Jasper Barenberg: Schon einige Male sorgte die Identitäre Bewegung in den letzten Jahren für Aufsehen – zum Beispiel mit der Aktion "Defend Europe", Verteidige Europa, bei der erst auf den zweiten Blick klar wird, worum es der Gruppierung und worum es der Gruppe auf dem gecharterten Schiff im Mittelmeer eigentlich ging, nämlich Flüchtlinge daran zu hindern, nach Europa zu gelangen. Sprachlich kommt die Bewegung oft ganz unverfänglich daher, aber der Verfassungsschutz hat nach drei Jahren Prüfung entschieden, die Ziele der Identitären sind mit den Werten unseres Grundgesetzes nicht vereinbar. - Am Telefon ist der Journalist und Buchautor Andreas Speit. Schönen guten Morgen, Herr Speit.
Andreas Speit: Guten Morgen, Herr Barenberg.
Barenberg: Sie haben sich über viele Jahre und in mehreren Büchern mit verschiedenen Fassetten des Rechtsextremismus beschäftigt, auch mit den Netzwerken der Identitären. Wenn jetzt von Politikern zu hören ist, die Einstufung ist richtig, kommt aber viel zu spät, stimmen Sie da zu?
Speit: Ja. Ich würde es sogar ergänzen, dass der Identitären Bewegung es gelungen ist, sogar die Medien über eine gewisse Zeit auch zu blenden, und zwar deshalb, weil wir immer im Kopf haben, dass Rechtsextremisten Glatze, Bomberjacke, Springerstiefel ausmachen würden. Dieses Milieu gab es und gibt es immer noch, aber es war immer nur ein Teil der Bewegung. Dass es eine intellektuelle Strömung gibt, haben wir ignoriert und auch leider in den Medien, und deswegen ist es ihnen gelungen: Obwohl sie eine Blut- und Boden-Ideologie haben, konnten die Identitären tatsächlich sich als modern, hipp und aktivistisch präsentieren und wir sind ein bisschen darauf reingefallen.
Aktionen, die dann sofort ins Netz transportiert werden
Barenberg: Dann lassen Sie uns doch mal genauer darüber sprechen, was sich hinter der Fassade verbirgt. Was unterscheidet denn die Identitäre Bewegung von anderen rechtsextremen Gruppierungen? Sie haben die Glatzen und die Springerstiefel genannt. Wir sprechen häufig über die Kameradschaften und wir reden jetzt in letzter Zeit seit dem Mord am Kasseler Regierungspräsidenten ja auch viel von einer neuen Art von Netzwerken von Rechtsextremen. Worin unterscheiden sich die Identitären von diesen verschiedenen Gruppierungen?
Speit: Bei dem Attentat auf Walter Lübcke sieht es ja so aus, dass der Täter aus dem Milieu von "Blood and Honour" kommt, einer militanten rechtsextremen Organisation, die auch international aufgestellt ist. Die Identitäre Bewegung ist tatsächlich auch international ausgerichtet, hat ihren Ursprung in Frankreich. Aber sie haben vor allem als Ziel, im vorpolitischen Raum Diskussionen und Argumentationen zu beeinflussen, und das versuchen sie in der Form, dass sie mit provokanten Aktionen auf der Straße beispielsweise, die dann aber sofort ins Netz transportiert werden, ihre vor allem Sorge vor der vermeintlichen Überfremdung und dem vermeintlich großen Austausch in die Diskussion zu werfen. Und da merkt man auch dann die inhaltlichen großen Überschneidungen, denn das ist genau das, was die gesamte Szene zurzeit so unglaublich radikalisiert. Sie glauben, dass ein europaweiter Austausch der autochthonen Bevölkerung [*] vonstattengeht, und wenn sie es jetzt nicht stoppen, in ihrer Logik jetzt gesprochen, ist die biologische Grenze überschritten. Und deswegen, merkt man, werden sie immer radikaler.
Barenberg: Ich will mal dieses Stichwort vom großen Austausch aufgreifen, das man ja immer wieder im Zusammenhang mit der Identitären Bewegung auch hört und zu lesen bekommt. Wenn Sie es auf den Punkt bringen wollen, was ist der ideologische Kern? Ist das ein völkischer, ein rassistischer Kern an Gedanken?
Speit: Ja. Aber sie haben ihn anders verpackt, und das ist genau der Trick, der lange funktioniert hat. Sie beziehen sich sprachlich auf den Kontext der neuen Rechten und dort ist der Begriff "Ethnopluralismus" entwickelt worden. Der Gedanke ist relativ einfach: Jede Ethnie hat seinen angestammten Lebensraum und dort soll er auch bitte bleiben. Diese Kulturen, die sich dort ausgeprägt hätten, sollten auch geschätzt und gewürdigt werden. Aber der Trick dabei ist, dass zum einen festgestellt wird, es gäbe eine bestimmte Identität, und die gelte, es jeweils zu bewahren. Kurz gesagt ist das nichts anderes als "Ausländer raus", und sie machen das auch ziemlich deutlich. Ihre zentrale Forderung ist Remigration, und wenn man sich die zentralen Schriften der Identitären Bewegung anguckt mit 100 Prozent identitär und null Prozent Rassismus, kann man höflich sagen, da lügt ihr. Tatsächlich sind sie ernsthaft der Meinung: Menschen, die in Deutschland beispielsweise leben und auch die deutsche Staatsbürgerschaft haben, die hier vielleicht auch am deutschen Wirtschaftswachstum mitgearbeitet haben, sind für sie alles keine Deutschen und die sollen zurückgeführt werden.
