallzahl" und sagte: "Wir haben kein strukturelles Problem in den Sicherheitsbehörden."
Der Lagebericht "Rechtsextremisten in Sicherheitsbehörden" des Bundesamtes für Verfassungsschutz umfasst den Zeitraum vom 1. Januar 2017 bis 31. März 2020 und gibt Auskunft über die Zahl der intern registrierten Verdachtsfälle, Verfahren und deren Ausgang. In dieser Zeit wurden 377 Fälle in Polizeibehörden, Kriminalämtern, Verfassungsschutzämtern, dem Bundesnachrichtendienst und dem Zoll gemeldet. Hinzu kommen 1.064 Verdachtsfälle beim Militärischen Abschirmdienst für den Bereich der Bundeswehr.
Der Innenminister von Thüringen und Vorsitzende der Innenministerkonferenz der Länder, Georg Maier (SPD) schätzt die Lage anders als Seehofer ein. Auch Maier sieht zwar kein strukturelles Problem bei der Polizei und ist davon überzeugt, dass der Großteil der Polizistinnen und Polizisten "auf dem Boden des Grundgesetzes steht". Doch die Zahl der Einzelfälle sei eindeutig zu viel. Er will darum, den Ursachen für die rechtsextremen Tendenzen auf den Grund gehen und plädiert für eine bundesweite Studie zu dem Thema. Außerdem wird er in Thüringen eine unabhängige Beratungsstelle einrichten, an die sich Polizisten und Polizistinnen bei Problemen wenden können.
Stefan Heinlein: Es gibt kein strukturelles Problem mit Rechtsextremismus in den Sicherheitsbehörden. Wir haben gerade Horst Seehofer noch einmal gemeinsam gehört. Teilen Sie diese Einschätzung des Bundesinnenministers?
Georg Maier: Ja, ich teile diese Einschätzung, wobei ich sagen muss, dass natürlich die Anzahl der Fälle jetzt schon so groß geworden ist, dass auch ich Handlungsbedarf sehe.
Heinlein: Wo sehen Sie Handlungsbedarf?
Maier: Na ja. Wir haben jetzt Fälle, die jetzt auch immer häufiger zu Tage treten, dass Polizistinnen und Polizisten zum Beispiel in WhatsApp-Chats oder ähnlichen Dingen Dinge äußern, die einfach nicht akzeptabel sind. Mehr noch: die sind strafbar. Das Verwenden verfassungsfeindlicher Symbole und so weiter, das sind Dinge, die müssen wir natürlich dringend abstellen.
"Miteinander sprechen, soziale Selbstkontrolle ausüben"
Heinlein: Wie kann man diese Dinge dringend abstellen?
Maier: Ich glaube, man muss eines sehen: Mein Ziel ist es, Polizistinnen und Polizisten auch im polizeilichen Alltag stark zu machen, weil der Job ist kein leichter, ganz im Gegenteil. Das ist eine schwere Aufgabe und wir müssen die Kolleginnen und Kollegen ermutigen, sich selbst immer wieder zu reflektieren, das heißt miteinander zu sprechen, soziale Selbstkontrolle auszuüben. Das ist, glaube ich, der wesentliche Faktor. Das muss in der Ausbildung geübt werden. Das muss aber auch im polizeilichen Alltag, in der Dienststelle tagtäglich geübt werden, und das ist auch und gerade eine Führungsaufgabe.
"Kritik von außen muss akzeptiert werden"
Heinlein: Soziale Selbstkontrolle in den Dienststellen – das ist ein interessanter Punkt, Herr Maier. Gibt es denn bei Polizei, Bundeswehr, bei den Sicherheitsbehörden insgesamt einen Korpsgeist, der es verhindert, dass es diese soziale Selbstkontrolle gibt, der rechtsextremes Verhalten und Äußerungen eher unter den Teppich kehrt?
Maier: Den mag es in einzelnen Dienststellen geben, oder in einzelnen Einheiten. Wir haben davon gehört, dass auch das Problem bei der Bundeswehr, so wie Sie es eben gesagt haben, aufgetaucht ist – insbesondere in sogenannten geschlossenen Einheiten. Dort kann es dazu kommen und da kommt es offensichtlich auch dazu, dass Kritik nicht geübt wird untereinander, dass Kritik von außen sogar dazu führt, dass man sich abschottet, um sich nach außen zu verteidigen, und das ist die falsche Herangehensweise. Kritik muss geübt werden und Kritik von außen muss auch akzeptiert werden, damit man besser wird. Fehlerkontrolle oder eine Fehlerkultur ist ein ganz wichtiges Element nicht nur bei der Polizei, sondern allgemein in Behörden, aber hier ist es natürlich besonders wichtig.
