Thüringens Innenminister Georg Maier sagte im Deutschlandfunk, die über Jahre gewachsenen Strukturen müssten intensiv bekämpft werden. Mit Blick auf die letzten zwölf Monate sei klar: "Wir haben es mit einer neuen Dimension einer Bedrohung unserer Demokratie zu tun."
Man habe die Gewalt von Rechts viel zu lange unterschätzt und in den 2000er-Jahren auch "Dinge laufen lassen. Wir haben gedacht das verschwindet wieder". Das betreffe nicht nur Ostdeutschland, sondern die ganze Bundesrepublik.
Radikalisierung frühzeitig verhindern
Es müsse sichergestellt werden, dass die Zusammenarbeit zwischen den Sicherheitsbehörden funktioniere und die Informationen fließen – auch länderübergreifend. Orte, an denen sich die Menschen radikalisieren, müssten früh identifiziert werden – zum Beispiel im Netz. Zudem müsse ein gemeinsames Terrorabwehrzentrum entstehen. Hass im Netz sollte schneller geahndet werden, um auch die Verbreitung von Verschwörungstheorien zu unterbinden, fordert Maier.
Das Interview im Wortlaut:
Barenberg: Herr Maier, folgt man der Anklage, haben wir es ja mit dem ersten Mord eines Rechtsextremisten an einem Politiker, also an einem Repräsentanten des Staates überhaupt zu tun. Welche Verpflichtung ergibt sich daraus für Sie als Innenminister?
Maier: Ich habe das ja schon vor einiger Zeit gesagt: Die rechtsextremistischen Strukturen, die in Deutschland gewachsen sind, müssen intensiv bekämpft werden. Und dass wir es mit einer neuen Dimension der Bedrohung unserer Demokratie zu tun haben, wenn wir zurückschauen auf die letzten zwölf Monate – es sind ja leider 13 Tote zu beklagen, die Rechtsterror zum Opfer gefallen sind, aber natürlich auch erstmals ein Politiker. Das macht noch mal deutlich, wie groß die Gefahr ist, und wir müssen uns dringend darum kümmern, diese Strukturen zurückzudrängen.
"Rechtsterror in dieser Dimension hatten wir bisher nicht"
Barenberg: Das heißt, auch in Ihren Augen – das sagen ja einige Beobachter in diesen Tagen, wo der Prozess nach dem Mord an Walter Lübcke beginnt -, das ist eine Zäsur, das ist so etwas wie ein Einschnitt?
Maier: Ja, ganz klar! Rechtsterror in dieser Dimension hatten wir bisher nicht. Das kommt aber nicht aus dem Nichts. Ich sage immer, solche Dinge, man kann jetzt nicht hingehen und sagen, das waren jetzt irgendwelche Einzeltäter, die sich radikalisiert haben, sondern es sind über Jahre, Jahrzehnte, kann man sagen, auch Strukturen gewachsen. Wir haben eine neue Dimension, auch was sich im Netz abspielt. Die Herausforderungen sind groß und jetzt müssen wir 13 Tote beklagen, einen Politiker. Das ist jetzt höchste Eisenbahn, dass wir hier verschärft dagegen vorgehen.
Barenberg: Sie haben gerade gesagt, man kann nicht sagen, das sind einfach Einzeltäter. Aber ist nicht gerade das in den letzten Jahren auch nach allem, was wir nach dem NSU gelernt haben, geschehen, dass auch in der Politik viel von Einzeltätern gesprochen wird und wenig von all den Hinweisen, die es gibt, auf Netzwerke, die viel weiter reichen?
Maier: Na ja, Netzwerke. Wir haben ja in Thüringen eine traurige Geschichte mit dem NSU und da sind wir immer noch dabei, das aufzuarbeiten. Auch in anderen Bundesländern gibt es Untersuchungsausschüsse. Das ist der eine Strang.
"Wir in Thüringen haben besondere Probleme mit Rechtsrock"
Aber allein darauf zu schauen, wäre falsch. Es sind weitere Strukturen gewachsen, die das gefördert haben. Wir in Thüringen haben besondere Probleme mit Rechtsrock seit Jahren und diese Veranstaltungen sind immer größer geworden. Wir wissen, dass der Kampfsport teilweise unterwandert wird, und wir merken auch jetzt in Corona-Zeiten, dass es weitere Versuche gibt der Entgrenzung, dass Rechtsextremisten versuchen, in weitere Schichten vorzudringen. Das führt aber auch dazu, dass sich auch einzelne radikalisieren. Ich will aber nicht von Einzeltätern sprechen. Ganz im Gegenteil! Ich habe schon vor Jahren darauf hingewiesen, wir müssen die Strukturen bekämpfen, weil aus diesen Strukturen erwachsen dann diese Taten.
Barenberg: Und ist es fair zu sagen, jetzt im Rückblick zumindest – Sie mögen das seit Jahren schon anders sehen, aber insgesamt -, dass Politik und Sicherheitsbehörden allzu lange die rechte Gewalt unterschätzt haben?
