"Wir sind das Volk. Wir haben die Wahrheit. Jeden Widerspruch gegen diese unsere Wahrheit gilt es, mit dem Schwerte der unzweideutigen politischen Werteentscheidung zu zerhauen. Damit ist der Parlamentarismus am Ende. Damit ist die Demokratie am Ende. Damit ist der Pluralismus am Ende."
So beschreibt der Politikwissenschaftler Heinrich Oberreuter die gegenwärtige Renaissance einer deutschen Identitätspolitik. Hier wird ein Kollektiv heraufbeschworen. Die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland sagt zwar, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, sie geht jedoch gerade nicht von einem einheitlichen Volkswillen aus. Ein solcher "Volkswille" sei letztlich gegen die bundesrepublikanische Verfassung gerichtet.
Oberreuther sagt: "Wir sollten uns überlegen, was bei vielen Identitätspolitikern passiert, die die Menschenwürde der Migranten nicht akzeptieren und sie nur Deutschen in der irrtümlichen Auslegung des Grundgesetzes zusprechen. Die wandern nämlich eigentlich aus dem Grundgesetz aus."
"Unsere Verfassung weiß, dass Menschen verschieden sind"
So sieht das auch der grüne Politiker und Lehrbeauftragte am Centrum für Religionswissenschaftliche Studien in Bochum, Volker Beck. Die Pluralität sei im Grundgesetz garantiert.
"Unsere Verfassung weiß, dass die Menschen verschieden sind und verspricht ihnen in dieser Verschiedenheit die Gleichheit. Also sie müssen nicht alle gleich werden. Nicht jeder muss uniform ein Geschlecht haben und das andere Geschlecht muss sich verstecken oder eine bestimmte sexuelle Identität haben oder einen einheitlichen Glauben oder eine gemeinsame politische Anschauung. Sondern das darf alles verschieden sein und trotzdem sollen die Menschen die gleichen Rechte, die gleichen Möglichkeiten, die gleiche soziale Sicherheit, die gleiche Sicherheit vor Kriminalität genießen wie alle anderen Bürger auch."
Wer das nicht wolle, der wolle letztlich auch keine Demokratie. Auch wenn das die AfD so offen nie sagen würde.
"Identitäre Politik versucht das wegzufegen, indem sie sagt, es gibt eine Identität, das ist die richtige Identität. Zu der muss man dazugehören und mit der hat man einen Anspruch auf ein Mehr. Auf ein Mehr auf sozialen Status, Mehr an Wahrheit, Mehr an sozialer Sicherheit. Eine geistig-soziale Grundströmung in der Gesellschaft und so natürlich auch im religiösen Zusammenhang", sagt Beck.
Mischung aus Ostereiern und Weihnachtsbaum
Denn die Neue Rechte wird von Anfang an auch von rechtskatholischen bis streng evangelikalen Kreisen unterstützt und getragen. Die christliche Religion werde da jedoch, so Volker Beck, nicht ernst genommen, sondern zur reinen Fassade - eben, um eine scheinbar gemeinsame Identität herstellen zu können.
Beck: "Wenn Pegida in Dresden in der Adventszeit Weihnachtslieder singt, da ist im Namen des Christentums etwas unterwegs, was das Christentum für eine Mischung aus Ostereiern und Weihnachtsbaum oder Christstollen hält", sagt Beck. "Aber was relativ wenig weiß über die biblischen Geschichten, über die Theologie des Christentums, was unterscheidet einen katholischen Christen von einem evangelischen Christen. Da ist Christentum nur noch oberflächliches Ornament, um sich selbst zu beschreiben, weil man nicht so genau weiß, wer man ist - aber sagen will, dass man nicht der andere ist, nämlich der Muslim und Migrant, von dem man sich eigentlich absetzen will."
Für solche Identitären bedeutet christliche Nächstenliebe meist, dass sie zuerst nur der eigenen Familie und den Deutschen gelte, nicht aber Flüchtlingen und Migranten. Dass Bischöfe, Superintendenten und Pfarrer seit Jahren dagegen halten, wird verhöhnt und dient den neurechten Christen meist als Beweis, wie weit sich die Kirchen bereits vom Volk entfernt hätten. Dabei kann es theologisch betrachtet gar nicht DIE eine christliche Identität geben.
Vereindeutigung des Vielfältigen
"Wenn man in das Alte Testament hineinschaut: Der Psalm 8, als ein Beispiel, stellt die Frage, was der Mensch ist. Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst? Wie ist das denn in Blick auf Jesus Christus? Die Frage von Jesus Christus selbst: Für wen halten mich die Menschen? Das ist eine Inszenierung auch von einer Identitätsfrage. Wie denn dieser Jesus sich selbst erlebt haben mag? Wie ist das Ich-Bewusstsein? Das Sohnes-Bewusstsein? Das Selbst-Bewusstsein dieses Jesus gewesen? Also auch eine Identitätsfrage."