"Ich rufe ganz ausdrücklich nicht zur Denunziation auf"
Heinlein: Ich habe es eingangs gesagt: Wer einen Kollegen beim Vorgesetzten anschwärzt, der gilt als Denunziant, gerade in geschlossenen Systemen. Wie kann man das ändern?
Maier: Ich rufe auch ganz ausdrücklich nicht zur Denunziation auf. Da ist aber auch noch ein Unterschied. Reflektion muss nicht heißen, dass man dann gleich, sage ich mal, einen Kollegen anschwärzt, sondern der erste Schritt ist natürlich erst mal das Gespräch, das direkte. Wenn das aber nicht fruchtet mit dem Kollegen, dann muss man an den Vorgesetzten gehen. Wenn das nicht fruchtet, dann muss es Institutionen geben, die für Polizistinnen und Polizisten auch da sind, die unabhängig, sage ich mal, auch von den Hierarchieabläufen offen sind, um Kritik dort zu platzieren, damit dort auch agiert werden kann. So eine Stelle möchte ich haben für Thüringen.
"Polizei-Vertrauensstelle öffnen für Polizistinnen und Polizisten"
Heinlein: Das geht in die Richtung des Vorschlages der Grünen, die jetzt einen unabhängigen Ansprechpartner für Polizisten fordern, also eine Art, wenn man das übersetzt, polizeilicher Wehrbeauftragter. Kann man das so nennen? Ist das eine gute Idee der Grünen?
Maier: Ja! Ich denke, es lohnt sich schon, darüber noch mal nachzudenken beziehungsweise zu überlegen, was man tun kann. Wir haben in Thüringen eine sogenannte Polizei-Vertrauensstelle. Dort können sich Bürgerinnen und Bürger hinwenden, wenn sie Probleme mit der Polizei haben oder sich ungerecht behandelt fühlen. Wir werden diese Polizei-Vertrauensstelle – die ist unabhängig von der Polizei; die ist zwar im Innenministerium angesiedelt, aber direkt beim Staatssekretär, nicht bei der Polizeiabteilung -, die zu öffnen für Polizistinnen und Polizisten.
Ich habe mir auch das Modell in Dänemark angeguckt, wo es interne Ermittlungen gibt, die unabhängig geführt werden, außerhalb, sage ich mal, der Polizeibehörden. Auch das finde ich einen interessanten Ansatz. Wir prüfen, ob wir in Thüringen was Ähnliches einführen können.
"Es gibt sicher eine Dunkelziffer"
Heinlein: Noch gibt es aber dieses dänische Modell in keinem deutschen Bundesland und vor diesem Hintergrund gibt es ja den Vorwurf, dass diese Studie, diese 377 Fälle, nur einen kleinen Teil der rechtsextremen Vorfälle in den Sicherheitsbehörden tatsächlich darlegt. Wie hoch ist denn aus Ihrer Sicht das Dunkelfeld, das jetzt noch ausgeleuchtet werden muss?
Maier: Es gibt sicherlich eine Dunkelziffer, aber das ist jetzt Spekulation, wie groß die ist. Ich denke, dass es wahrscheinlich mehr Fälle gibt. Es treten ja jetzt auch immer mehr zu Tage. Aber das ist natürlich auch eine Reaktion, dass wir von Seiten der Innenministerien, auch der Polizeibehörden jetzt verstärkt da noch mal nachforschen, genauer hinschauen, weil wir das natürlich nicht akzeptieren können. Insofern wie gesagt: Ich zögere jetzt, irgendwelche Spekulationen anzustellen, was die Dunkelziffer anbelangt.
"Die übergroße Mehrheit steht fest auf dem Boden des Grundgesetzes"
Heinlein: Aber Horst Seehofer, Herr Maier, hat gestern nicht spekuliert, sondern sich ganz konkret festgelegt. Er hat gesagt, 99 Prozent der Mitarbeiter in den Sicherheitsbehörden stehen fest auf dem Boden des Grundgesetzes. Welche Prozentzahl ist denn aus Ihrer Sicht richtig, wenn es eine Dunkelziffer gibt? 90, 95, 96 Prozent?
Maier: Eines glaube ich wirklich, dass die übergroße Mehrheit – und da rede ich auch von 90 Prozent plus X – der Polizistinnen und Polizisten fest auf dem Boden des Grundgesetzes steht. Wissen Sie, wir haben in Thüringen 6.000 Polizistinnen und Polizisten, die jeden Tag ihren Dienst verrichten. 6000 ist eine große Zahl. Und wir wissen, dass Extremismus oder Rassismus in unserer Gesellschaft eine Rolle spielt. Natürlich wollen wir, dass in der Polizei die Quote null ist, aber wir müssen den Realitäten ins Auge sehen. Manche Menschen radikalisieren sich wie auch immer. Diese Gründe müssen wir erforschen. Deswegen bin ich auch für eine Studie. Bei der Polizei müssen wir das Ziel haben, dass es null Prozent sind, die, sage ich mal, sich radikalisieren, und das ist eine große Herausforderung, aber die nehmen wir auch an.