Sellner - mehr als 100.000 Follower auf Youtube
Barenberg: Jetzt sagt der Verfassungsschutz, die Ziele sind nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. Der Präsident Haldenwang zieht allerdings auch eine Grenze zum gewaltorientierten Extremismus und spricht von den Identitären als Aktivisten, die verbal zündeln. Sind Identitäre geistige Brandstifter mit einigem Abstand zu Gewalt?
Speit: Ja, sie sind geistige Brandstifter. Aber man muss auch ganz deutlich sagen: Einer der führenden Köpfe, Martin Sellner, der sowohl in Österreich als auch in Deutschland die Identitäre Bewegung nachweislich prägt, der hat allein über 100.000 Follower auf YouTube. Da merkt man auch, wenn man nur sagt, das sind 600 Personen, das ist der Organisationskern. Aber die Verbreitung und die Vernetzung dieser Szene ist enorm groß. Da muss man hier genau seine Schriften sich anschauen und wird feststellen, da ist ein ganz taktisches Verhältnis zu Gewalt, und es hat ja auch schon in Deutschland Übergriffe von Identitären gegeben. Und man kann vielleicht auch ganz aktuell darauf hinweisen. Beispielsweise einer ihrer Rapper, Chris Ares, hat in der Ankündigung seines neuen Albums unter anderem gesagt, wir reden von Schläfern, aber haben keinen Plan, wie viele unserer Männer darauf achten, endlich loszuschlagen.
Barenberg: Jetzt habe ich den Namen nicht verstanden. Sagen Sie den noch mal bitte?
Speit: Entschuldigung! Chris Ares.
Barenberg: Okay. – Sie haben auch darauf verwiesen, der Verfassungsschutz schätzt die Mitglieder auf 600. Aber aus Ihrer Sicht ist das überhaupt kein Grund, sich mit dieser relativ geringen Zahl zu beruhigen?
Speit: Nein, weil sie tatsächlich versuchen, im vorpolitischen Raum über die sozialen Netzwerke sich tatsächlich ideologisch weiter auszudehnen. Und ich habe es bei den Recherchen auch erleben müssen, dass tatsächlich im gymnasialen Bereich und im städtischen Milieu deren Argumentationen sehr populär sind und sehr weit angekommen sind. Diese Bewegung will keine Massenbewegung werden, sie will Massen bewegen.
Personelle Verbindungen bis in den Bundestag
Barenberg: Seit Jahren wird auch immer wieder diskutiert über die Verbindungen, die sich von den Identitären zur AfD ziehen lassen, vor allem zum sogenannten Flügel am ganz rechten Rand der Partei und zur Nachwuchsorganisation, der Jungen Alternative. Wie eng ist diese Verbindung tatsächlich?
Speit: Ja, es gibt tatsächlich sehr enge personelle Verbindungen. Man muss auch sagen, bis in den Bundestag hinein, in die AfD-Bundestagsfraktion. Und es gibt ebenso ganz enge Verbindungen zum Institut für Staatspolitik. Martin Sellner betont selber, ohne Götz Kubitschek, einer der zentralen Figuren des Instituts, würde es die Identitäre Bewegung gar nicht geben. Sie hatten 2013 eine enorm große Krise und Martin Sellner sagt, dass Kubitschek letztlich derjenige gewesen ist, der ihnen enorm helfen konnte.
Barenberg: Die Leitung, Herr Speit, ist bedauerlicherweise nicht so ganz toll. Trotzdem noch eine Frage: Es gibt diesen Unvereinbarkeitsbeschluss der AfD. Wer zur Bewegung gehört, darf nicht AfD-Mitglied werden. Reicht das als klare Abgrenzung? Seit der Entscheidung des Verfassungsschutzes sagen viele Politiker ja, jetzt muss die AfD noch mal ganz genau hingucken und sich noch viel stärker abgrenzen.
Speit: Ja, die Formulierung liegt auf "Mitgliedschaft". Dass man aber miteinander auf der Straße steht, dass man miteinander arbeitet, ist ja ganz offensichtlich und auch immer wieder durch Recherchen belegt worden. Ja, die AfD wird wahrscheinlich jetzt versuchen, mehr auf Distanz zu gehen, aber schlicht und einfach nicht, weil sie die Positionen nicht vertritt - Björn Höcke beispielsweise ist auch der Meinung, dass eine Remigration vonnöten sei -, sondern sie werden auf Distanz gehen, weil sie Angst haben, selbst Beobachtungsobjekt des Verfassungsschutzes werden zu können.
Barenberg: Wenn es um diesen taktischen Umgang geht mit aber eigentlich gleicher Zielsetzung, wie sollen wir damit umgehen?
Speit: Ich denke, dass wir mehr und mehr auch bei der AfD hinschauen sollten und genau benennen sollten, dass diese Partei nicht eine moderate rechte Partei ist, sondern dass sie sich schon lange, lange im weit rechten Milieu bewegt. Und man sieht es ja auch jetzt gerade ganz aktuell, trotz den internen Querelen. Die moderateren Kräfte, die es in der Partei gibt, sind nicht die führenden Kräfte, und das liegt auch an der Bundesspitze.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
[*] Aufgrund der Audioqualität haben wir zunächst den Begriff "autonome Bevölkerung" verwendet. Der Interviewpartner hat jedoch von autochthoner Bevölkerung" gesprochen. Dies haben wir korrigiert.