Sagt Dogmatikerin Gunda Werner von der Katholisch-Theologischen Fakultät an der Universität Graz. Jeder Christ hat eine letztlich gebrochene, in Teilen zusammengesetzte Persönlichkeit. Das habe der evangelische Pastoraltheologe Henning Luther gut ausgedrückt. Identitäten sind nie eindeutig und abgeschlossen, sondern immer auch im Wandel begriffen.
Werner: "Fragmente sind etwas, das auf Vergangenheit hinweist. Fragmente sind aber auch Fragmente der Gegenwart. Dinge, die einfach nicht zu Ende gebaut worden sind. Fragmente sind aber auch Dinge, die auf die Zukunft hinweisen. Vielleicht wird es ja noch vollendet. Christliche Identität kann gar nicht anders gedacht werden als als Fragment. Alles andere wäre nicht christlich, denn man könne sich dann nicht mehr auf Christus berufen, wenn man eine vollendete abgeschlossene ganze heile Identität haben möchte."
Die identitäre Versuchung des Christentums sei hingegen eine Art sektenhafte Schwarz-Weiß-Malerei und Verneinung der Wirklichkeit.
"Attraktiv macht es, dass es vereinfacht. Die Gruppierungen, die sehr abschließend sind, die abschließend ihre Vergemeinschaftung organisieren und strukturieren, sehr deutlich sagen, wer dazu gehört und wer nicht dazu gehört. Sie haben klare Identitätsmarker. Dazu gehört die Papsttreue, die marianische Ausrichtung, die eucharistische Ausrichtung, die Konzentration auf die Sünde, die Sündenvergebung in der spezifisch sakramentalen Form, dazu gehört eine sehr klare binnenstrukturierte Identität, wie man sie auch unter Evangelikalen kennt. Und dazu gehört eine sehr klare und eindeutige Ansage, wie denn das Leben funktioniert und bestimmte Dinge meidet, Sex vor der Ehe, Homosexualität und so fort und sich nach sehr klaren Geboten, Orientierungen richtet, die keinerlei Links-Rechts oder Buntes zulassen", sagt Werner.
Ganz viel Gefühl
Es gehe bei den identitären Christen weniger um eine verstandesmäßige Beschäftigung mit Jesus von Nazareth oder um eine reflektierte Theologie. Vielmehr stehe das christliche Wir, das kollektive Erlebnis im Mittelpunkt, sagt die katholische Theologin Gunda Werner:
"Dass diese Vereindeutigung gepaart ist mit einer hohen Emotionalität. Es wird Musik angeboten, es werden Gesänge angeboten, es werden hoch emotionale Strukturen über Lobpreislieder angeboten, die nicht nur den Kopf ansprechen, sondern die gesamte Emotionspraktik und die Emotionsstruktur. Inhalte werden über Emotionen transportiert und das ist eine Form der Vereinfachung."
Und diese Vereinfachung bestehe oftmals in eine Aufteilung von: Wir Christen hier, die Muslime möglichst weit draußen da. Vielleicht sogar noch gepaart mit einer gewissen Angst, dass die vermeintlich streng gläubigen Muslime das mittlerweile seichte und glaubensschwache Europa übermannen könnten. Das aber sei Quatsch, sagt Volker Beck. Auch bei Migranten gebe es keine geschlossene homogene Identität.
"Plural wie die Mehrheitsgesellschaft auch"
"Sie sind genauso plural wie die Mehrheitsgesellschaft auch", sagt Beck. "Wir hatten linke Migranten aus der Türkei, die super säkular sind, mit Religion, schon gar nicht mit dem Islam irgendetwas anfangen können oder wollen. Wir haben traditionelle ländliche Bevölkerung. Die Mütter ohne Kopftuch und die Töchter mit Kopftuch."
Jede christliche Überheblichkeit verhindere ein realistisches Bild. Bei identitären Christen klingt das dann nach Volker Beck so, und davor will er warnen.
"Die sind geschlossen, die sind muslimisch, die sind traditionell gläubig, wir sind aufgeklärt, auf jeden Fall sind wir denen zivilisatorisch denen um mehr als Nasenlängen voraus. Und diese Wir-und-die-Zuschreibungen produzieren identitätspolitische Prozesse, die wir eigentlich nicht wollen können. Weil die unsere Gesellschaften auseinander treiben", sagt Beck.
Im großen Saal der katholischen Akademie zu Berlin war man sich einig. AfD-Vertreter waren nicht aufs Podium geladen.