"Herausfinden, wo die Ursachen für die Radikalisierung liegen"
Heinlein: Man weiß es aber noch nicht ganz genau. Man muss noch spekulieren, sagen Sie. Sie fordern eine Studie. Horst Seehofer hat sich gestern noch einmal ganz klar gegen diese wissenschaftliche Studie ausgesprochen. Wie können Sie Ihren Bundeskollegen überzeugen?
Maier: Na ja. Wir sind jetzt erst mal im Gespräch miteinander. In der Innenministerkonferenz habe ich den Vorsitz und ich möchte das zum Thema machen, oder das ist ja schon längst ein Thema. Auf Seiten der SPD-Innenminister werden wir uns in Kürze treffen und uns darüber verständigen, was für einen wissenschaftlichen Ansatz wir haben möchten. Dort gibt es verschiedene Vorschläge. Ich weigere mich, eine Studie zu machen, die einen tatsächlichen Generalverdacht hat oder beziehungsweise die Gesinnung überprüft, sondern wir brauchen eine Studie, die noch mal identifiziert, herausfindet, wo die Ursachen für Radikalisierung liegen. Und ich glaube, da möchte ich noch mal überzeugen. Ich merke aber auch, dass auch bei Horst Seehofer Bewegung drin ist, spätestens seit jetzt auch die Gewerkschaften gesagt haben, wir unterstützen das.
"Es wird eine Studie geben"
Heinlein: Woraus schließen Sie das, Herr Maier, dass bei Horst Seehofer noch Bewegung drin ist? Denn gestern klang er ja in Berlin vor der Bundespressekonferenz ganz hart und entschlossen und sagt nein zu dieser Studie.
Maier: Ja lassen Sie uns das noch mal im internen Kreis miteinander diskutieren. Wie gesagt, ich habe das jetzt auch hier bei meinen Kollegen aus den Nachbarländern, die ja auch CDU-Innenminister sind. Ich merke, dass das Nachdenken dort schon intensiv stattfindet, und jetzt müssen wir erst mal im internen Kreis noch mal gemeinsam diskutieren. Wenn die Kollegen nicht bereit sind, dann machen wir das alleine beziehungsweise die SPD-Innenminister, die mitmachen wollen, werden das dann auch tun.
Für Thüringen kann ich folgendes sagen: Es wird eine Studie geben, alleine, oder aber am liebsten natürlich mit allen anderen Bundesländern zusammen.
"Die Einzelfälle sind zu viele geworden"
Heinlein: Ich will Sie da noch nicht ganz von der Angel lassen, Herr Maier. Sie sind Vorsitzender der Länder-Innenministerkonferenz. Wie stark ist denn da die gemeinsame Linie? Sind es nur die SPD-Länder, die klar ja sagen zu dieser Studie, oder gibt es auch Länderkollegen, die von der Union vertreten werden, die durchaus mit dieser Studie sympathisieren?
Maier: Sie werden mir das nachsehen, dass ich jetzt nicht über einzelne Details berichte. Die Innenministerkonferenz ist ein Gremium, das nur einvernehmlich Beschlüsse fasst. Insofern möchte ich jetzt erst mal, bevor wir darüber reden, nicht irgendwelche Spekulationen machen, wer denn noch dagegen ist. Wir sind, so nehme ich das wahr, die SPD-Innenminister sind da fest entschlossen, und wir werden wie gesagt noch mal intern schwer dafür werben, dass wir das jetzt auch gemeinsam umsetzen. Und wie gesagt: Meine Wahrnehmung ist, dass eine gewisse Bewegung drin ist, weil die Einzelfälle sind jetzt zu viele geworden. Das muss man mal deutlich sagen. Und Handlungsbedarf ist gegeben.
Heinlein: Sie wollen es intern besprechen. Das klingt nach einem Korpsgeist auch bei den Innenministern.
Maier: Nein! Das ist Kollegialität. Man kommt manchmal zu besseren Lösungen, wenn man erst mal intern spricht. Sehen Sie es mir nach. Natürlich: Die Diskussion findet ja sowieso schon statt. Ich merke auch, wie die Kollegen, die CDU-Kollegen natürlich auch jetzt medial schon ordentlich unter Druck stehen, warum sie immer wieder argumentieren, dass es jetzt keine Studie braucht. Das verstehe ich persönlich nicht, aber wie gesagt, die Argumente sind da noch nicht vollständig ausgetauscht. Ich gehe davon aus, dass wir eine Studie bekommen, und wie die Dimension ist, bleibt jetzt erst mal dahingestellt.
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