Maier: Ja. Ich denke mal, diesen Vorwurf kann man nicht vollständig zurückweisen. Es ist schon so, dass man auch immer wieder reflexartig gesagt hat, man muss aber auch nach links gucken, Linksextremisten sind auch schlimm, und so weiter und so fort. Wir haben teilweise tatsächlich in den 2000er-Jahren auch Dinge laufen lassen. Wir haben gedacht, das verschwindet wieder. Es gab Aussagen, wir sind immun gegen Rechtsextremismus. Das trifft aber jetzt nicht nur auf Ostdeutschland zu, sondern auf die ganze Bundesrepublik. Wir haben jetzt viele Fälle in Hessen gesehen, wo wir auch sagen, was ist da schiefgelaufen, wo haben die Sicherheitsbehörden Fehler gemacht, was hat der Verfassungsschutz versäumt, warum sind Informationen nicht weitergegangen. Das trifft aber im Grunde fast alle Bundesländer. Hier in Thüringen wie gesagt mit dem NSU sind damals fürchterliche Fehler gemacht worden, Versäumnisse, und wir sind immer noch dabei, auch uns von Seiten der Sicherheitsbehörden so aufzustellen, dass das nicht mehr der Fall ist.
Schlüssel zum Erfolg: länderübergreifende Zusammenarbeit
Barenberg: Woran merken wir denn, dass etwa Ihre Behörden in Thüringen, dass die Sicherheitsbehörden insgesamt heute besser gerüstet sind für den Kampf gegen Rechtsextremismus und insbesondere gegen Rechtsterrorismus?
Maier: Na ja. Wie gesagt, wir haben das erst mal zum Thema gemacht. Wir sind hingegangen und haben jetzt es tatsächlich geschafft, einzelne Strukturen zurückzudrängen, und da haben mehrere Behörden zusammengearbeitet. Ich spreche jetzt von dem Rechtsrock-Phänomen. Das war ja eine Art Gelddruck-Maschine auch für rechte Strukturen. 7000 Nazis waren bei der größten Veranstaltung versammelt und haben "Sieg Heil" gegrölt. Das konnten wir zurückdrängen, weil auch Versammlungsbehörden in den Kommunen, das Innenministerium und die Polizei eng zusammengearbeitet haben. Das ist der Schlüssel zum Erfolg, Zusammenarbeit behördenübergreifend, länderübergreifend. Deswegen diskutieren wir ja heute auch, um noch besser zu werden, gerade auch, um früh zu erkennen, wo sich Menschen radikalisieren, zum Beispiel im Netz.
Barenberg: Wenn es um Kontakte geht zu anderen Rechtsextremisten, gerade da ist ja die Zusammenarbeit zwischen den Ländern besonders wichtig. Was wollen Sie in diesem Punkt noch verbessern? Worüber werden Sie da diskutieren?
Im Netz besser hinsehen
Maier: Wir müssen, ähnlich wie bei islamistischen Gefährdern – und ich spreche ausdrücklich von Gefährdern und die Zahl ist nicht klein im rechtsextremistischen Bereich, im rechtsterroristischen Bereich; das sind über 60 -, wir müssen sicherstellen, wenn die sich in Deutschland bewegen über Ländergrenzen hinweg, dass die Informationen fließen, dass wir ein gemeinsames Terror-Abwehrzentrum haben, dass wir ein Früherkennungsradar haben, wo wir zusammenarbeiten, wo die Informationen zusammenfließen, dass nicht Dinge passieren wie bei Amri, dass Dinge verloren gegangen sind. Das ist schon mal die Herausforderung.
Und wir müssen natürlich auch im Netz besser hinsehen können und wir müssen auch früh erkennen können beziehungsweise ahnden können, wo Hass und Hetze im Netz stattfindet, weil das ist natürlich auch die Triebfeder. Es gibt einfach Strukturen auch im Netz, Chat-Foren, wo sich so was hochschaukelt, angereichert jetzt jüngst durch Verschwörungstheorien, und das ist die Mischung, die das letztendlich fördert.
Barenberg: In Thüringen sieht der Verfassungsschutz beim Landesverband der AfD Anhaltspunkte für rechtsextremistische und durchaus verfassungsfeindliche Bestrebungen. Die AfD wird in Thüringen als Verdachtsfall beobachtet. Dasselbe gilt jetzt auch für die AfD in Brandenburg. Verschwimmen mehr und mehr die Grenzen zwischen Rechtsextremismus auf der einen Seite und denen, die sich selbst bürgerlich nennen?
AfD: Flügel "existiert natürlich weiter"
Maier: Ja, das ist das, was ich eben schon gesagt habe mit der Entgrenzung. Entgrenzung findet auch von zahlreichen Rechtspopulisten in diesem Bereich statt. Manche Rechtsextreme sprechen ja von der AfD von ihrem parlamentarischen Arm. Es ist schon sehr deutlich und gerade hier in Thüringen. Der Flügel – angeblich soll er aufgelöst sein; er existiert natürlich weiter, unter anderem Namen oder gar keinem Namen. Die Leute sind ja noch da, die Haltungen sind ja noch da. Das ist das, wo Rechtsextremisten versuchen, auch in weitere Schichten der Gesellschaft einzudringen. Nicht nur das! Es werden Gaststätten betrieben, es werden Liederabende veranstaltet und das Gift ist bereits eingesickert. Manche Menschen haben kein Problem mehr damit, haben kein Problembewusstsein, dass es dort Leute gibt, die offensichtlich hier verfassungsfeindliche Lieder zelebrieren, aber lasst die doch machen. Das sind genau die Entgrenzungsphänomene, die die Gefahr noch größer machen.
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